Louk Hulsman: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Louk Hulsman''' (richtig: Lodewijk Henri Christian Hulsman; * [[8. März]] [[1923]] in [[Kerkrade/NL]], gest. 28.01.2009 in Dordrecht/NL) war Mitbegründer der Coornheert Liga und ein radikaler Strafrechtskritiker. Zusammen mit [[Thomas Mathiesen]] und [[Nils Christie]] wird er zur kriminalpolitischen Richtung des strafrechtlichen [[Abolitionismus]] gezählt. Hulsman sprach "Kriminalität" jegliche ontologische Qualität ab und plädierte für dafür, statt von Kriminalität von "problematischen Situationen" oder "trouble" zu sprechen. Das, was allgemein als Kriminalität bezeichnet werde, sei in Wirklichkeit zudem das Produkt und nicht etwa der Gegenstand der Aktivitäten der sog. Strafrechtspflege. Kriminalität bezeichne weder eine ausserordentliche Gruppe von Ereignissen mit gemeinsamen Eigenschaften, die sie von nicht-kriminellen Ereignissen unterscheide - noch machten "Kriminelle" eine besondere Gruppe von Menschen aus, die sich durch gemeinsame Eigenschaften von anderen Menschen unterscheiden liessen. Deshalb sah er die Aufgabe der Kriminologie darin, (1) die Aktivitäten des Strafrechtssystems zu beschreiben, zu erklären und zu entmystifizieren und dessen kontraproduktiven Folgen zu thematisieren - und dies unter Betonung der Definitionsprozesse, (2) zu illustrieren, wie problematische Situationen ohne Nutzung des Strafrechtssystems bearbeitet werden, (3) Strategien der Abschaffung des Strafrechtssystems zu studieren und (4) ein Vokabular zu schaffen, das es erlaubt, Fragen problematischer Situationen zu thematisieren, ohne dem "Bias" des herrschenden "control babble" (Stanley Cohen) zum Opfer zu fallen (Hulsman 1986: 78 f.).  
[[File:Portret van L. Hulsman, hoogleraar strafrecht aan de Erasmus Universiteit, 1982.jpg|thumb|Portret van L. Hulsman, hoogleraar strafrecht aan de Erasmus Universiteit, 1982]]Der niederländische Kriminologe '''Louk Hulsman''' (richtig: Lodewijk Henri Christian Hulsman; * 8. März 1923 in [http://de.wikipedia.org/wiki/Kerkrade Kerkrade], gest. 28.01.2009 in [http://de.wikipedia.org/wiki/Dordrecht Dordrecht]) war ein radikaler Strafrechtskritiker und wird zusammen mit [[Thomas Mathiesen]] und [[Nils Christie]] zur kriminalpolitischen Richtung des strafrechtlichen [[Abolitionismus]] gezählt. Er war Mitbegründer der Coornhert Liga [http://www.coornhert-liga.nl/].  


== Leben ==
== Leben ==
Hulsmans Vater [[Aloisius; genannt Lou; gest. 1933]], war Kohlengruben-Direktor (Domaniale) in [http://nl.wikipedia.org/wiki/Kerkrade]. Seine Mutter Nolly Lambermont-Hennen stammte aus einer Musikerfamilie. Sein vier Jahre jüngerer Bruder Willy war Psychologe. Nach Erinnerung seines Freundes aus Schultagen (Ferdinand) hatte Louk ein gutes Verhältnis zu seiner temperamentvollen und willensstarken Mutter.  
Hulsmans Vater Aloisius (genannt Lou; gest. 1933) war Kohlengruben-Direktor (Domaniale) in [http://nl.wikipedia.org/wiki/Kerkrade]. Seine Mutter Nolly Lambermont-Hennen stammte aus einer Musikerfamilie. Sein vier Jahre jüngerer Bruder Willy war Psychologe. Nach Erinnerung seines Freundes aus Schultagen (Ferdinand) hatte Louk ein gutes Verhältnis zu seiner temperamentvollen und willensstarken Mutter.  


Hulsman verbrachte sieben Jahre auf dem Internat [http://www.charlemagnecollege.nl/sjablonen/charlemagne/pagina.asp?subsite=180&onderwerp=383 Rolduc] in Kerkrade, schloss die Schule dann aber auf dem Franziskaner-Gymnasium St. Bernardis in [http://de.wikipedia.org/wiki/Heerlen Heerlen] bei Kerkrade ab. Sowohl die Tatsache, dass er keine Mitsprache bei der Entscheidung seiner Eltern für den Internatsbesuch hatte, als auch die Internatszeit selber waren negative Erlebnisse, auf die er später immer wieder zurückkam und die viel von seinem späteren Denken beeinflussten.
Hulsman verbrachte sieben Jahre auf dem Internat [http://www.charlemagnecollege.nl/sjablonen/charlemagne/pagina.asp?subsite=180&onderwerp=383 Rolduc] in Kerkrade, schloss die Schule dann aber auf dem Franziskaner-Gymnasium St. Bernardis in [http://de.wikipedia.org/wiki/Heerlen Heerlen] bei Kerkrade ab. Sowohl die Tatsache, dass er keine Mitsprache bei der Entscheidung seiner Eltern für den Internatsbesuch hatte, als auch die Internatszeit selber waren negative Erlebnisse, auf die er später immer wieder zurückkam und die viel von seinem späteren Denken beeinflussten.


1943 schloss Hulsman sich einer Widerstandsgruppe gegen die deutsche Besatzung an. Mitte 1944 wurde er in das Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort (KZ Amersfoort) eingeliefert. Die sieben Jahre im Internat seien für ihn schlimmer gewesen als die Misshandlungen im KZ, erklärte Louk Hulsman auch noch im hohen Alter. Dass sich unter den drei Kriegsverbrechern, für deren Freilassung aus dem Gefängnis von Breda er sich gegen eine entrüstete Öffentlichkeit Jahrzehnte später einsetzte, auch einer befand, der ihn im KZ misshandelt hatte, erwähnte er zu der Zeit nicht. Aus der Haft entkam Hulsman während eines Gefangenentransport in Richtung Osten. Er konnte in der Veluwe untertauchen und mit einem Freund zusammen sogar von eingeschlossenen deutschen Truppen ein Gewehr, ein Fahrrad und sogar Verpflegung erbeuten (letztere liess er der hungernden Dorfbevölkerung zukommen). Als er wieder zu seiner (nun schon Uniform tragenden) Gruppe stieß, schloss er sich einem Stosstrupp zur Befreiung mehrerer Dörfer beiderseits der Grenze an.
Nachdem sich Hulsman 1943 einer Widerstandsgruppe gegen die deutsche Besatzung angeschlossen hatte, wurde er wegen falscher Papier bald verhaftet. Nach seiner eigenen Aussage wurde er Mitte 1944 in das Polizeiliche Durchgangslager Amersfoort (KZ Amersfoort) eingeliefert. Er flüchtete dann (im September 1944) aus einem Gefangenentransport, der nach Osten ging.


Von 1945 bis 1948 studierte Hulsman Jura in [[Leiden]], einer Universität, die er nicht zuletzt deshalb wählte, weil die Besatzer die Universität zuvor wegen der Unbotmäßigkeit einiger Professoren geschlossen hatten und weil hier nach dem Krieg eine ansprechende Aufbruchsstimmung und Offenheit gegenüber neuen Ideen herrschte. Er interessierte sich für Römisches Recht - nicht zuletzt wegen der Qualitäten des Lehrstuhlinhabers, der frühzeitig neue gruppenorientierte Lehr- und Lernformen eingeführt hatte. Er sah sich aber auch u.a. in der Astronomie und den Verhaltenswissenschaften um.
Er konnte in der [http://de.wikipedia.org/wiki/Veluwe Veluwe], dem größten Waldgebiet der Niederlande, untertauchen. Mit einem Freund zusammen erbeutete er von eingeschlossenen deutschen Truppen ein Fahrrad und ein Gewehr. Er organisierte auch Verpflegung für hungernde Dorfbewohner. Als er wieder zu seiner ehemaligen Widerstandsgruppe stieß, die mittlerweile Uniform trug, schloss er sich diesem Stosstrupp zur Befreiung mehrerer Dörfer beiderseits der Grenze an.
 
Im Rückblick erklärte Hulsman, dass die sieben Jahre im Internat für ihn schlimmer gewesen seien als die Misshandlungen im KZ. Dass sich unter den drei Kriegsverbrechern, für deren Freilassung aus dem Gefängnis von Breda er sich gegen eine entrüstete Öffentlichkeit Jahrzehnte später einsetzte, auch einer befand, der ihn im KZ misshandelt hatte, erwähnte er zu der Zeit nicht. 
 
Von 1945 bis 1948 studierte Hulsman Jura an der Universität von Leiden, die er nicht zuletzt wegen ihres guten Rufes wählte: die deutschen Besatzer hatten Leiden wegen der Unbotmäßigkeit einiger Professoren geschlossen gehabt und nach dem Krieg herrschte dort eine ansprechende Offenheit gegenüber neuen Ideen und eine generelle Aufbruchsstimmung. Er interessierte sich für Römisches Recht - nicht zuletzt wegen der Qualitäten des Lehrstuhlinhabers, der frühzeitig neue gruppenorientierte Lehr- und Lernformen eingeführt hatte. Er sah sich aber auch u.a. in der Astronomie und den Verhaltenswissenschaften um.


Strafrecht und Kriminologie hörte Hulsman bei Jacob Maarten van Bemmelen (1898-1982), in dessen kleinem kriminologischen Institut er einige Zeit für 250 Gulden im Monat arbeitete. Auf Empfehlung Van Bemmelens erhielt Hulsman dann eine Anstellung im Kriegsministerium (1949-1955), das ihn für einige Jahre (1951-1954) zum Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft [[EVG]] nach Paris entsandte. Als Ministerialbeamter im Justizministerium (1955-1964) engagierte sich Hulsman in der Reform der Staatsanwaltschaft und im Europarat - und blieb dem Ministerium als Berater auch nach seinem Wechsel an die Universität bis etwa 1978 erhalten.
Strafrecht und Kriminologie hörte Hulsman bei Jacob Maarten van Bemmelen (1898-1982), in dessen kleinem kriminologischen Institut er einige Zeit für 250 Gulden im Monat arbeitete. Auf Empfehlung Van Bemmelens erhielt Hulsman dann eine Anstellung im Kriegsministerium (1949-1955), das ihn für einige Jahre (1951-1954) zum Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft [[EVG]] nach Paris entsandte. Als Ministerialbeamter im Justizministerium (1955-1964) engagierte sich Hulsman in der Reform der Staatsanwaltschaft und im Europarat - und blieb dem Ministerium als Berater auch nach seinem Wechsel an die Universität bis etwa 1978 erhalten.
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Von 1965-1974 war Hulsman Professor für Strafrecht und Kriminologie an der neugegründeten juristischen Fakultät an der reformorientierten Erasmus Universität Rotterdam. Leitgedanke der Schaffung des Lehrstuhls war die Reform der Juristenausbildung im Sinne einer Zusammenarbeit mit den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie und Sozialpsychologie sowie einer erhöhten Wahlfreiheit der Studierenden in bezug auf die Gestaltung ihres Studiums gewesen.
Von 1965-1974 war Hulsman Professor für Strafrecht und Kriminologie an der neugegründeten juristischen Fakultät an der reformorientierten Erasmus Universität Rotterdam. Leitgedanke der Schaffung des Lehrstuhls war die Reform der Juristenausbildung im Sinne einer Zusammenarbeit mit den Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie und Sozialpsychologie sowie einer erhöhten Wahlfreiheit der Studierenden in bezug auf die Gestaltung ihres Studiums gewesen.


1978 initiierte Hulsman zusammen mit Frederick McClintock [[Edinburgh]] und Stephan Quensel [[Bremen]] das erste europäische Common Study Programme über die europäische Alkoho- und Drogenpolitik, das in der Folge noch um Lode van Outrive [[Leuven]] erweitert wurde und einen direkter Vorläufer der Erasmus- bzw. Sokrates-Programme der EU darstellte. Auf Initiative von Alessandro Baratta [[Saarbrücken]] etablierte Hulsman auf der Basis der seit 1978 gewonnenen Erfahrungen ein (auf jeweils zwei Jahre ausgelegtes) Common Study Programme ("Critical Criminology"), das lange weiter existierte und auch Verbindungen mit Südamerika etablierte.
1978 initiierte Hulsman zusammen mit [[Frederick McClintock]] (Edinburgh) und [[Stephan Quensel]] (Bremen) das erste europäische Common Study Programme über die europäische Alkohol- und Drogenpolitik, das in der Folge noch um [[Lode van Outrive]] (Leuven) erweitert wurde. Auf Initiative von Alessandro Baratta [[Saarbrücken]] etablierte Hulsman auf der Basis der seit 1978 gewonnenen Erfahrungen ein (auf jeweils zwei Jahre ausgelegtes) Common Study Programme ("Critical Criminology"), das lange weiter existierte und auch Verbindungen mit Südamerika etablierte.


Hulsman war Mitgründer der Cornheert Liga und aktives Mitglied in der Défense sociale nouvelle (Marc Ancel) sowie in der Internatioanl Society of Criminology und in der Redaktion von Delikt en Delinquent sowie im Beirat von Déviance et Société. Eine lange freundschaftliche Kooperation verband ihn auch mit Philippe Robert und den von diesem und dem GERN organisierten Interlabos.
Der Mitbegründer der Coornhert Liga war auch in der Défense sociale nouvelle (Marc Ancel), der International Society of Criminology, der Redaktion von Delikt en Delinquent sowie im Beirat von Déviance et Société aktiv. Eine lange freundschaftliche Kooperation verband ihn auch mit Philippe Robert und den von diesem und dem GERN organisierten Interlabos.


== Werk ==
== Werk ==
===Überblick===
 
Hulsman plädierte dafür, statt von Kriminalität von "problematischen Situationen" oder (mit Stephen Pfohl) von "trouble" zu sprechen. Was allgemein als Kriminalität bezeichnet werde, sei in Wirklichkeit zudem das Produkt und nicht etwa der Gegenstand der Aktivitäten der sog. Strafrechtspflege. Kriminalität bezeichne weder eine ausserordentliche Gruppe von Ereignissen mit gemeinsamen Eigenschaften, die sie von nicht-kriminellen Ereignissen unterscheide - noch machten "Kriminelle" eine besondere Gruppe von Menschen aus, die sich durch gemeinsame Eigenschaften von anderen Menschen unterscheiden ließen. Kurzum: der sprach "Kriminalität" jegliche ontologische Qualität ab.
 
Die Aufgaben der akademischen Kriminologie sah Hulsman (1986, 1991) in der Erforschung der
*tatsächlichen Arbeitsweisen von Institutionen und ihrer realen Auswirkungen auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche
*Glaubenssysteme, die den Institutionen und ihren Arbeitsweisen zugrunde liegend
*Einschränkungen, welche die Institutionen und ihre Praktiken gerade auch dadurch, dass sie so sehr zum Teil unserer Wahrnehmung, unserer Einstellungen und unseres Verhaltens geworden sind, für uns bedeuten.
*tatsächlichen Bearbeitung von problematischen Situationen ohne Rückgriff auf das Strafrechtssystem (Dunkelfeld)
*Strategien der Abschaffung des Strafrechtssystems.
*Darüber hinaus verwies Hulsman immer wieder auf die Bedeutung, sich eines Vokabulars zu bedienen - oder es zu schaffen - das er erlaube, Fragen problematischer Situationen zu thematisieren, ohne dem "Bias" des herrschenden "control babble" (Stanley Cohen) zum Opfer zu fallen (Hulsman 1986: 78 f.).
*Und schließlich war er von der Notwendigkeit überzeugt, mit den direkt Beteiligten zu kooperieren. Und mit den Praktikern der Strafrechtspflege, um auch auf diese Weise zur Transformation der Institutionen beizutragen.
 
Die Kritik am Strafrecht und der Strafrechtspflege, die Hulsman übte, betraf nicht die Ebene der Zweck-, sondern der Wertrationalität. Es war eine Fundamentalkritik, die den Sinn der Kategorie „Kriminalität“ selbst in Frage stellte. Weder billigte Hulsman „kriminellen“ Ereignissen einen ontologischen Status noch einen besonderen Schwerecharakter im Kontext anderer „problematischer Situationen“ (Hulsman), bzw. „Ärgernisse und Lebenskatastrophen“ (Hanak, Stehr, Steinert) zu. Da das Strafsystem zudem in der Praxis weder den Bedürfnissen der Opfer noch denen der Täter oder der Gemeinschaft auch nur annähernd genügend Rechnung zu tragen vermöge, dafür aber nachweisbar ein System der „Leidzufügung“ sei (Christie), schlug Hulsman unbeirrbar vor, Strafe und Strafsysteme selbst als „soziale Probleme“ zu betrachten und sich um eine Abschaffung (Abolition) und damit um eine Lösung dieses Problems zu bemühen. Die Auffassung vom „criminal justice system as a social problem“ vertrat er in der Gruppierung ICOPA (International Conference on Prison Abolition, bzw. on Penal Abolition)  und bei seinen zahlreichen Konferenzbeiträgen und Vortragsreisen durch die ganze Welt. Louk Hulsmans kriminologisches Denken kann als eine eigenständige Weiterentwicklung der Ideen von Thomas Mathiesen in dessen Werk "The Politis of Abolition" angesehen werden. Hulsman selbst sagt, dass ihm schon in seiner Jugend klar geworden sei, dass die Dinge meist nicht so seien wie sie erschienen. Ihm wurde klar, wie wichtig es war, eigene qualitative Erfahrungen in den Realitätsbereichen zu erwerben - zum Beispiel in den Regelungsfeldern, die von der Gesetzgebung betroffen waren, mit der er in seiner Arbeit im Ministerium befasst war. Immer sei es problematisch gewesen, was Wissen sei (Epistemologie). Sein Leben sei auch ein langer Versuch, sich von der essentialistischen Denkweise zu befreien, die nicht nur die Welt des Kindes und das Alltagsdenken, sondern auch noch das Denken der Strafrechtsdogmatik durchwirke. Alles Wissen ist etwas zwischen dem Subjekt und der Außenwelt und besitzt insofern einen subjektiven Aspekt. Als  inspirierende Quellen nennt Hulsman neben Thomas Mathiesen vor allem Michel Foucault und Paul Feyerabend. Er lernte aber auch viel von Arbeiten, die in ganz anderen Denktraditionen wurzelten, die er aber selbst produktiv rekontextualisierte.  Neben die epistemologische Reflexion von Wissen kamen die Praxis von Wissen und die eigene Welterfahrung und ein der Einfluss von Malcolm Spectors Theorie der Konstruktion sozialer Probleme.
Die Kritik am Strafrecht und der Strafrechtspflege, die Hulsman übte, betraf nicht die Ebene der Zweck-, sondern der Wertrationalität. Es war eine Fundamentalkritik, die den Sinn der Kategorie „Kriminalität“ selbst in Frage stellte. Weder billigte Hulsman „kriminellen“ Ereignissen einen ontologischen Status noch einen besonderen Schwerecharakter im Kontext anderer „problematischer Situationen“ (Hulsman), bzw. „Ärgernisse und Lebenskatastrophen“ (Hanak, Stehr, Steinert) zu. Da das Strafsystem zudem in der Praxis weder den Bedürfnissen der Opfer noch denen der Täter oder der Gemeinschaft auch nur annähernd genügend Rechnung zu tragen vermöge, dafür aber nachweisbar ein System der „Leidzufügung“ sei (Christie), schlug Hulsman unbeirrbar vor, Strafe und Strafsysteme selbst als „soziale Probleme“ zu betrachten und sich um eine Abschaffung (Abolition) und damit um eine Lösung dieses Problems zu bemühen. Die Auffassung vom „criminal justice system as a social problem“ vertrat er in der Gruppierung ICOPA (International Conference on Prison Abolition, bzw. on Penal Abolition)  und bei seinen zahlreichen Konferenzbeiträgen und Vortragsreisen durch die ganze Welt. Louk Hulsmans kriminologisches Denken kann als eine eigenständige Weiterentwicklung der Ideen von Thomas Mathiesen in dessen Werk "The Politis of Abolition" angesehen werden. Hulsman selbst sagt, dass ihm schon in seiner Jugend klar geworden sei, dass die Dinge meist nicht so seien wie sie erschienen. Ihm wurde klar, wie wichtig es war, eigene qualitative Erfahrungen in den Realitätsbereichen zu erwerben - zum Beispiel in den Regelungsfeldern, die von der Gesetzgebung betroffen waren, mit der er in seiner Arbeit im Ministerium befasst war. Immer sei es problematisch gewesen, was Wissen sei (Epistemologie). Sein Leben sei auch ein langer Versuch, sich von der essentialistischen Denkweise zu befreien, die nicht nur die Welt des Kindes und das Alltagsdenken, sondern auch noch das Denken der Strafrechtsdogmatik durchwirke. Alles Wissen ist etwas zwischen dem Subjekt und der Außenwelt und besitzt insofern einen subjektiven Aspekt. Als  inspirierende Quellen nennt Hulsman neben Thomas Mathiesen vor allem Michel Foucault und Paul Feyerabend. Er lernte aber auch viel von Arbeiten, die in ganz anderen Denktraditionen wurzelten, die er aber selbst produktiv rekontextualisierte.  Neben die epistemologische Reflexion von Wissen kamen die Praxis von Wissen und die eigene Welterfahrung und ein der Einfluss von Malcolm Spectors Theorie der Konstruktion sozialer Probleme.


===Methodologischer und rechtsphilosophischer Ansatz===
===Methodologischer und rechtsphilosophischer Ansatz===


Hulsmans Ansatz wurde von Ralf de Folter mit denjenigen von Michel Foucault einerseits und Thomas Mathiesen andererseits verglichen.
Als einer der führenden "penal abolitionists" attackierte Hulsman nicht nur die Ineffektivität der Gefängnisse, sondern - viel radikaler - die Wurzeln des Strafdenkens und des Strafsystems insgesamt. So argumentierte er zum Beispiel, dass der Begriff "Kriminalität" den Blick auf die Realität und die Lösung der damit bezeichneten Probleme eher erschwere und deshalb nicht als Werkzeug der Kriminologie, sondern als Gegenstand kriminologischer Kritik benutzt werden sollte. Er fand es
Als einer der führenden "penal abolitionists" attackierte Hulsman nicht nur die Ineffektivität der Gefängnisse, sondern - viel radikaler - die Wurzeln des Strafdenkens und des Strafsystems insgesamt. So argumentierte er zum Beispiel, dass der Begriff "Kriminalität" den Blick auf die Realität und die Lösung der damit bezeichneten Probleme eher erschwerte als erleichterte und deshalb nicht mehr benutzt werden sollte:


::''(The) "categories of 'crime' are given by the criminal justice system rather than by victims or society in general. This makes it necessary to abandon the notion of 'crime' as a tool in the conceptual framework of criminology. Crime has no ontological reality. Crime is not the object but the product of criminal policy. Criminalisation is one of the many ways of constructing social reality"'' (Hulsman 1986: 34 f.).
::''necessary to abandon the notion of 'crime' as a tool in the conceptual framework of criminology. Crime has no ontological reality. Crime is not the object but the product of criminal policy. Criminalisation is one of the many ways of constructing social reality'' (Hulsman 1986: 34 f.).


Die Vorstellung, dass schon das Konzept "Kriminalität" im Grunde genommen ein der Vielfalt der lebensweltlichen Problemlagen Gewalt antuender staatlicher Oktroi darstellt, weist eine gewisse Wahlverwandtschaft mit dem Geist der Dekonstruktion auf, weist sie doch logischerweise auch die ganze "Große Erzählung" von der Humanisierung des Strafens, von Schuld, Vernunft und Staatlichkeit zurück. Weder kann Kriminalität deshalb als nahezu deckungsgleich mit sozial schädlichen Akten oder mit der Verletzung von Rechtsgütern angesehen werden noch ist es möglich, Kriminalität theoretisch zu erklären. Hinzu kommen die Indizien für die Unfähigkeit des Strafrechtssystems, die als "Kriminalität" zu falscher Abstraktion erhobene Vielfalt von Problemlagen anders als durch prozedurale Stillstellung zu "lösen" und die Hoffnung, dass fast alles andere besser wäre als das Strafrecht, um die berechtigten Bedürfnisse aller Beteiligten zu befriedigen.
Die Vorstellung, dass schon das Konzept "Kriminalität" im Grunde genommen ein der Vielfalt der lebensweltlichen Problemlagen Gewalt antuender staatlicher Oktroi sei, weist eine gewisse Wahlverwandtschaft mit dem Geist der Dekonstruktion auf, weist sie doch logischerweise auch die ganze "Große Erzählung" von der Humanisierung des Strafens, von Schuld, Vernunft und Staatlichkeit zurück. Weder kann Kriminalität deshalb als nahezu deckungsgleich mit sozial schädlichen Akten oder mit der Verletzung von Rechtsgütern angesehen werden - noch ist es möglich, Kriminalität theoretisch zu erklären. Hinzu kommen die Indizien für die Unfähigkeit des Strafrechtssystems, die als "Kriminalität" zu falscher Abstraktion erhobene Vielfalt von Problemlagen anders als durch prozedurale Stillstellung zu "lösen" und die Hoffnung, dass fast alles andere besser wäre als das Strafrecht, um die berechtigten Bedürfnisse aller Beteiligten zu befriedigen.


== Literatur ==
== Literatur ==
=== Von Louk Hulsman ===
=== Von Louk Hulsman ===


Diese Liste basiert auf: http://www.defensesociale.org/revista2003/17.pdf
Diese Liste basiert hauptsächlich auf: http://www.defensesociale.org/revista2003/17.pdf


Die wichtigsten Werke von Louk Hulsman in niederländischer Sprache (vor 1996) sind zu finden in: J.R.Blad: Abolitionismus als Strafrechtstheorie,Gouda Quint. 1996 (Summary in English: Abolitionism as Penal Law Theory. Theoretical Reflections on
Die wichtigsten Werke von Louk Hulsman in niederländischer Sprache (vor 1996) sind zu finden in: J.R.Blad: Abolitionismus als Strafrechtstheorie,Gouda Quint. 1996 (Summary in English: Abolitionism as Penal Law Theory. Theoretical Reflections on
L.H. C. Hulsman’s Abolitionism). Auf jeden Fall ist zu nennen:
L.H. C. Hulsman’s Abolitionism). Auf jeden Fall ist zu nennen:
*1998: Struggles about terminology: problematic situation vs crime. In: Politique, Police et Justice au bord du futur: Mélanges pour et avec Lode Van Otrive, por Yves CARTUYVELS, Françoise DIGNEFFE, Alvaro PIRES e Philippe ROBERT, 44-67. Montreal: L'Harmattan, 1998


* 1986 Afscheid van het Strafrecht. Een. Pleidooi voor Zelfregulering. Houten: Het Wereldvenster.
* 1986 Afscheid van het Strafrecht. Een. Pleidooi voor Zelfregulering. Houten: Het Wereldvenster.
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== Weblinks ==
== Weblinks ==
* [http://www.loukhulsman.org/index.html Offizielle Webpräsenz, enthält Artikel von und über Louk Hulsman]
* [http://www.loukhulsman.org/index.html Offizielle Webpräsenz, enthält Artikel von und über Louk Hulsman]
*[http://hulsmanfoundation.org/ Hulsman Foundation]


* [http://www.defensesociale.org/revista2003/00.pdf" Cahiers de Défense Sociale ", Sonderheft zum 80. Geburtstag von Louk Hulsman]  
* [http://www.defensesociale.org/revista2003/00.pdf" Cahiers de Défense Sociale ", Sonderheft zum 80. Geburtstag von Louk Hulsman]  
*[http://www.ibccrim.org.br/docs/simposio2014.pdf Gomes da Mata, Jéssica “Situação problemática” no Brasil? Reflexões sobre uma mudança paradigmática no sistema de justiça criminal de um país de cultura punitivista (S. 409 ff.)]


* [http://www.erasmusmagazine.nl/nieuws/detail/article/661/ Nachruf im ''Erasmusmagazin'' (niederl.)]
* [http://www.erasmusmagazine.nl/nieuws/detail/article/661/ Nachruf im ''Erasmusmagazin'' (niederl.)]


* [http://www.defensesociale.org/revista2003/04.pdf ''A Homage to Louk Hulsman (2004)'']
* [http://www.defensesociale.org/revista2003/04.pdf ''A Homage to Louk Hulsman (2004)'']
*Nachruf in TROUW (holl.): [http://www.trouw.nl/achtergrond/Naschrift/article2026417.ece/Louk_Hulsman_1923-2009_.html]
*Nachruf in NRC Handelsblad: [http://www.nrc.nl/necrologieen/2009/article2144231.ece/Louk_Hulsman_1923-2009]


== Quellen ==
*[http://www.egelforum.net/forum/sociedad-y-libertad-191/91311-de-abolicion-de-carceles-opiniones-de-holandecito.html Abolición de carceles]
<references/>
*[http://books.google.de/books?id=Q39Iidc7r9UC&pg=PA297&lpg=PA297&dq=peines+perdues&source=bl&ots=QmSQNxL7Ky&sig=0bJaaXrDXnn2zSQbK87WIEI0NY0&hl=de&sa=X&ei=74pgT4bDCYqh4gSXg5y1Dg&ved=0CDMQ6AEwAA#v=onepage&q=peines%20perdues&f=false Siegfried Lamnek Neue Theorien abweichenden Verhaltens S. 297: über "Peines Perdues"]


*[http://www.observantonline.nl/Portals/0/obs%2008_lowres.pdf Hans Nelen inspired by Louk Hulsman, in: Observant online, Okt. 2014]


[[Kategorie:Kriminologe]]
== Quellen ==
F
RANCÉS
L
ECUMBERRI
,
P
AZ
y
R
ESTREPO
R
ODRÍGUEZ
,
D.
“Con Hulsman para
avanzar un poco más. El abolicionismo de la Cultura del Castigo a partir de la obra
de Vincenzo Guagliardo”, en
Libro homenaje a Louk Hulsman
, Universidad de
Salamanca, 2012,<references/>
[[Kategorie:Kriminologe (20. Jahrhundert)]]
[[Kategorie:Kriminologe (21. Jahrhundert)]]
[[Kategorie:Jurist]]
[[Kategorie:Jurist]]
[[Kategorie:Niederländer]]
[[Kategorie:Niederländer]]
[[Kategorie:Mann]]
[[Kategorie:Mann]]
[[Kategorie:Geboren 1923]]
[[Kategorie:Gestorben 2009]]
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