Nürnberger Prozesse: Unterschied zwischen den Versionen

Zeile 61: Zeile 61:


==Kritik==
==Kritik==
Im Allgemeinen werden die Prozesse heute positiv bewertet, da erstmals die individuelle Schuld der Angeklagten untersucht wurde und Politiker und Militärs persönlich bestraft wurden. Nationale Gesetze oder das Innehaben eines staatlichen Amtes bieten seit den Nürnberger Prozessen keinen absoluten Schutz mehr vor Verfolgung durch das Völkerstrafrecht. Das Verfahren gilt als wichtige Weiterentwicklung des Völkerrechts. Außerdem trug der Prozess auch zur Aufklärung der NS-Verbrechen bei. Was sich nur in geringerem Umfang durchgesetzt hat, ist die strafrechtliche Kodifizierung von Angriffskriegen.
Erstmals wurden Politiker und Militärs in einem völkerrechtlichen Kontext und aufgrund ihrer individuellen Schuld persönlich strafrechtlich belangt. Nationale Gesetze oder das Innehaben eines staatlichen Amtes bieten seit den Nürnberger Prozessen keinen absoluten Schutz mehr vor Verfolgung durch das Völkerstrafrecht. Insofern gelten die Nürnberger Prozesse als Weiterentwicklung des Völkerrechts. Als Kritikpunkte werden vor allem erwähnt:


Es wurde und wird aber auch Kritik an der Zielsetzung und den Methoden der Prozesse geübt.
===Prozessordnung===
 
===Argumentation gegen die Prozessordnung===
Die Trennung von Verfassern der Prozessordnung einerseits und ihren Anwendern andererseits wurde nicht eingehalten. Iona Nikitchenko und Robert Falco beteiligten sich an der Ausarbeitung des Londoner Statutes und waren Richter am Internationalen Militärgerichtshof.
Die Trennung von Verfassern der Prozessordnung einerseits und ihren Anwendern andererseits wurde nicht eingehalten. Iona Nikitchenko und Robert Falco beteiligten sich an der Ausarbeitung des Londoner Statutes und waren Richter am Internationalen Militärgerichtshof.


Weiterhin sprach die Prozessordnung den Angeklagten das Recht zu, sich nach freier Wahl ihre deutschen Verteidiger zu suchen, deren mögliche NSDAP-Mitgliedschaft einem Auftreten vor Gericht nicht entgegenstand. Der Militärgerichtshof entschied laut Artikel 24 des Statuts uneingeschränkt über die Zulassung von Beweismitteln. Art. 18 legte fest, dass der Prozess auf eine beschleunigte Verhandlung zu beschränken sei. Im Artikel 19 stand, dass der Gerichtshof nicht an die üblichen Grundsätze der Beweisführung gebunden sei. Im Artikel 21 wurde geschrieben, „allgemein anerkannte Tatsachen“ müssten nicht mehr bewiesen werden. Die Verteidigung konnte mögliche Belastungen somit nur zur Kenntnis nehmen, durfte aber in dem Falle keine möglichen Gegenbeweise vorlegen, was die Möglichkeit der Berufung ausschloss.
Weiterhin sprach die Prozessordnung den Angeklagten das Recht zu, sich nach freier Wahl ihre deutschen Verteidiger zu suchen, deren mögliche NSDAP-Mitgliedschaft einem Auftreten vor Gericht nicht entgegenstand. Der Militärgerichtshof entschied laut Artikel 24 des Statuts uneingeschränkt über die Zulassung von Beweismitteln. Art. 18 legte fest, dass der Prozess auf eine beschleunigte Verhandlung zu beschränken sei. Im Artikel 19 stand, dass der Gerichtshof nicht an die üblichen Grundsätze der Beweisführung gebunden sei. Im Artikel 21 wurde geschrieben, „allgemein anerkannte Tatsachen“ müssten nicht mehr bewiesen werden. Die Verteidigung konnte mögliche Belastungen somit nur zur Kenntnis nehmen, durfte aber in dem Falle keine möglichen Gegenbeweise vorlegen, was die Möglichkeit der Berufung ausschloss.


===Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung===
===Kriminelle Vereinigung===
Umstritten war auch das Verbrechen der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, das so genannte „Organisationsverbrechen“. Es bewirkte, dass jeder aufgrund seiner Mitgliedschaft in einer NS-Organisation, die als verbrecherisch verurteilt worden war, in allen Staaten, welche das Statut unterzeichnet hatten, wegen der Zugehörigkeit zu dieser Organisationen verurteilt werden konnte. Bei der Verurteilung spielte es keine Rolle, ob der Angeklagte sich persönlich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte (Artikel 9–11). In Deutschland wurde diese Möglichkeit allerdings nicht genutzt.
Umstritten war auch das Verbrechen der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, das so genannte „Organisationsverbrechen“. Es bewirkte, dass jeder aufgrund seiner Mitgliedschaft in einer NS-Organisation, die als verbrecherisch verurteilt worden war, in allen Staaten, welche das Statut unterzeichnet hatten, wegen der Zugehörigkeit zu dieser Organisationen verurteilt werden konnte. Bei der Verurteilung spielte es keine Rolle, ob der Angeklagte sich persönlich eines Verbrechens schuldig gemacht hatte (Artikel 9–11). In Deutschland wurde diese Möglichkeit allerdings nicht genutzt.


===Ex-post-Argumentation===
===Nullum crimen sine lege===
Ein weiterer Rechtsgrundsatz, der bei den Prozessen übergangen worden sei, lautet nach Ansicht der Verteidiger der Angeklagten nullum crimen sine lege praevia, nulla poena sine lege (kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz); kritisiert wurde, dass die Angeklagten teilweise für Verbrechen angeklagt wurden, die zum Zeitpunkt der Tat durch ein multilaterales Abkommen zwar verboten waren, aber für die kein Strafmaß festgelegt worden war (→ Briand-Kellogg-Pakt). Dies bezieht sich insbesondere auf den Anklagepunkt „Führen eines Angriffskrieges (Verbrechen gegen den Frieden)“. Dazu schrieb die amerikanische „TIME“ im November 1945: „Was immer für Gesetze die Alliierten für die Zwecke des Nürnberger Prozesses aufzustellen versuchten, die meisten dieser Gesetze haben zur Zeit, als die Taten begangen wurden, noch nicht existiert. Seit den Tagen Ciceros ist eine Bestrafung ex post facto von den Juristen verdammt worden“. Dieses Argument wurde allerdings vom Militärgerichtshof zurückgewiesen unter Hinweis auf den lange schon geübten Brauch, Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung strafrechtlich zu ahnden, obwohl auch diese keine strafrechtlichen Bestimmungen enthielt. Eine Verletzung des Rückwirkungsverbotes wird auch heute von vielen Völkerstrafrechtlern verneint, da dieser Rechtsgrundsatz dem Schutz und der Rechtssicherheit des einzelnen Bürgers diene und gerade nicht die Bestrafung staatlicher Machthaber wegen von ihnen begangener Völkerrechtsverbrechen verhindere.[9]
Ein weiterer Rechtsgrundsatz, der bei den Prozessen übergangen worden sei, lautet nach Ansicht der Verteidiger der Angeklagten nullum crimen sine lege praevia, nulla poena sine lege (kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz); kritisiert wurde, dass die Angeklagten teilweise für Verbrechen angeklagt wurden, die zum Zeitpunkt der Tat durch ein multilaterales Abkommen zwar verboten waren, aber für die kein Strafmaß festgelegt worden war (→ Briand-Kellogg-Pakt). Dies bezieht sich insbesondere auf den Anklagepunkt „Führen eines Angriffskrieges (Verbrechen gegen den Frieden)“. Dazu schrieb die amerikanische „TIME“ im November 1945: „Was immer für Gesetze die Alliierten für die Zwecke des Nürnberger Prozesses aufzustellen versuchten, die meisten dieser Gesetze haben zur Zeit, als die Taten begangen wurden, noch nicht existiert. Seit den Tagen Ciceros ist eine Bestrafung ex post facto von den Juristen verdammt worden“. Dieses Argument wurde allerdings vom Militärgerichtshof zurückgewiesen unter Hinweis auf den lange schon geübten Brauch, Verstöße gegen die Haager Landkriegsordnung strafrechtlich zu ahnden, obwohl auch diese keine strafrechtlichen Bestimmungen enthielt. Eine Verletzung des Rückwirkungsverbotes wird auch heute von vielen Völkerstrafrechtlern verneint, da dieser Rechtsgrundsatz dem Schutz und der Rechtssicherheit des einzelnen Bürgers diene und gerade nicht die Bestrafung staatlicher Machthaber wegen von ihnen begangener Völkerrechtsverbrechen verhindere.


===Tu-quoque-Argumentation===
===Tu-quoque===
Einen weiteren Strang der Kritik greift die Tu-quoque-Argumentation der Verteidigung auf. Denn nach Meinung der Prozesskritiker hätten auch die Alliierten Angriffskriege geführt und Kriegsverbrechen begangen. Auf sowjetischer Seite z. B. das Massaker von Katyn, auf westalliierter Seite die Bombenangriffe auf Dresden und Hamburg, die nach Meinung der Prozesskritiker keinen militärischen Zweck erfüllten, sondern als Flächenbombardements („moral bombing“) gegen die Zivilbevölkerung ebenfalls Kriegsverbrechen darstellten, denn seit der Haager Landkriegsordnung von 1907 sind Beeinträchtigungen von Zivilpersonen während kriegerischer Auseinandersetzungen verboten. Für Flächenbombardements sind allerdings auch keine Deutschen verurteilt worden, da der Bombenkrieg wegen der Beteiligung der alliierten Siegermächte daran auch gar nicht erst Eingang in die Anklage fand.
Einen weiteren Strang der Kritik greift die Tu-quoque-Argumentation der Verteidigung auf. Denn nach Meinung der Prozesskritiker hätten auch die Alliierten Angriffskriege geführt und Kriegsverbrechen begangen. Auf sowjetischer Seite z. B. das Massaker von Katyn, auf westalliierter Seite die Bombenangriffe auf Dresden und Hamburg, die nach Meinung der Prozesskritiker keinen militärischen Zweck erfüllten, sondern als Flächenbombardements („moral bombing“) gegen die Zivilbevölkerung ebenfalls Kriegsverbrechen darstellten, denn seit der Haager Landkriegsordnung von 1907 sind Beeinträchtigungen von Zivilpersonen während kriegerischer Auseinandersetzungen verboten. Für Flächenbombardements sind allerdings auch keine Deutschen verurteilt worden, da der Bombenkrieg wegen der Beteiligung der alliierten Siegermächte daran auch gar nicht erst Eingang in die Anklage fand.


31.738

Bearbeitungen