Nils Christie: Unterschied zwischen den Versionen

603 Bytes hinzugefügt ,  19:23, 3. Mär. 2009
Zeile 18: Zeile 18:


== Werk ==  
== Werk ==  
Christies Position in seinem Buch "Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft?" ist nicht die einer vollständigen Abschaffung des Strafrechts (Abolitionismus), sondern ein Minimalismus, der "horizontale Gerechtigkeit" im Sinne der Streitschlichtung unter Gleichberechtigten vorzieht und die "vertikale Gerechtigkeit" der Strafe nur im Notfall vorsieht. Vorrang vor der Strafe sollen auf jeden Fall auch folgende fünf Maximen haben:
Nils Christie veröffentlichte eine Vielzahl wissenschaftlicher Artikel und mehr als zehn Bücher, einige in vielen Sprachen erhältlich. Ein Großteil seiner Schriften widmet sich dem Feld der Kriminalität und der Kriminalitätskontrolle, aber er hat auch Bücher über Erziehung und das Bildungssystem, Drogenkontrolle sowie über alternative Gemeinschaftsformen verfasst. Nationale und internationale Aufmerksamkeit erlangte Nils Christie durch seine kritische und radikale Positionierung hinsichtlich der Institutionen der Strafrechtspflege (Strafe, Strafrecht, Strafprozess und Strafvollzug), die dem (damalig) wissenschaftlichen Mainstream im Umgang mit Kriminalität und Kriminalitätskontrolle nicht nur gegenläufig gegenüber stand, sondern das Selbstverständnis der Kriminologie und der Kriminalpolitik grundsätzlich hinterfragt.  


*Freundlichkeit
Gegenüber den Fragen der Gerechtigkeit und der Herstellung von Gerechtigkeit positioniert sich Nils Christie gemäß seiner grundsätzlichen Lebenseinstellung in kantischen Moralvorstellungen. Im Selbstverständnis eines „moralistischen Imperialisten“ fühlt er sich und die Gesellschaft den Grundprinzipien der Humanität und Nachsicht verpflichtet und setzt sich für eine Abkehr von utilitaristischem Strafen als absichtliche Zufügung von Leid ein.
*Tötungsverbot
*Folterverbot
*Schadenzufügungsverbot
*Vergebungsgebot.


Wie allen radikalen Strafrechtskritiken wird auch Nils Christie der Vorwurf der Realitätsferne gemacht.
Ein unverkennbares Merkmal seiner Vorträge und Schriften ist der weitestgehende Verzicht auf wissenschaftliche Sprache. Mit zahlreichen Anekdoten, Beispielen aber auch Schaubildern angereichert zielen seine Überlegungen nicht nur auf die exklusive Öffentlichkeit der Fachexperten, sondern sollen für alle interessierten Gesellschaftsmitglieder zugänglich sein.  


Christie betont eine unbedingte Abkehr von herkömmlichen Bestrafungsritualen und Bestrafungsinstitutionen, wie sie auch in Industrienationen üblich sind, und stellt dieser –fast klingt´s wie eine Parallele zur vormals lebhaft diskutierten gemeindenahen Psychiatrie-  Beobachtungen gegenüber, die er aus seiner Kenntnis des sozialen Lebens in nordeuropäischen Ländern schöpft. Christie selbst ist Norweger und wenn man Skandinavien etwas kennt, hat man einen Eindruck von der Sicht der Skandinavier auf die Welt: Wäre sie nur so gut in intakt wie in Skandinavien, wäre vieles besser.
Kriminalität existiert nicht, so Christie’s Hauptthese. Kriminalität ist eine Bedeutungszuschreibung für unerwünschtes Handeln, die Maßnahmen der Kontrolle, Sanktionierung und/oder Behandlung legitimiert und informelle Regulierungskompetenzen ihrer Bedeutung und Verantwortung enthebt. Mit zunehmender räumlicher, zeitlicher und sozialer Segmentierung der westlichen hochindustrialisierten Gesellschaften und dem Bedeutungsverlust sozialer Bindungen und gegenseitiger Verantwortung nehmen der Grad der Entfremdung, die Dämonisierung von abweichenden Verhalten und der Gebrauch des Kriminalitätskonzepts zu. Die Wahrnehmung und Bewertung der unteren Schichten als „gefährliche Klassen“, als Bedrohung des Wohlstandes, erlebt vor dem Hintergrund der erweiterten Macht des kapitalistischen Marktes und der Ökonomisierung der Politik und des Sozialen, verbunden mit ansteigender Divergenz in der Verteilung des Besitzes, eine Renaissance. Feindbilder sowie punitive und exkludierende Forderungen steigen in Ermangelung emotionaler Ausdrucksmöglichkeiten und aufgrund der fehlenden Verwertbarkeit der Beschäftigungslosen an. Die Institutionen der Strafrechtspflege, so Christies Beobachtung, passen sich den wechselnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erfordernissen hochindustrialisierter Staaten an und begründen sich nicht auf dem Ideal der Humanität.  Diese Entwicklungen gilt es zu begrenzen.


Vor dem Hintergrund seines Vergleichs der Inhaftierungsquoten ausgewählter Länder auf allen Kontinenten entwirft Christie sein Bild vom Strafvollzug als dem Herrschaftsinstrument des Staates schlechthin. Strafvollzug sieht er in der fortgesetzten Tradition von kolonialen und/oder von Entrechtung geprägten Regimes. Vor diesem historischen Hintergrund erläutert Christie, weshalb die nordeuropäischen Länder signifikant weniger Menschen einsperren als z. B. die USA, Russland oder lateinamerikanische und südeuropäische Staaten.
Christie plädiert für alternative Formen der Konfliktlösung, die sich nicht auf der Anwendung des Kriminalitätskonzepts und der absichtlichen Zufügung von Leid begründen, sondern unerwünschtes Verhalten als Interessenskonflikt und Chance zur Klärung von Werten begreifen. Christies Position ist nicht die einer vollständigen Abschaffung der Institutionen der Strafrechtspflege, sondern ein Minimalismus, der "horizontale Gerechtigkeit" im Sinne der Streitschlichtung (Restorative Justice) unter Gleichberechtigten vorzieht und die "vertikale Gerechtigkeit" der Strafe nur im Notfall vorsieht.
 
Sein Bild von gemeindenahen, kleinen Einrichtungen, die mit engmaschiger sozialer Einbindung Resozialisierung sicherstellen, wirkt für ländlich geprägte Räume in Norwegen passend. Für hochverdichtete Industriestaaten Mitteleuropas lesen sich solche Konzepte eher gewöhnungsbedürftig, wirken fremd und passen nicht in unser Bild von Strafvollzugs- oder Maßregelvollzugseinrichtungen.
Fremd bleibt seine Terminologie: Schwere Straftaten, die anderen Menschen schweren Schaden zufügen, heißen bei ihm „unangemessenes Verhalten“, Terrorakte sind „nicht hinnehmbares Verhalten“ usw.
Strafe möchte Christie darauf begrenzen, den Täter ausdrücklich zu beschämen, ihn sodann aber sogleich wieder in die Gemeinschaft aufnehmen; Gefängnisaufenthalte sollten kurz sein und danach sollte der Verurteilte vor dem Gefängnistor am besten mit einem Blasorchester empfangen werden, um ihm zu zeigen, dass er nunmehr wieder vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist, die sich darauf freut, ihn wieder zu in ihren Reihen aufzunehmen.
 
Bestrafung hat lt. Christie eine gesellschaftliche und zugleich eine politische Funktion; Bestrafung geht einher mit Ausgrenzung, die anschließend überwunden werden muss, sollen ihre Konsequenzen geheilt werden; etablierte Formen von Bestrafung sind in diesem Lichte zu überdenken.


== Literatur ==
== Literatur ==
88

Bearbeitungen