Als Leipziger Prozesse wurden die 17 Gerichtsverfahren bekannt, die 1921-27 zur Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen während des Ersten Weltkriegs vor dem Reichsgericht geführt wurden. Die gravierenden Unzulänglichkeiten dieser Prozesse reflektierten die breite Ablehnung, auf die die Tatsache und die Umstände ihrer Durchführung in der deutschen Öffentlichkeit gestoßen waren. Rückblickend lassen sie Zweifel daran aufkommen, dass es gelingen kann, die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen in die Hände der jeweiligen Staaten zu legen, aus denen die Tatverdächtigen stammen.


Vorgeschichte

Innovation und Diskriminierung

Bis zum Ersten Weltkrieg war es üblich gewesen, die juristischen Konsequenzen von Kriegen auf Schadensersatzverpflichtungen der Besiegten zu beschränken. Die im Versailler Vertrag (Artikel 227-230) niedergelegte Verpflichtung der deutschen Regierung, die für Kriegsverbrechen verantwortlichen Deutschen zwecks Durchführung von Militärgerichtsverfahren an die verschiedenen Siegermächte auszuliefern, wurde in der deutschen Öffentlichkeit nicht als Fortschritt des Völkerrechts, sondern als ein schikanöses Novum empfunden. Dieser Eindruck verstärkte sich, als am 3.2.1920 bekannt wurde, dass sich auf der Liste der 890 890 auszuliefernden Einzelpersonen und Personengruppen neben den Namen einfacher Soldaten auch diejenigen des ehemaligen Reichskanzlers Bethmann Hollweg, der Feldmarschälle von Hindenburg und von Mackensen, der Generale Ludendorff, von Gallwitz und von Bülow sowie des Großadmirals Tirpitz befanden. Die brisante Empörung in der deutschen Öffentlichkeit einerseits und die Uneinigkeit der Alliierten über das weitere Vorgehen andererseits führten allerdings schon elf Tage nach Übergabe der Auslieferungsliste zum Verzicht der Alliierten auf deren Durchsetzung. Mitte Februar 1920 wurde auf Initiative Italiens der deutsche Kompromissvorschlag akzeptiert, die Ahndung der deutschen Kriegsverbrechen dem obersten deutschen Gericht anzuvertrauen - mit dem Vorbehalt, dass die Alliierten die Angelegenheit im Falle eines nicht befriedigenden Ausgangs der Prozesse vor dem Reichsgericht notfalls auch selbst wieder in die Hand nehmen würden.

Probelauf

Um die deutsche Fähigkeit und Bereitschaft zur Durchführung solcher Prozesse zu signalisieren, hatte das Reichsgericht schon vor dem alliierten Auslieferungsverzicht mit vorbereitenden Arbeiten begonnen. Als am 7. Mai 1920 eine sogenannte Probeliste mit 45 Personennamen eintraf, die einem Test der deutschen Justiz diente, wies diese zwei Besonderheiten auf: Erstens fehlten alle prominenten Namen. Zweitens handelte es sich um "eindeutige Fälle", die nach Ansicht der Alliierten weder juristische Tatbestands- noch faktische Beweisschwierigkeiten enthielt, so dass in allen Fällen mit einer Verurteilung gerechnet wurde. Die der Ausfindigmachung der Genannten dienende Veröffentlichung der Namen auf der Probeliste fand ein negatives Echo in der Öffentlichkeit: statt in der Verlagerung der Prozesse ins Inland den Erfolg einer ersten geglückten Revision des Vertrages von Versailles zu sehen, wurden die angehenden Verfahren in Leipzig als weitere politische Demütigung Deutschlands verstanden.

Die Verfahren standen unter einem schlechten Stern: die Öffentlichkeit war empört darüber, dass sie überhaupt stattfinden sollten, die Alliierten waren wenig kooperativ, was die Weitergabe von Informationen anging, und die im Reichswehrministerium angesiedelte „Zentralstelle für Völkerrechtsverletzungen und andere Anschuldigungen militärischer Art“ unterstützte eher die Verteidigung als die Anklage. Die Anklagevertreter selbst standen den Prozessen kritisch gegenüber und praktizierten eine Art Minimalstrategie.

Schließlich musste auch noch ein Grundpfeiler des Rechtsstaats geopfert werden, um die Prozesse zu ermöglichen: es galt, das Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem) aufzuheben und die Einstellung von Verfahren zu erschweren. Das war der Inhalt des ersten Ergänzungsgesetzes, das im März 1920 von der Verfassunggebenden Nationalversammlung verabschiedet wurde. Im Mai 1921 folgte eine zweite Novellierung, die dem Oberreichsanwalt die Möglichkeit eröffnete, "auch in den Fällen, in denen nach seiner Überzeugung kein genügender Anlaß zur Anklageerhebung bestand, […] alternativ dazu einen Antrag auf Eröffnung der Hauptverhandlung zu stellen“ (Hankel 2003: 66). Von vornherein aussichtslose Prozesse gleichwohl eröffnen zu können, diente der Entschärfung innen- und außenpolitischer Probleme und war u.a. die Basis einer Absprache zwischen Justiz- und Wehrministerium, dass sich Prozesse, die wahrscheinlich mit einer Verurteilung ausgingen, mit Prozessen abwechseln sollten, in denen Freisprüche zu erwarten war.

Die Hauptverhandlungen

Das erste Verfahren vor dem Leipziger Reichsgericht begann am 10. Januar 1921. Drei ehemalige Pioniere standen vor Gericht, denen vorgeworfen wurde, Ende Oktober 1918 in einem belgischen Gasthaus 800 Mark und einige Wertgegenstände mit vorgezogener Waffe entwendet zu haben. Jene drei Pioniere wurden, da sie alle geständig waren, alsbald zu Strafen zwischen 2 und 5 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Auffassung des Reichsgerichts war im vorliegenden Fall der Tatbestand der Plünderung gemäß § 133 Militärstrafgesetzbuch (MStGB) eindeutig erfüllt. Die hohen Strafen und die Verweigerung einer Strafmilderung, da die Tat unter Alkoholeinfluss stattfand, sollte vor allem den Alliierten signalisieren, dass das deutsche Reichsgericht seine Arbeit ernst nahm und durchaus funktionsfähig sei. Dies wird umso offensichtlicher, da keiner dieser drei Angeklagten auf einer alliierten Auslieferungsliste vorzufinden war.

Das eigentlich bemerkenswerte an diesem Fall ist jedoch, dass die Verurteilung aufgrund des Militärstrafrechts erfolgte und auch zur Zeit während des Krieges von einem entsprechenden Militärgericht nahezu ebenso geahndet worden wäre. Obwohl in der Haager Landkriegsordnung von 1907 durchaus ein Plünderungsverbot enthalten war (Art. 28 und 47), war dies nicht Grundlage der Verurteilung. Im vorliegenden Fall handelte es sich nicht um ein Kriegsverbrechen, sondern nach Auffassung des deutschen Militärstrafrechts um ein Verbrechen bei Gelegenheit des Krieges. Jene Art von Verbrechen zu verurteilen war für das Reichsgericht vollkommen unproblematisch, doch „[d]ass Kriegshandlungen völkerrechtliche Grenzen gezogen waren, bei deren Überschreitung eine strafrechtliche Sanktion drohen konnte, hatte in der Vorstellung der deutschen Justiz keinen Platz“.[4] Diese Lücke im deutschen Rechtsverständnis kam während der Leipziger Prozesse voll zum Tragen. Aus diesem Grunde wurde schließlich die einzige bedeutende Neuerung bei den weiteren Prozessen in Leipzig eingeführt. Neben dem bereits zur Anwendung gekommenen MStGB wurde nun auch das zivile Strafgesetzbuch herangezogen. Das zivile Strafrecht wurde so zur Verfolgung und Verurteilung von Kriegsverbrechen genutzt, die das Militärstrafrecht nicht abdeckte, da sich dessen Geltungsbereich nur auf eigentliche Kriegshandlungen oder, wie beispielsweise im vorangegangenen Fall, auf die Truppendisziplin beschränkte. Das MStGB kannte keine völkerrechtswidrigen Kriegsverbrechen, was durch bereits im Krieg verhandelte deutsche Militärgerichtsurteile gegenüber feindlichen Soldaten zum Ausdruck kam.

Das Ergebnis dieser Verfahrensweise während der Leipziger Prozesse war schlussendlich, dass der Begriff „Kriegsverbrechen“ nicht und die damit verbundenen inhaltlichen Bestimmungen nur formal in das deutsche Militärrecht einflossen – wie noch zu zeigen sein wird jedoch mit sehr großen Ausnahmeregelungen und daher letztlich ohne effektive Wirkung. Dieses Versäumnis der deutschen Justiz wurde in der Folgezeit nicht mehr nachhaltig korrigiert, denn als Kriegsverbrechen erneut verhandelt wurden, kam es auf eine deutsche Interpretation hiervon nicht mehr an.

Die Prozessverläufe und die Haltung der Alliierten In der Zeit zwischen Januar 1921 und November 1922 gab es insgesamt nur 17 Verfahren, darunter 11, die die Alliierten verhandelt wissen wollten. Von diesen 11 endeten 4 mit einer recht milden Verurteilung, die restlichen 7 Urteile lauteten auf Freispruch. Dieses Resultat rief bei den Alliierten Protest und große Unzufriedenheit hervor. In diesem Zusammenhang wurde bereits im August 1921 eine interalliierte Kommission gegründet, die sich aus Vertretern Belgiens, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens zusammensetzte, um die Arbeit des Reichsgerichts zu beobachten und beurteilen zu können. Die Kommission fungierte dabei lediglich als eine Art Prozessbeobachter und mischte sich nicht weiter in die Verfahrensabläufe oder den Prozess ein.

Im August 1922 erfolgte aufgrund der bisherigen Prozessverläufe eine offizielle Empfehlung jener Kommission an die jeweiligen alliierten Regierungen und war äußerst weitreichend in ihrer Wirkung. Die Kommission kam einstimmig zu dem Ergebnis, dass das Leipziger Reichsgericht nicht in der Lage war, unvoreingenommen zu verhandeln und die Strafen stets zu gering und der Anteil der Freisprüche insgesamt zu hoch sei.[5] Die betreffenden Staaten nahmen diese Empfehlung zum Anlass und sendeten am 23. August 1922 eine gemeinsame Note an Deutschland, worin die weitere Zusammenarbeit alliierter Behörden mit dem Reichsgericht aufgekündigt wurde. Nur bei jenen Angeklagten, deren Namen auf der Probeliste standen, wurde noch kooperiert, doch in allen anderen Fällen fand keine Übermittlung von Unterlagen mehr statt.[6] Daher stand für die Ermittlungsarbeit des Reichsgerichts fest, dass es keine Verbesserung der Informationslage durch alliierte Dokumente geben und auch nicht zu einer Vernehmung ausländischer Zeugen kommen würde. Das Resultat hieraus war an Deutlichkeit kaum zu überbieten. Als am 17. November 1922 gegen den Angeklagten Max Grüner eine Strafe von zwei Jahren Zuchthaus aufgrund schwerer Plünderung gemäß §§ 129, 133 MStGB verhängt wurde, war dies die letzte Strafe, die das Reichsgericht in einem Urteil verhängte und zugleich die letzte öffentliche Sitzung. Alle weiteren Verfahren fanden nur noch hinter verschlossenen Türen statt.

Zu diesen nichtöffentlichen Verfahren zählte auch das Wiederaufnahmeverfahren gegen zwei Besatzungsmitglieder des U-Bootes U 86 (John Boldt und Ludwig Dithmar) sowie das Verfahren gegen ihren U-Bootkommandanten Helmuth Patzig wegen der Versenkung des englischen Lazarettschiffs Llandowery Castle. Aufgrund einer Vereinbarung von Vertretern des Auswärtigen Amtes, des Reichsjustizministeriums, der Reichsanwaltschaft und der Marineleitung von Juli 1926 sollten diese drei Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden, um eine Kritik aus dem Ausland zu vermeiden. Am 4. Mai 1928 wurde die Verurteilung von Boldt und Dithmar in nichtöffentlicher Sitzung aufgehoben, da eine bloße Tätigkeit als Ausguck noch keine Beihilfe sei. Am 20. März 1931 wurde das Strafverfahren gegen Patzig in nichtöffentlicher Sitzung eingestellt, da laut Auffassung des Reichsgerichts hier das Gesetz über Straffreiheit vom 14. Juli 1928 sowie das dazu ergangene Ausführungsgesetz vom 24. Oktober 1930 Anwendung finden würde. Im Laufe des Strafverfahrens hatte Patzig ausgesagt, er habe am 27. Juni 1918 die Versenkung des Lazarettschiffs befohlen, da dieses das Rote Kreuz zu Unrecht trage. Als er seinen Irrtum bemerkt habe, habe er die Beschießung der Rettungsboote befohlen, damit die alliierte Kriegspropaganda keine Zeugen mehr habe. Durch diesen Ausgang der Strafverfahren gegen Boldt, Dithmar und Patzig blieb der Tod von 234 Menschen ungesühnt.[7]

Die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verfahren wurden meist sehr bald, selbst wenn bereits eine Anklageschrift formuliert war, außer Verfolgung gesetzt. Bis zum Jahre 1927 wurden auf diese Weise ca. 1.700 Fälle ad acta gelegt. Nicht selten erfolgte dabei der Einstellungsbeschluss seitens des Reichsgerichts selbst oder gar aufgrund einer einfachen Verfügung seitens der Staatsanwaltschaft. Weswegen jedoch so viele Verfahren einfach eingestellt wurden, beruhte nicht nur auf der alliierten Informationsverweigerung, sondern auf einem weiteren Sachverhalt, der im Folgenden betrachtet wird.

Alliierte Abwesenheitsverfahren Die interalliierte Kommission zweifelte nicht nur an der Fähigkeit des Reichsgerichts, sondern legte es ferner den betreffenden Staaten nahe, sich nicht weiter auf eine Ahndung von Kriegsverbrechen durch das Reichsgericht zu verlassen und statt dessen eigene Verfahren einzuleiten. Dazu sollte von Art. 228 des Versailler Vertrages Gebrauch gemacht werden, der für eine derartige Situation vorsah, alliierte Gerichte mit der Ahndung der Kriegsverbrechen zu betrauen.[8] In diesem Zusammenhang kam erneut, wie bereits 1920, die Auslieferungsfrage deutscher Kriegsverbrecher auf. Da sich jedoch die Positionen der Beteiligten zwischenzeitlich kaum verändert hatten, kamen die gleichen Differenzen wie damals wieder auf. Frankreich befürwortete nachdrücklich eine neuerliche Auslieferungsforderung deutscher Kriegsverbrecher, aber Großbritannien setzte sich dem wiederum entgegen und konnte sich letztendlich, ebenso wie im Februar 1920, durchsetzen. So teilten schließlich die betreffenden Staaten Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien in der besagten alliierten Note vom 23. August 1922 mit, dass sie sich das Recht vorbehielten, „die der Kriegsverbrechen Beschuldigten selbst vor Gericht zu stellen oder gegen sie, wenn sie ihrer nicht habhaft werden könnten, Verfahren in Abwesenheit durchzuführen“.[9] Mit dieser Formulierung trug man der unrealistischen Forderung nach Auslieferung Rechnung und konnte nun dennoch auf alliierter Seite Prozesse einleiten, ohne dass der Angeklagte persönlich zugegen sein musste.

Für das Vereinigte Königreich kam eine solche Verfahrensweise jedoch überhaupt nicht in Frage – weniger deswegen, weil es eine andere Politik gegenüber Deutschland verfolgte, sondern vielmehr weil es schlichtweg illegal gewesen wäre, da das britische Recht Abwesenheitsverfahren nicht kannte. In Italien bestand zwar formal die Möglichkeit, Abwesenheitsverfahren in die Wege zu leiten, doch war schon an der bisherigen, sehr zögerlichen Ermittlungstätigkeit in Sachen Rechtshilfe für das Leipziger Reichsgericht erkennbar, dass Italien keine solchen Verfahren einleiten würde. Dies sollte sich dann auch wenige Zeit später bewahrheiten.

Lediglich Belgien und Frankreich führten Abwesenheitsprozesse durch, doch waren sie ebenso parteiisch wie die des Leipziger Reichsgerichts. Hierfür spricht allein die Tatsache, dass noch nicht einmal ein Verteidiger für die abwesenden Angeklagten zugelassen wurde und zudem nahezu ausschließlich den Ausführungen der Anklage Glauben geschenkt wurde. Entlastungsbeweise oder in der Wirkung ähnelnde Unterlagen kamen vielfach gar nicht erst zur Sprache. Zwischen August 1922 und Ende 1925 fanden in Frankreich 340 und in Belgien 153 solcher Verfahren statt. In seltenen Fällen erfolgte ein Freispruch, die restlichen Strafen waren sehr hoch und drastisch. Als Gegenreaktion auf die Abwesenheitsverfahren und deren Urteile wurde im gleichen Zeitrahmen auf deutscher Seite beim Leipziger Reichsgericht in den betreffenden Fällen die Ermittlungsarbeit aufgenommen, um sich gegen die belgischen und französischen Behauptungen bzw. Urteile zur Wehr zu setzen. Dies gestaltete sich recht schwierig, da oftmals nur über die knappe Berichterstattung ausländischer Zeitungen in Erfahrung gebracht werden konnte, welche Person zu welcher Strafe verurteilt worden war. Nähere Ausführungen, zum vorgeworfenen Tatbestand etwa, wurden fast nie gemacht.

Weiterhin bestand für die Angeklagten kein Rechtsmittel, es sei denn, sie stellten sich den jeweiligen französischen oder belgischen Behörden, was einer freiwilligen Auslieferung gleichgekommen wäre. In diesem Fall wäre das getroffene Urteil aufgehoben und die Verhandlung komplett neu aufgerollt worden. Hiervon machte jedoch aus ersichtlichem Grund niemand Gebrauch. Vielmehr wurde auf deutscher Seite ein komplett anderer Weg eröffnet: Dem in einem Abwesenheitsverfahren Angeklagten wurde vom Auswärtigen Amt nahegelegt, dem Leipziger Reichsgericht die eigene Darstellung der zur Last gelegten Beschuldigungen abzufassen und gleichzeitig damit verbunden eine Einstellung des Verfahrens auf deutscher Seite zu beantragen. Diesem Einstellungsverlangen kam die Reichsanwaltschaft in allen Fällen nach. Hierdurch hatte sich offenkundig die Rolle des Reichsgerichts komplett gewandelt. War es zuvor, wenngleich auch nur vordergründig, darum bemüht, den alliierten Erwartungen zu entsprechen und Verfahren trotz größerer Defizite und langwieriger Ermittlungen einzuleiten, fungierte es nun als konterkarierendes Instrument in Bezug auf die alliierten Abwesenheitsverfahren.

Rechtliche Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit In der Zeit zwischen beiden Weltkriegen konnte sich z. B. das Völkerrecht weiterentwickeln, wenngleich es insgesamt eine nicht wirklich effektiv bindende Wirkung besaß bzw. entfalten konnte, da keine funktionierende internationale Institution (Völkerbund) mit der Kontrolle seiner Einhaltung vorhanden war. Nicht minder bedeutsam ist, dass in Deutschland bis zum Kriegsausbruch 1939 internationales Kriegsvölkerrecht in nationales Recht umgesetzt worden war. So bildeten die Haager Landkriegsordnung (1907), die 3. Genfer Rot-Kreuz-Konvention und das Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen (beide von 1929) die wichtigsten Regeln im Landkrieg. Um Missverständnisse zu verhindern, sei hierbei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass durch keine der besagten Regelungen bzw. internationalen Vereinbarungen eine juristische Definition des Begriffs „Kriegsverbrechen“ erfolgte oder gar rechtliche Grundlagen für deren spätere Ahndung etabliert wurden. Trotz diesem Umstand waren aber die Soldaten der Wehrmacht, im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg, mit leicht verständlichen Verhaltensgeboten, basierend auf den genannten völkerrechtlichen Bestimmungen im Krieg, in Form von Unterricht, Schulungen, Dienstanweisungen und Befehlen vertraut gemacht worden und sollten diese auch grundlegend befolgen. Das Problem bestand jedoch darin, dass jene Richtlinien sehr leicht außer Kraft gesetzt werden konnten, ohne dass dies mit einer strafrechtlichen Ahndung verbunden gewesen wäre. So lag es beispielsweise in der Macht des rangniedersten Befehlsgebers, sprich Bataillonskommandeurs, jene Richtlinien außer Kraft zu setzen. Daneben galten für spezielle Kampfeinheiten wie z. B. die Waffen-SS oder den SD derartige Konventionen zu keinem Zeitpunkt. Folgerichtig waren insgesamt betrachtet die genannten Verhaltensgebote relativ wirkungslos.

Mit Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion ab Juni 1941 änderte sich darüber hinaus generell das allgemeine Kriegsgeschehen. Der gesamte Inhalt der noch bestehenden Regelungen und Verhaltensweisen für die Wehrmacht wurde generell und grundlegend außer Kraft gesetzt und vollständig durch neue, dem Völkerrecht diametral entgegengesetzte Verhaltensrichtlinien ersetzt. Exemplarisch hierfür stehen sowohl der allgemein bekannte „Kommissarbefehl“ oder in Bezug auf die Behandlung der Zivilbevölkerung der besetzten Ostgebiete ein entsprechender Erlass seitens des Ernährungsministers Herbert Backe. Dieser verwarf völkerrechtliche Grundlagen und leitete bewusst zu Verbrechen an der russischen Zivilbevölkerung an (vgl. Hungerplan).

Abseits vom Landkrieg existierten im Luft- und Seekrieg gar nicht erst derartige Regelungen. Versuche, hierfür völkerrechtliche Gesetze bzw. Normen zu finden, scheiterten bereits 1923. Dort herrschte, wie der Zweite Weltkrieg überaus deutlich zeigen sollte, nach wie vor das Prinzip des Repressalienkriegs. Dies mag u. a. auch der Grund dafür gewesen sein, dass die Bombardements der deutschen Luftwaffe in den Nürnberger Prozessen nicht zur Sprache kamen, abgesehen von der Tatsache, dass die Alliierten durch ihre Zerstörung deutscher Städte sich ihrerseits hätten verantworten müssen.

Literatur Carl Haensel: Der Nürnberger Prozess: Tagebuch eines Verteidigers. Moewig, München 1983, ISBN 3-8118-4330-3. Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburger Edition, Hamburg 2003, ISBN 3-930908-85-9. Gerd Hankel: Deutsche Kriegsverbrechen des Weltkriegs 1914–1918 vor deutschen Gerichten. In: Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert. Darmstadt 2001, S. 85–98. Kai Müller: Oktroyierte Verliererjustiz nach dem Ersten Weltkrieg. In: AVR 39 (2001), S. 202–220. Kai Müller: Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg. In: Bernd-Rüdiger Kern, Adrian Schmidt-Recla (Hrsg.): 125 Jahre Reichsgericht. Duncker & Humblot, Berlin 2006, ISBN 3-428-12105-8, S. 249–264. Friedrich Kaul: Die Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher im Ersten Weltkrieg. In: ZfG. 14, 1966, S. 19–32. Walter Schwegler: Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen als Problem des Friedensschlusses 1919/20. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1982. Dirk von Selle: Prolog zu Nürnberg. Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse vor dem Reichsgericht. In: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte. 3/4, 1997, S. 192–209. Harald Wiggenhorn: Verliererjustiz. Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg. Nomos, ISBN 3-8329-1538-9. Harald Wiggenhorn: Eine Schuld fast ohne Sühne – Erinnerung an die Leipziger Kriegsverbrecherprozessse vor 75 Jahren. Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit aus Hamburg vom 16. August 1996, S. 9–11. Einzelnachweise Hankel 2003, S. 37. Hankel 2003, S. 39 f. Hankel 2003, S. 66. Hankel 2003, S. 92. Vgl. Hankel 2003, S. 488. Vgl. Hankel 2003, S. 487ff. Vgl. zu diesen Verfahren Schwengler 1982, S. 348–350, 354–359. Vgl. Hankel 2003, S. 488. Zitiert nach Hankel 2003, S. 489. Basis dieses Beitrags: „http://de.wikipedia.org/wiki/Leipziger_Prozesse“