Moralstatistik: Unterschied zwischen den Versionen

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''Definition:''
==Definition:==Statistik (Lehre von status, State) heißt die mathematische Darstellung der in einem Staate, einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit bestehenden sozialen Verhältnisse, im weiteren Sinne die zahlenmäßige Darstellung einer Gesetzmäßigkeit aus einer Reihe von Fällen überhaupt.1)
Statistik (Lehre von status, State) heißt die mathematische Darstellung der in einem Staate, einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit bestehenden sozialen Verhältnisse, im weiteren Sinne die zahlenmäßige Darstellung einer Gesetzmäßigkeit aus einer Reihe von Fällen überhaupt.1)
Moralstatistische Darstellungen konnten sich auf schier alle Handlungsweisen des Menschen beziehen, in denen eine soziale Dimension vermutet wurde. Der Begriff "Moral" stand somit synonym für "sozial".2)
Moralstatistische Darstellungen konnten sich auf schier alle Handlungsweisen des Menschen beziehen, in denen eine soziale Dimension vermutet wurde. Der Begriff "Moral" stand somit synonym für "sozial".2)


''Einbettung der Moralstatistik in den wissenschaftlichen Zeitgeist:''
==Einbettung der Moralstatistik in den wissenschaftlichen Zeitgeist:==
Die Moralstatistik nahm ihren epochemachenden Aufschwung seit 1825 mit den Arbeiten von Andre Michel Guerre (1802-1866) und Adolfe Quetelet (1795-1874).3)
Die Moralstatistik nahm ihren epochemachenden Aufschwung seit 1825 mit den Arbeiten von Andre Michel Guerre (1802-1866) und Adolfe Quetelet (1795-1874).3)
Viel deutlicher als bei Guerry lässt sich in den Werken von Quetelet die geistesgeschichtliche Entwicklung aufzeigen, die von englischen Empirismus und Newtons exakter Naturwissenschaft zur Sozialstatistik als Grundlage einer nicht minder exakten Gesellschaftslehre hinführt.4)
Viel deutlicher als bei Guerry lässt sich in den Werken von Quetelet die geistesgeschichtliche Entwicklung aufzeigen, die von englischen Empirismus und Newtons exakter Naturwissenschaft zur Sozialstatistik als Grundlage einer nicht minder exakten Gesellschaftslehre hinführt.4)
In Anlehnung an die Himmelsmechanik und die Wahrscheinlichkeitstheorie des Astronomen und Mathematikers Pierre Simon de Laplace entwickelte Quetelet die "Soziale Physik". Laplace, der den gesammten "Weltmechanismus" auf eine mathematische Formel zu reduzieren hoffte, um alle Zukunftsereignisse vorhersehbar zu machen, inspirierte Quetelet zu seiner Figur des "l`homme moyen", dem berechenbaren Durchschnittsmenschen.5)
In Anlehnung an die Himmelsmechanik und die Wahrscheinlichkeitstheorie des Astronomen und Mathematikers Pierre Simon de Laplace entwickelte Quetelet die "Soziale Physik". Laplace, der den gesammten "Weltmechanismus" auf eine mathematische Formel zu reduzieren hoffte, um alle Zukunftsereignisse vorhersehbar zu machen, inspirierte Quetelet zu seiner Figur des "l`homme moyen", dem berechenbaren Durchschnittsmenschen.5)


''Quetelet`s "physik sociale" - das "Prinzip der großen Zahl":''
==Quetelet`s "physik sociale" - das "Prinzip der großen Zahl":==
In seiner 1835 erschienenen "physik sociale" beschreibt Quetelet die quantitativen Gesetzmäßigkeiten des sozialen Geschehens:
In seiner 1835 erschienenen "physik sociale" beschreibt Quetelet die quantitativen Gesetzmäßigkeiten des sozialen Geschehens:
"Vor allem müssen wir vom einzelnen Menschen abstrahieren und dürfen ihn nur mehr als Bruchteil der ganzen Gattung betrachten. Indem wir ihn seiner Individualität entkleiden, beseitigen wir all das, was nur zufällig ist, die individuellen Besonderheiten, die wenig oder keinen Einfluß auf die Masse haben, verschwinden dann von selbst und lassen uns zu allgemeinen Ergebnissen gelangen."6)
"Vor allem müssen wir vom einzelnen Menschen abstrahieren und dürfen ihn nur mehr als Bruchteil der ganzen Gattung betrachten. Indem wir ihn seiner Individualität entkleiden, beseitigen wir all das, was nur zufällig ist, die individuellen Besonderheiten, die wenig oder keinen Einfluß auf die Masse haben, verschwinden dann von selbst und lassen uns zu allgemeinen Ergebnissen gelangen."6)
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Der Gedanke, die Regelmäßigkeit menschlicher Gesellschaft durch Abstraktion zahlreicher individueller Besonderheiten zu erkennen, mündet bei Quetelet klar in die Forderung ein, die Beobachtung an einer hinreichend großen Zahl von Fällen durchzuführen, denn erst unter dieser Vorausetzung lasse sich das rein zufällige und individuelle vom allgemeinen und daher sozialtypischen unterscheiden.10)
Der Gedanke, die Regelmäßigkeit menschlicher Gesellschaft durch Abstraktion zahlreicher individueller Besonderheiten zu erkennen, mündet bei Quetelet klar in die Forderung ein, die Beobachtung an einer hinreichend großen Zahl von Fällen durchzuführen, denn erst unter dieser Vorausetzung lasse sich das rein zufällige und individuelle vom allgemeinen und daher sozialtypischen unterscheiden.10)


''Ziele der Moralstatistik:''
==Ziele der Moralstatistik:==
Quetelet will die Statistik in den Rang einer wirklichen Sozialwissenschaft erheben, die durch die Erforschung der Ursachen auch zur Erkenntnis zukünftiger Entwicklungen beiträgt.11)
Quetelet will die Statistik in den Rang einer wirklichen Sozialwissenschaft erheben, die durch die Erforschung der Ursachen auch zur Erkenntnis zukünftiger Entwicklungen beiträgt.11)
Es war sein Anliegen dem Staat statistisches Material zu liefern, welches diesen in die Lage versetzt soziale Phänomene zu steuern. Insbesondere die Verbrechensbekämpfung war ein zentrales Anliegen von Quetelet:
Es war sein Anliegen dem Staat statistisches Material zu liefern, welches diesen in die Lage versetzt soziale Phänomene zu steuern. Insbesondere die Verbrechensbekämpfung war ein zentrales Anliegen von Quetelet:
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Es ist die Gesellschaft selbst, die das Verbrechen hervorbringt.13)
Es ist die Gesellschaft selbst, die das Verbrechen hervorbringt.13)


''Widerspruch der Idee einer abstrakten, naturgesetzlichen Kausalität und realen gesellschaftlichen Bedingungen:''
==Widerspruch der Idee einer abstrakten, naturgesetzlichen Kausalität und realen gesellschaftlichen Bedingungen:==
Quetelet glaubt, das dem "Prinzip der großen Zahl" ein noch nicht entdecktes mechanisches Naturgesetz zugrunde liegt:
Quetelet glaubt, das dem "Prinzip der großen Zahl" ein noch nicht entdecktes mechanisches Naturgesetz zugrunde liegt:
"Aber welche Hand wird den Schleier lüften, der geworfen ist über die Geheimnisse unserer sozialen Systeme und über die ewigen Grundsätze, die ihre Geschicke regeln und ihre Erhaltung sicher? Wann wird ein anderer Newton kommen, uns die Gesetze der anderen Himmelsmechanik enthüllen?"14)
"Aber welche Hand wird den Schleier lüften, der geworfen ist über die Geheimnisse unserer sozialen Systeme und über die ewigen Grundsätze, die ihre Geschicke regeln und ihre Erhaltung sicher? Wann wird ein anderer Newton kommen, uns die Gesetze der anderen Himmelsmechanik enthüllen?"14)
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Ebenso Quetelet: Bildungsmangel begünstige vor allem Vermögensverbrechen, doch sei das Schwergewicht auf die moralische Unterweisung der Menschen zu legen, da bloße Schulkenntnisse oft nichts anderes seien als zusätzliche Werkzeuge zur Verbrechensbegehung.17)
Ebenso Quetelet: Bildungsmangel begünstige vor allem Vermögensverbrechen, doch sei das Schwergewicht auf die moralische Unterweisung der Menschen zu legen, da bloße Schulkenntnisse oft nichts anderes seien als zusätzliche Werkzeuge zur Verbrechensbegehung.17)


''Determinismus menschlichen Handelns:''
==Determinismus menschlichen Handelns:==
Die Abhängigkeit des menschlichen Handelns von "naturgesetzlichen Kausalfaktoren" hat ebenso wie der Zwang gesellschaftlicher Bedingungen die Frage nach der Determinierung des menschlichen Willens/Verhaltens aufgeworfen.
Die Abhängigkeit des menschlichen Handelns von "naturgesetzlichen Kausalfaktoren" hat ebenso wie der Zwang gesellschaftlicher Bedingungen die Frage nach der Determinierung des menschlichen Willens/Verhaltens aufgeworfen.
Die Freiheit des menschlichen Willens, die Quetelet nicht leugnet, spielt für ihn im Bereich der moralischen Phänomene nur die Rolle einer causa accidentelle, deren zufällig gestreute Wirkungen sich gegenseitig neutralisieren, um damit die wahren Gesetzmäßigkeiten hervortreten zu lassen.18)
Die Freiheit des menschlichen Willens, die Quetelet nicht leugnet, spielt für ihn im Bereich der moralischen Phänomene nur die Rolle einer causa accidentelle, deren zufällig gestreute Wirkungen sich gegenseitig neutralisieren, um damit die wahren Gesetzmäßigkeiten hervortreten zu lassen.18)
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Der Einzelmensch "kann sich wenn er alle geistigen Kräfte einsetzt, in einem gewissen Umfang über die von außen auf ihn wirkenden Ursachen erheben, ihre Wirkungen abändern und danach streben, sich allmählich auf eine höhere sittliche Stufe hinaufzuläutern."20)
Der Einzelmensch "kann sich wenn er alle geistigen Kräfte einsetzt, in einem gewissen Umfang über die von außen auf ihn wirkenden Ursachen erheben, ihre Wirkungen abändern und danach streben, sich allmählich auf eine höhere sittliche Stufe hinaufzuläutern."20)


''Literaturverzeichnis:''
==Literaturverzeichnis:==
1) Eisler, Rudolf:Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 1, Berlin 1927
1) Eisler, Rudolf:Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 1, Berlin 1927
2) Kern, Horst: Empirische Sozialforschung, München 1982, S. 37
2) Kern, Horst: Empirische Sozialforschung, München 1982, S. 37
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