Leipziger Prozesse: Unterschied zwischen den Versionen

2.383 Bytes entfernt ,  19:39, 23. Mär. 2022
K
keine Bearbeitungszusammenfassung
K
 
(7 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
Die in den Jahren 1921-1927 auf Geheiß der Siegermächte vor dem Reichsgericht geführten '''Leipziger Prozesse''' dienten der Ahndung deutscher Kriegsverbrechen. Ihr Ergebnis war so unbefriedigend wie spätere Versuche, die Bestrafung von Kriegsverbrechen den Staaten der Tatverdächtigen zu überantworten.   
[[File:Leipzig war crimes trials, first session.jpg|thumb|Leipzig war crimes trials, first session]]Die in den Jahren 1921-1927 auf Geheiß der Siegermächte vor dem Reichsgericht geführten '''Leipziger Prozesse''' dienten der Ahndung deutscher Kriegsverbrechen. In der Zeit zwischen Januar 1921 und November 1922 gab es insgesamt nur 17 Verfahren, darunter 11, die die Alliierten verhandelt wissen wollten. Von diesen 11 endeten 4 mit einer recht milden Verurteilung, die restlichen 7 Urteile lauteten auf Freispruch. Dieses Resultat führte zu Protesten der Alliierten und zur Ermächtigung von Drittstaaten zu Prozessen in Abwesenheite der deutschen Angeklagten. Insgesamt war das Ergebnis der Leipziger Prozesse ebenso ungefriedigend wie es regelmäßig auch spätere Versuche in anderen Ländern waren, die Bestrafung von Kriegsverbrechen den Herkunftsstaaten der Tatverdächtigen zu überlassen.   




Zeile 17: Zeile 17:


== Die Hauptverhandlungen ==
== Die Hauptverhandlungen ==
=== Das erste Verfahren ===
Am 10.01.1921 fanden sich im ersten der Leipziger Prozesse drei ehemalige Pioniere, die auf keiner Auslieferungsliste gestanden hatte, vor Gericht wieder. Weil sie mit gezogener Waffe im Oktober 1918 in einem belgischen Gasthaus Geld und Wertgegenstände entwendet hatten, wurden sie der Plünderung gem. § 133 Militärstrafgesetzbuch für schuldig befunden und zu Gefängnisstrafen zwischen 2 und 5 Jahren verurteilt. Die Verurteilung erfolgte nicht nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 (Art. 28 und 47). Das Gericht sah kein Kriegsverbrechen, sondern ein Verbrechen bei Gelegenheit des Krieges.
Am 10.01.1921 fanden sich drei ehemalige Pioniere, die auf keiner Auslieferungsliste gestanden hatte, vor Gericht wieder. Weil sie mit gezogener Waffe im Oktober 1918 in einem belgischen Gasthaus Geld und Wertgegenstände entwendet hatten, wurden sie der Plünderung gem. § 133 Militärstrafgesetzbuch für schuldig befunden und zu Gefängnisstrafen zwischen 2 und 5 Jahren verurteilt. Die Verurteilung erfolgte nicht nach der Haager Landkriegsordnung von 1907 (Art. 28 und 47). Das Gericht sah kein Kriegsverbrechen, sondern ein Verbrechen bei Gelegenheit des Krieges.


=== Die späteren Verfahren ===
In den weiteren Verfahren kam es nur zu einer juristischen Neuerung: neben dem bereits zur Anwendung gekommenen Militärstrafgesetzbuch wurde nun auch das zivile Reichs-Strafgesetzbuch (RStGB) herangezogen, um Delikte zu erfassen, die vom Militärstrafrecht nicht abgedeckt wurden. Dass hingegen auch Kriegshandlungen "völkerrechtliche Grenzen gezogen waren, bei deren Überschreitung eine strafrechtliche Sanktion drohen konnte, hatte in der Vorstellung der deutschen Justiz keinen Platz“ (Hankel 2003: 92). Einen eigenständigen Begriff von "Kriegsverbrechen" entwickelten die Leipziger Prozesse nicht.  
In den weiteren Verfahren kam es nur zu einer juristischen Neuerung: neben dem bereits zur Anwendung gekommenen Militärstrafgesetzbuch wurde nun auch das zivile Reichs-Strafgesetzbuch (RStGB) herangezogen, um Delikte zu erfassen, die vom Militärstrafrecht nicht abgedeckt wurden. Dass hingegen auch Kriegshandlungen "völkerrechtliche Grenzen gezogen waren, bei deren Überschreitung eine strafrechtliche Sanktion drohen konnte, hatte in der Vorstellung der deutschen Justiz keinen Platz“ (Hankel 2003: 92). Einen eigenständigen Begriff von "Kriegsverbrechen" entwickelten die Leipziger Prozesse nicht.  


In der Zeit zwischen Januar 1921 und November 1922 gab es insgesamt nur 17 Verfahren, darunter 11, die die Alliierten verhandelt wissen wollten. Von diesen 11 endeten 4 mit einer recht milden Verurteilung, die restlichen 7 Urteile lauteten auf Freispruch. Dieses Resultat rief bei den Alliierten Protest und große Unzufriedenheit hervor. In diesem Zusammenhang wurde bereits im August 1921 eine interalliierte Kommission gegründet, die sich aus Vertretern Belgiens, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens zusammensetzte, um die Arbeit des Reichsgerichts zu beobachten und beurteilen zu können. Die Kommission fungierte dabei lediglich als eine Art Prozessbeobachter und mischte sich nicht weiter in die Verfahrensabläufe oder den Prozess ein.
Die Verfahren verliefen nicht zur Zufriedenheit der Alliierten. Im August 1921 gründeten sie eine interalliierte Kommission aus Vertretern Belgiens, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens, um die Arbeit des Reichsgerichts zu beobachten und beurteilen zu können. Im August 1922 kam die Kommission einstimmig zu dem Ergebnis, dass das Leipziger Reichsgericht nicht in der Lage sei, unvoreingenommen zu verhandeln: die Strafen seien stets zu gering und der Anteil der Freisprüche insgesamt zu hoch. Daraufhin kündigten die betreffenden Staaten am 23.08.1922 die weitere Zusammenarbeit mit dem Reichsgericht auf. Nur die Probeliste sollte noch abgearbeitet werden. Ansonsten würden keine Unterlagen mehr übersandt.


Im August 1922 erfolgte aufgrund der bisherigen Prozessverläufe eine offizielle Empfehlung jener Kommission an die jeweiligen alliierten Regierungen und war äußerst weitreichend in ihrer Wirkung. Die Kommission kam einstimmig zu dem Ergebnis, dass das Leipziger Reichsgericht nicht in der Lage war, unvoreingenommen zu verhandeln und die Strafen stets zu gering und der Anteil der Freisprüche insgesamt zu hoch sei. Die betreffenden Staaten nahmen diese Empfehlung zum Anlass und sendeten am 23. August 1922 eine gemeinsame Note an Deutschland, worin die weitere Zusammenarbeit alliierter Behörden mit dem Reichsgericht aufgekündigt wurde. Nur bei jenen Angeklagten, deren Namen auf der Probeliste standen, wurde noch kooperiert, doch in allen anderen Fällen fand keine Übermittlung von Unterlagen mehr statt. Daher stand für die Ermittlungsarbeit des Reichsgerichts fest, dass es keine Verbesserung der Informationslage durch alliierte Dokumente geben und auch nicht zu einer Vernehmung ausländischer Zeugen kommen würde. Das Resultat hieraus war an Deutlichkeit kaum zu überbieten. Als am 17. November 1922 gegen den Angeklagten Max Grüner eine Strafe von zwei Jahren Zuchthaus aufgrund schwerer Plünderung gemäß §§ 129, 133 MStGB verhängt wurde, war dies die letzte Strafe, die das Reichsgericht in einem Urteil verhängte und zugleich die letzte öffentliche Sitzung. Alle weiteren Verfahren fanden nur noch hinter verschlossenen Türen statt.
Das Reichsgericht sah seine Arbeit sabotiert. Die letzte öffentliche Hauptverhandlung endete am 17. November 1922 mit einer Strafe von zwei Jahren Zuchthaus wegen schwerer Plünderung nach §§ 129, 133 MStGB.


Zu diesen nichtöffentlichen Verfahren zählte auch das Wiederaufnahmeverfahren gegen zwei Besatzungsmitglieder des U-Bootes U 86 (John Boldt und Ludwig Dithmar) sowie das Verfahren gegen ihren U-Bootkommandanten Helmuth Patzig wegen der Versenkung des englischen Lazarettschiffs Llandowery Castle. Aufgrund einer Vereinbarung von Vertretern des Auswärtigen Amtes, des Reichsjustizministeriums, der Reichsanwaltschaft und der Marineleitung von Juli 1926 sollten diese drei Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden, um eine Kritik aus dem Ausland zu vermeiden. Am 4. Mai 1928 wurde die Verurteilung von Boldt und Dithmar in nichtöffentlicher Sitzung aufgehoben, da eine bloße Tätigkeit als Ausguck noch keine Beihilfe sei. Am 20. März 1931 wurde das Strafverfahren gegen Patzig in nichtöffentlicher Sitzung eingestellt, da laut Auffassung des Reichsgerichts hier das Gesetz über Straffreiheit vom 14. Juli 1928 sowie das dazu ergangene Ausführungsgesetz vom 24. Oktober 1930 Anwendung finden würde. Im Laufe des Strafverfahrens hatte Patzig ausgesagt, er habe am 27. Juni 1918 die Versenkung des Lazarettschiffs befohlen, da dieses das Rote Kreuz zu Unrecht trage. Als er seinen Irrtum bemerkt habe, habe er die Beschießung der Rettungsboote befohlen, damit die alliierte Kriegspropaganda keine Zeugen mehr habe. Durch diesen Ausgang der Strafverfahren gegen Boldt, Dithmar und Patzig blieb der Tod von 234 Menschen ungesühnt.
== Abwicklung ==
Das Reichsgericht war nunmehre bestrebt, die Fälle ohne großes Aufsehen abzuwickeln. Erstens war man von relevanten Sachinformationen seitens der Alliierten abgeschnitten. Auch war nicht damit zu rechnen, dass es noch möglich sein würde, ausländische Zeugen zu hören. Drittens wollte man auf Justizmängel bei der Aufarbeitung von deutschen Kriegsverbrechen seitens ausländischer Gerichte reagieren.


Die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verfahren wurden meist sehr bald, selbst wenn bereits eine Anklageschrift formuliert war, außer Verfolgung gesetzt. Bis zum Jahre 1927 wurden auf diese Weise ca. 1.700 Fälle ad acta gelegt. Nicht selten erfolgte dabei der Einstellungsbeschluss seitens des Reichsgerichts selbst oder gar aufgrund einer einfachen Verfügung seitens der Staatsanwaltschaft. Weswegen jedoch so viele Verfahren einfach eingestellt wurden, beruhte nicht nur auf der alliierten Informationsverweigerung, sondern auf einem weiteren Sachverhalt, der im Folgenden betrachtet wird.
=== U 86 ===
Zu den nichtöffentlichen Verfahren zählte auch das Wiederaufnahmeverfahren gegen zwei Besatzungsmitglieder des U-Bootes U 86 (John Boldt und Ludwig Dithmar) sowie das Verfahren gegen ihren U-Bootkommandanten Helmuth Patzig wegen der Versenkung des englischen Lazarettschiffs Llandowery Castle. Aufgrund einer Vereinbarung von Vertretern des Auswärtigen Amtes, des Reichsjustizministeriums, der Reichsanwaltschaft und der Marineleitung von Juli 1926 sollten diese drei Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt werden, um Kritik aus dem Ausland zu vermeiden.


== Nachwirkungen ==
Am 4. Mai 1928 wurde die Verurteilung von Boldt und Dithmar in nichtöffentlicher Sitzung aufgehoben, da eine bloße Tätigkeit als Ausguck noch keine Beihilfe sei. Am 20. März 1931 wurde das Strafverfahren gegen Patzig in nichtöffentlicher Sitzung eingestellt, da laut Auffassung des Reichsgerichts hier das Gesetz über Straffreiheit vom 14. Juli 1928 sowie das dazu ergangene Ausführungsgesetz vom 24. Oktober 1930 Anwendung finden würde. Im Laufe des Strafverfahrens hatte Patzig ausgesagt, er habe am 27. Juni 1918 die Versenkung des Lazarettschiffs befohlen, da dieses das Rote Kreuz zu Unrecht trage. Als er seinen Irrtum bemerkt habe, habe er die Beschießung der Rettungsboote befohlen, damit die alliierte Kriegspropaganda keine Zeugen mehr habe. Durch diesen Ausgang der Strafverfahren gegen Boldt, Dithmar und Patzig blieb der Tod von 234 Menschen ungesühnt.


=== Abwesenheitsverfahren ===
===Einstellungen===
Die interalliierte Kommission zweifelte nicht nur an der Fähigkeit des Reichsgerichts, sondern legte es ferner den betreffenden Staaten nahe, sich nicht weiter auf eine Ahndung von Kriegsverbrechen durch das Reichsgericht zu verlassen und statt dessen eigene Verfahren einzuleiten. Dazu sollte von Art. 228 des Versailler Vertrages Gebrauch gemacht werden, der für eine derartige Situation vorsah, alliierte Gerichte mit der Ahndung der Kriegsverbrechen zu betrauen.[8] In diesem Zusammenhang kam erneut, wie bereits 1920, die Auslieferungsfrage deutscher Kriegsverbrecher auf. Da sich jedoch die Positionen der Beteiligten zwischenzeitlich kaum verändert hatten, kamen die gleichen Differenzen wie damals wieder auf. Frankreich befürwortete nachdrücklich eine neuerliche Auslieferungsforderung deutscher Kriegsverbrecher, aber Großbritannien setzte sich dem wiederum entgegen und konnte sich letztendlich, ebenso wie im Februar 1920, durchsetzen. So teilten schließlich die betreffenden Staaten Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien in der besagten alliierten Note vom 23. August 1922 mit, dass sie sich das Recht vorbehielten, „die der Kriegsverbrechen Beschuldigten selbst vor Gericht zu stellen oder gegen sie, wenn sie ihrer nicht habhaft werden könnten, Verfahren in Abwesenheit durchzuführen“.[9] Mit dieser Formulierung trug man der unrealistischen Forderung nach Auslieferung Rechnung und konnte nun dennoch auf alliierter Seite Prozesse einleiten, ohne dass der Angeklagte persönlich zugegen sein musste.
Die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verfahren wurden meist sehr bald, selbst wenn bereits eine Anklageschrift formuliert war, außer Verfolgung gesetzt. Bis zum Jahre 1927 wurden auf diese Weise ca. 1.700 Fälle ad acta gelegt. Nicht selten erfolgte dabei der Einstellungsbeschluss seitens des Reichsgerichts selbst oder gar aufgrund einer einfachen Verfügung seitens der Staatsanwaltschaft.


Für das Vereinigte Königreich kam eine solche Verfahrensweise jedoch überhaupt nicht in Frage – weniger deswegen, weil es eine andere Politik gegenüber Deutschland verfolgte, sondern vielmehr weil es schlichtweg illegal gewesen wäre, da das britische Recht Abwesenheitsverfahren nicht kannte. In Italien bestand zwar formal die Möglichkeit, Abwesenheitsverfahren in die Wege zu leiten, doch war schon an der bisherigen, sehr zögerlichen Ermittlungstätigkeit in Sachen Rechtshilfe für das Leipziger Reichsgericht erkennbar, dass Italien keine solchen Verfahren einleiten würde. Dies sollte sich dann auch wenige Zeit später bewahrheiten.
Grund dafür waren die sog. Abwesenheitsverfahren durch ausländische Gerichte. Die interalliierte Kommission hatte es den betreffenden Staaten nahe gelegt, sich nicht weiter auf eine Ahndung von Kriegsverbrechen durch das Reichsgericht zu verlassen und statt dessen eigene Verfahren einzuleiten (Art. 228 des Versailler Vertrags).


Lediglich Belgien und Frankreich führten Abwesenheitsprozesse durch, doch waren sie ebenso parteiisch wie die des Leipziger Reichsgerichts. Hierfür spricht allein die Tatsache, dass noch nicht einmal ein Verteidiger für die abwesenden Angeklagten zugelassen wurde und zudem nahezu ausschließlich den Ausführungen der Anklage Glauben geschenkt wurde. Entlastungsbeweise oder in der Wirkung ähnelnde Unterlagen kamen vielfach gar nicht erst zur Sprache. Zwischen August 1922 und Ende 1925 fanden in Frankreich 340 und in Belgien 153 solcher Verfahren statt. In seltenen Fällen erfolgte ein Freispruch, die restlichen Strafen waren sehr hoch und drastisch. Als Gegenreaktion auf die Abwesenheitsverfahren und deren Urteile wurde im gleichen Zeitrahmen auf deutscher Seite beim Leipziger Reichsgericht in den betreffenden Fällen die Ermittlungsarbeit aufgenommen, um sich gegen die belgischen und französischen Behauptungen bzw. Urteile zur Wehr zu setzen. Dies gestaltete sich recht schwierig, da oftmals nur über die knappe Berichterstattung ausländischer Zeitungen in Erfahrung gebracht werden konnte, welche Person zu welcher Strafe verurteilt worden war. Nähere Ausführungen, zum vorgeworfenen Tatbestand etwa, wurden fast nie gemacht.
Angesichts der zwischen den Alliierten bestehenden Differenzen in der Auslieferungsfrage teilten schließlich Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien in der Note vom 23. August 1922 mit, dass sie sich das Recht vorbehielten, die Beschuldigten selbst vor Gericht zu stellen oder - soweiet man ihrer nicht habhaft werden könne - Verfahren in Abwesenheit gegen sie durchzuführen.


Weiterhin bestand für die Angeklagten kein Rechtsmittel, es sei denn, sie stellten sich den jeweiligen französischen oder belgischen Behörden, was einer freiwilligen Auslieferung gleichgekommen wäre. In diesem Fall wäre das getroffene Urteil aufgehoben und die Verhandlung komplett neu aufgerollt worden. Hiervon machte jedoch aus ersichtlichem Grund niemand Gebrauch. Vielmehr wurde auf deutscher Seite ein komplett anderer Weg eröffnet: Dem in einem Abwesenheitsverfahren Angeklagten wurde vom Auswärtigen Amt nahegelegt, dem Leipziger Reichsgericht die eigene Darstellung der zur Last gelegten Beschuldigungen abzufassen und gleichzeitig damit verbunden eine Einstellung des Verfahrens auf deutscher Seite zu beantragen. Diesem Einstellungsverlangen kam die Reichsanwaltschaft in allen Fällen nach. Hierdurch hatte sich offenkundig die Rolle des Reichsgerichts komplett gewandelt. War es zuvor, wenngleich auch nur vordergründig, darum bemüht, den alliierten Erwartungen zu entsprechen und Verfahren trotz größerer Defizite und langwieriger Ermittlungen einzuleiten, fungierte es nun als konterkarierendes Instrument in Bezug auf die alliierten Abwesenheitsverfahren.
Da Verfahren in absentia in Großbritannien nicht erlaubt und in Italien nicht realistisch waren, führten nur Belgien und Frankreich solche Prozesse durch. Diese waren ebenso parteiisch wie die des Leipziger Reichsgerichts:
*es waren keine Verteidiger für die abwesenden Angeklagten zugelassen
*es wurde nahezu ausschließlich den Ausführungen der Anklage Glauben geschenkt *Entlastungsbeweise oder in der Wirkung ähnelnde Unterlagen kamen vielfach gar nicht erst zur Sprache.
*weiterhin bestand für die Angeklagten kein Rechtsmittel, es sei denn, sie stellten sich den jeweiligen französischen oder belgischen Behörden, was einer freiwilligen Auslieferung gleichgekommen wäre.
 
 
Zwischen August 1922 und Ende 1925 fanden in Frankreich 340 und in Belgien 153 solcher Verfahren statt. In seltenen Fällen erfolgte ein Freispruch, die restlichen Strafen waren sehr hoch und drastisch.
 
Als Reaktion auf die Abwesenheitsverfahren und deren Urteile wurde im gleichen Zeitrahmen auf deutscher Seite beim Leipziger Reichsgericht in den betreffenden Fällen die Ermittlungsarbeit aufgenommen, um sich gegen die belgischen und französischen Behauptungen bzw. Urteile zur Wehr zu setzen.  
 
Vielmehr wurde auf deutscher Seite ein komplett anderer Weg eröffnet: Dem in einem Abwesenheitsverfahren Angeklagten wurde vom Auswärtigen Amt nahegelegt, dem Leipziger Reichsgericht die eigene Darstellung der zur Last gelegten Beschuldigungen abzufassen und gleichzeitig damit verbunden eine Einstellung des Verfahrens auf deutscher Seite zu beantragen. Diesem Einstellungsverlangen kam die Reichsanwaltschaft in allen Fällen nach. Hierdurch hatte sich offenkundig die Rolle des Reichsgerichts komplett gewandelt. War es zuvor, wenngleich auch nur vordergründig, darum bemüht, den alliierten Erwartungen zu entsprechen und Verfahren trotz größerer Defizite und langwieriger Ermittlungen einzuleiten, fungierte es nun als konterkarierendes Instrument in Bezug auf die alliierten Abwesenheitsverfahren.


===Rechtliche Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit===
===Rechtliche Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit===
In der Zeit zwischen beiden Weltkriegen konnte sich z. B. das Völkerrecht weiterentwickeln, wenngleich es insgesamt eine nicht wirklich effektiv bindende Wirkung besaß bzw. entfalten konnte, da keine funktionierende internationale Institution (Völkerbund) mit der Kontrolle seiner Einhaltung vorhanden war. Nicht minder bedeutsam ist, dass in Deutschland bis zum Kriegsausbruch 1939 internationales Kriegsvölkerrecht in nationales Recht umgesetzt worden war. So bildeten die Haager Landkriegsordnung (1907), die 3. Genfer Rot-Kreuz-Konvention und das Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen (beide von 1929) die wichtigsten Regeln im Landkrieg. Um Missverständnisse zu verhindern, sei hierbei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass durch keine der besagten Regelungen bzw. internationalen Vereinbarungen eine juristische Definition des Begriffs „Kriegsverbrechen“ erfolgte oder gar rechtliche Grundlagen für deren spätere Ahndung etabliert wurden. Trotz diesem Umstand waren aber die Soldaten der Wehrmacht, im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg, mit leicht verständlichen Verhaltensgeboten, basierend auf den genannten völkerrechtlichen Bestimmungen im Krieg, in Form von Unterricht, Schulungen, Dienstanweisungen und Befehlen vertraut gemacht worden und sollten diese auch grundlegend befolgen. Das Problem bestand jedoch darin, dass jene Richtlinien sehr leicht außer Kraft gesetzt werden konnten, ohne dass dies mit einer strafrechtlichen Ahndung verbunden gewesen wäre. So lag es beispielsweise in der Macht des rangniedersten Befehlsgebers, sprich Bataillonskommandeurs, jene Richtlinien außer Kraft zu setzen. Daneben galten für spezielle Kampfeinheiten wie z. B. die Waffen-SS oder den SD derartige Konventionen zu keinem Zeitpunkt. Folgerichtig waren insgesamt betrachtet die genannten Verhaltensgebote relativ wirkungslos.
In der Zeit zwischen beiden Weltkriegen konnte sich das Völkerrecht weiterentwickeln, wenngleich es insgesamt eine nicht wirklich effektiv bindende Wirkung besaß bzw. entfalten konnte, da keine funktionierende internationale Institution (Völkerbund) mit der Kontrolle seiner Einhaltung vorhanden war.
 
Nicht minder bedeutsam ist, dass in Deutschland bis zum Kriegsausbruch 1939 internationales Kriegsvölkerrecht in nationales Recht umgesetzt worden war. So bildeten die Haager Landkriegsordnung (1907), die 3. Genfer Rot-Kreuz-Konvention und das Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen (beide von 1929) die wichtigsten Regeln im Landkrieg. Um Missverständnisse zu verhindern, sei hierbei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass durch keine der besagten Regelungen bzw. internationalen Vereinbarungen eine juristische Definition des Begriffs „Kriegsverbrechen“ erfolgte oder gar rechtliche Grundlagen für deren spätere Ahndung etabliert wurden. Trotzdem waren die Soldaten der Wehrmacht, im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg, mit leicht verständlichen Verhaltensgeboten, basierend auf den genannten völkerrechtlichen Bestimmungen im Krieg, in Form von Unterricht, Schulungen, Dienstanweisungen und Befehlen vertraut gemacht worden und sollten diese auch grundlegend befolgen. Das Problem bestand jedoch darin, dass jene Richtlinien sehr leicht außer Kraft gesetzt werden konnten, ohne dass dies mit einer strafrechtlichen Ahndung verbunden gewesen wäre. So lag es beispielsweise in der Macht des rangniedersten Befehlsgebers, sprich Bataillonskommandeurs, jene Richtlinien außer Kraft zu setzen. Daneben galten für spezielle Kampfeinheiten wie z. B. die Waffen-SS oder den SD derartige Konventionen zu keinem Zeitpunkt. Folgerichtig waren insgesamt betrachtet die genannten Verhaltensgebote relativ wirkungslos.


Mit Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion ab Juni 1941 änderte sich darüber hinaus generell das allgemeine Kriegsgeschehen. Der gesamte Inhalt der noch bestehenden Regelungen und Verhaltensweisen für die Wehrmacht wurde generell und grundlegend außer Kraft gesetzt und vollständig durch neue, dem Völkerrecht diametral entgegengesetzte Verhaltensrichtlinien ersetzt. Exemplarisch hierfür stehen sowohl der allgemein bekannte „Kommissarbefehl“ oder in Bezug auf die Behandlung der Zivilbevölkerung der besetzten Ostgebiete ein entsprechender Erlass seitens des Ernährungsministers Herbert Backe. Dieser verwarf völkerrechtliche Grundlagen und leitete bewusst zu Verbrechen an der russischen Zivilbevölkerung an (vgl. Hungerplan).
Mit Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion ab Juni 1941 änderte sich darüber hinaus generell das allgemeine Kriegsgeschehen. Der gesamte Inhalt der noch bestehenden Regelungen und Verhaltensweisen für die Wehrmacht wurde generell und grundlegend außer Kraft gesetzt und vollständig durch neue, dem Völkerrecht diametral entgegengesetzte Verhaltensrichtlinien ersetzt. Exemplarisch hierfür stehen sowohl der allgemein bekannte „Kommissarbefehl“ oder in Bezug auf die Behandlung der Zivilbevölkerung der besetzten Ostgebiete ein entsprechender Erlass seitens des Ernährungsministers Herbert Backe. Dieser verwarf völkerrechtliche Grundlagen und leitete bewusst zu Verbrechen an der russischen Zivilbevölkerung an (vgl. Hungerplan).
Zeile 51: Zeile 63:
==Literatur==
==Literatur==
*Carl Haensel: Der Nürnberger Prozess: Tagebuch eines Verteidigers. Moewig, München 1983, ISBN 3-8118-4330-3.
*Carl Haensel: Der Nürnberger Prozess: Tagebuch eines Verteidigers. Moewig, München 1983, ISBN 3-8118-4330-3.
*Gerd Hankel: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburger Edition, Hamburg 2003, ISBN 3-930908-85-9.
*[[Gerd Hankel]]: Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburger Edition, Hamburg 2003, ISBN 3-930908-85-9.
*Gerd Hankel: Deutsche Kriegsverbrechen des Weltkriegs 1914–1918 vor deutschen Gerichten. In: Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert. Darmstadt 2001, S. 85–98.
*Gerd Hankel: Deutsche Kriegsverbrechen des Weltkriegs 1914–1918 vor deutschen Gerichten. In: Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert. Darmstadt 2001, S. 85–98.
*Kai Müller: Oktroyierte Verliererjustiz nach dem Ersten Weltkrieg. In: AVR 39 (2001), S. 202–220.
*Kai Müller: Oktroyierte Verliererjustiz nach dem Ersten Weltkrieg. In: AVR 39 (2001), S. 202–220.
Zeile 61: Zeile 73:
*Harald Wiggenhorn: Eine Schuld fast ohne Sühne – Erinnerung an die Leipziger Kriegsverbrecherprozessse vor 75 Jahren. Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit aus Hamburg vom 16. August 1996, S. 9–11.
*Harald Wiggenhorn: Eine Schuld fast ohne Sühne – Erinnerung an die Leipziger Kriegsverbrecherprozessse vor 75 Jahren. Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit aus Hamburg vom 16. August 1996, S. 9–11.


Basis dieses Beitrags: „http://de.wikipedia.org/wiki/Leipziger_Prozesse“
Überarbeitete Fassung des Beitrags in der de.wikipedia über die [http://de.wikipedia.org/wiki/Leipziger_Prozesse Leipziger Prozesse]