Liwat: Unterschied zwischen den Versionen

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Die islamische Rechtswissenschaft (''fiqh'') ist die Summe der aus Koran und Sunna abgeleiteten Gesetze und die Wissenschaft über die Vorschriften im islamischen Rechtssystem (>)Scharia.  
Die islamische Rechtswissenschaft (''fiqh'') ist die Summe der aus Koran und Sunna abgeleiteten Gesetze und die Wissenschaft über die Vorschriften im islamischen Rechtssystem (>)Scharia.  


Diese Rechtsordnung ist ein Produkt der Vielzahl islamischer Rechtsschulen, dessen Formation erst Mitte des 10. Jahrhunderts abgeschlossen war ('''Quelle'''). Dies markierte einen Wendepunkt der islamischen Rechtsauslegung und reduzierte sie auf eine Auslegung im Rahmen der vier sich gegenseitig anerkennenden Rechtsschulen (''madhāhib''), denen gegenüber die Häretiker bzw. Apostaten standen (''murtadd''). 1959 wurden die  ''madhāhib'' mit dem imamitischen Recht, den Dschafariten, um eine fünfte Rechtsschule erweitert, die seit 1982 das Staatsgesetz der iranischen Republik stellt <ref name="Klauda"></ref>.
Diese Rechtsordnung ist ein Produkt der Vielzahl islamischer Rechtsschulen, dessen Formation erst Mitte des 10. Jahrhunderts abgeschlossen war<ref>Hallaq, Wael B., ''The Origins and Evolution of Islamic Law'', 2005, Cambridge University Press, Cambridge</ref>. Dies markierte einen Wendepunkt der islamischen Rechtsauslegung und reduzierte sie auf eine Auslegung im Rahmen der vier sich gegenseitig anerkennenden Rechtsschulen (''madhāhib''), denen gegenüber die Häretiker bzw. Apostaten standen (''murtadd''). 1959 wurden die  ''madhāhib'' mit dem imamitischen Recht, den Dschafariten, um eine fünfte Rechtsschule erweitert, die seit 1982 das Staatsgesetz der iranischen Republik stellt <ref name="Klauda"></ref>.


Ein wesentliches Merkmal der islamischen Rechtsprechung ist die Unterteilung von Straftaten unter das sakrale Recht des (>)''hadd'' und das profane Recht des (>)''ta'zir''. Während das Strafmaß von Taten des Letzterem nach Beliebem vom Richter festgelegt werden kann, wird das Strafmaß von hadd-Strafen ausschließlich von Gott bestimmt werden, also durch Interpretation von Koran und Hadithen. Eine weitere wichtige Unterscheidung bei ''zina'', sowie in einigen Rechtsschulen auch bei Liwat, ist, ob der Täter bereits einen legalen Beischlaf vollzogen hat ''(muhsam'') oder dies noch nicht getan hat (''gair muhsam'') <ref name="Schmitt"></ref>.
Ein wesentliches Merkmal der islamischen Rechtsprechung ist die Unterteilung von Straftaten unter das sakrale Recht des [http://de.wikipedia.org/wiki/Hadd-Strafe ''hadd''] und das profane Recht des [http://en.wikipedia.org/wiki/Tazir ''ta'zir'']. Während das Strafmaß von Taten des Letzterem nach Beliebem vom Richter festgelegt werden kann, wird das Strafmaß von hadd-Strafen ausschließlich von Gott bestimmt, also durch Interpretation von Koran und Hadithen. Eine weitere wichtige Unterscheidung bei ''zina'', sowie in einigen Rechtsschulen auch bei Liwat, ist, ob der Täter bereits einen legalen Beischlaf vollzogen hat ''(muhsam'') oder dies noch nicht getan hat (''gair muhsam'') <ref name="Schmitt"></ref>.


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'''Hanafiten'''
Die im 16. Jahrhundert zur offiziellen Rechtsschule des osmanischen Reiches ernannte Lehre der Hanafiten ist die größte der sunnitischen Rechtsschulen und die Einzige, in der ''liwat'' nicht unter ''hadd'' fällt sondern durch ''ta'zir'' geahndet wird.
Begründet wurde dies mit der Uneinigkeit der Mohammend-Gefährten über die richtige Bestrafung von ''liwat'', was eine Bestrafung durch ''hadd'' verunmöglichte. Ebenso sei ''liwat'' nicht zu vergleichen mit ''zani'', da es weniger sozial zersetzend wirke und die Rechte Dritter (etwa des Ehemanns oder der Familie) unverletzt blieben. Ebenso wurde ausgeschlossen, dass bei ''liwat'' der/die Penetrierte überhaupt in der Lage sei Lust zu verspüren<ref name="Schmitt"></ref>. Insofern sei ''liwat'' gleichzusetzen mit bloßer Samenverschwendung<ref name="Schmitt"></ref>.
Die gängigen Strafen waren eine Auspeitschung bis zu 39 Hieben (ein Hieb weniger als für das Vergehen des Weintrinkens, der niedrigst denkbaren ''hadd''-Strafe)<ref name="peters">Peters, Rudolph, ''Crime and Punishment in Islamic Law'', 2005, Cambridge University Press, Cambridge</ref> aber auch Tadel, Freiheitsstrafe oder Exil. Das osmanische Gesetz konkretisierte die möglichen Strafen des ''ta'zir'' vor allem zu Gunsten des eigenen Haushaltes: Liwat in seinen verschiedenen Formen wurde fortan an mit Geldstrafen geahndet <ref name="Schmitt"></ref>.


'''Hanafiten'''
Das Hanifitentum wurde unter den Taliban während ihrer Herrschaft radikalisiert und mindestens fünf Männer wegen liwat hingerichtet. Möglich war dies, da im osmanischen Recht die Todesstrafe oder schwere Züchtigung für das wiederholte Bedrohen der öffentlichen Ordnung <ref name="peters">Peters, Rudolph, ''Crime and Punishment in Islamic Law'', 2005, Cambridge University Press, Cambridge</ref> vorgesehen war. Gleichzeitig weißen die drastischen Formen der Vollstreckung (die Verurteilten wurden von einer einstürzenden Mauer lebendig begraben) auf Einflüsse aus schiitischen Rechtsschulen hin.


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'''Schafiten'''
'''Schafiten'''


Die nach den Hanafiten zweitgrößte sunnistische Rechtsschule unterscheidet bei Liwat als Variante von außer-ehelichem Geschlechtsverkehr zwischen ''muhsam'' und ''gair musham''. Ersteres führt Steinigung nach sich, während letzteres mit Peitschenhieben und Exil geahndet wird<ref name="schmitt"></ref>.
Jedoch konnte der passive männliche Part niemals mit dem Tode bestraft werden <ref name="elrouayheb">El-Rouayheb, Khaled, ''Before Homosexuality in the Arab-Islamic World'',2005, University of Chicago Press, Chicago, S.119-125</ref>, da nach Auffassung der schafitischen Rechtsgelehrten ein Mann sich nicht auf legale Weile penetrieren lassen kann und daher in Bezug auf seinen Anus auch nach der Heirat als gair muhsam anzusehen sei<ref name="elrouayheb">El-Rouayheb, Khaled, ''Before Homosexuality in the Arab-Islamic World'',2005, University of Chicago Press, Chicago, S.119-125</ref>.
Lediglich beim Vergehen am eigenen Sklaven oder Vieh fällt im Schafitentum Liwat unter ta'zir, da hier das Besitzrecht vor dem ''hadd'' greift<ref name="schmitt"></ref>.
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'''Malikiten'''
'''Malikiten'''
Die malaktitische Rechtsschule bezieht sich in ihrer Verurteilung von Liwat auf ein Zitat ihres Gründers [http://de.wikipedia.org/wiki/M%C4%81lik_ibn_Anas Malik ibn Anas], dass über den, der die Tat von Lots Volk begehe „komme die Steinigung, sei er ''muhsam'' oder nicht“<ref name="schmitt"></ref>.
Durch die Nicht-Unterscheidung zwischen ''muhsam'' und ''gair musham'' sind die Malafiten die strengste der sunnitischen Schulen, wobei sie Liwat zwischen einem Mann und Frau als ''zina'' ahnden und besagte Unterscheidung aufrechterhalten bleibt<ref>El-Rouayheb, Khaled, ''Before Homosexuality in the Arab-Islamic World'',2005, University of Chicago Press, Chicago, S.121</ref>.
Den vor allem in Nordafrika verbreiteten Malakiten kommt insbesondere im Sudan und Nordnigera eine große Bedeutung zu, wo 1983 bzw. 2000 wieder die Scharia eingeführt wurde. Obwohl in beiden Regionen Liwat mit dem Tode bestraft wird, hat sich im Sudan eine eigene Interpretation der Scharia entwickelt, die z.T. erheblich von klassischen Rechtswissenschaft abweicht. Bis heute ist kein im Sudan vollzogenes Urteil aufgrund von Liwat bekannt<ref name="sofer">Sofer, Jehoeda, ''Sodomy in the Law of Muslim States'' in: Schmitt und Sofer (Hrsg.), ''Sexuality and Eroticism Among Males in Moslem Societies, 1992, Haworth, New York</ref>.
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'''Hanbaliten'''
'''Hanbaliten'''


Die kleinste der sunnitischen Rechtsschulen sieht Liwat als eine Unterform von ''zina'' und unterscheidet daher auch zwischen ''muhsam und gair muhsam'', wobei Ersteres mit Steinigung und Letzteres mit 100 Peitschenhieben sowie Exil bestraft wird<ref name="elrouayheb"></ref>.
Eine bedeutende abweichende Meinung vertritt der hanabilitische Jurist [http://en.wikipedia.org/wiki/Ibn_Taymiyyah Ibn Taimiya], der eine Steinigung in jedem Fall fordert, unabhängig davon ob muhsam oder nicht<ref name="Schmitt"></ref>. Taimiya übte bedeutenden Einfluss auf [http://de.wikipedia.org/wiki/Muhammad_ibn_Abd_al-Wahhab Muhammad ibn 'Abd al-Wahhab] aus, der die saudiarabische Staatsideologie des [http://de.wikipedia.org/wiki/Wahhabiten Wahabitentums] begründete. Daher orientieren sich saudi-arabische Richter gängigerweise an hanbalitischer Rechtssprechung nach Ibn Tamimiya, auch wenn ihnen durch die Monarchie keine Rechtsschule vorgeschrieben ist<ref name="peters"></ref>.
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'''Dschafariten'''
'''Dschafariten'''
Die vor allem von den Schiiten vertretene und im Iran als Staatsrecht praktizierte Rechtsschule ist eine der Strengsten im Bezug zu Liwat. Die Todesstrafe ist unabhängig von ''muhsam'' vorgeschrieben und auch der Schenkelverkehr zwischen Männern (''tafhid''), in allen anderen Rechtsschulen ''ta'zir'', wird unter den Imamiten mit ''hadd'' geahndet, wobei für die ersten drei Male 100 Peitschenhiebe und beim vierten Mal die Todesstrafe vorgesehen ist<ref name="klauda"></ref>. Der Schenkelverkehr zwischen Frauen bzw. Tribade wird ebenfalls mit 100 Peitschenhieben gestraft ohne aber eine Hinrichtung vorzusehen<ref name="smith">Smith, Rachel, ''Female Homosexual Acts in the Jewish and Islamic Medieval Legal Traditions'', Keshet, 2004</ref>.
Diese Strenge erklärt sich zum Teil aus einer Kundtat des schiitischen Propheten [http://de.wikipedia.org/wiki/%CA%BFAl%C4%AB_ibn_Ab%C4%AB_T%C4%81lib Ali ibn Abi Talib], der gesagt haben soll „Wenn es jemand verdiente, zweimal gesteinigt zu werden, so wäre es der ''luti''.“<ref name="schmitt"></ref> Aufgrund dieser Aussage empfehlen manche imamitischen Juristen daher, bei der Bestrafung wegen Liwat zwei Hinrichtungen symbolisch miteinander zu kombinieren<ref name="klauda"></ref>.


== Prozessrecht ==
== Prozessrecht ==
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