31.738
Bearbeitungen
Tiao (Diskussion | Beiträge) (→U 86) |
Tiao (Diskussion | Beiträge) |
||
Zeile 34: | Zeile 34: | ||
===Einstellungen=== | ===Einstellungen=== | ||
Die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verfahren wurden meist sehr bald, selbst wenn bereits eine Anklageschrift formuliert war, außer Verfolgung gesetzt. Bis zum Jahre 1927 wurden auf diese Weise ca. 1.700 Fälle ad acta gelegt. Nicht selten erfolgte dabei der Einstellungsbeschluss seitens des Reichsgerichts selbst oder gar aufgrund einer einfachen Verfügung seitens der Staatsanwaltschaft | Die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Verfahren wurden meist sehr bald, selbst wenn bereits eine Anklageschrift formuliert war, außer Verfolgung gesetzt. Bis zum Jahre 1927 wurden auf diese Weise ca. 1.700 Fälle ad acta gelegt. Nicht selten erfolgte dabei der Einstellungsbeschluss seitens des Reichsgerichts selbst oder gar aufgrund einer einfachen Verfügung seitens der Staatsanwaltschaft. | ||
Grund dafür waren die sog. Abwesenheitsverfahren durch ausländische Gerichte. Die interalliierte Kommission hatte es den betreffenden Staaten nahe gelegt, sich nicht weiter auf eine Ahndung von Kriegsverbrechen durch das Reichsgericht zu verlassen und statt dessen eigene Verfahren einzuleiten (Art. 228 des Versailler Vertrags). | |||
Angesichts der zwischen den Alliierten bestehenden Differenzen in der Auslieferungsfrage teilten schließlich Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien in der Note vom 23. August 1922 mit, dass sie sich das Recht vorbehielten, die Beschuldigten selbst vor Gericht zu stellen oder - soweiet man ihrer nicht habhaft werden könne - Verfahren in Abwesenheit gegen sie durchzuführen. | |||
Da Verfahren in absentia in Großbritannien nicht erlaubt und in Italien nicht realistisch waren, führten nur Belgien und Frankreich solche Prozesse durch. Diese waren ebenso parteiisch wie die des Leipziger Reichsgerichts: | |||
*es waren keine Verteidiger für die abwesenden Angeklagten zugelassen | |||
*es wurde nahezu ausschließlich den Ausführungen der Anklage Glauben geschenkt *Entlastungsbeweise oder in der Wirkung ähnelnde Unterlagen kamen vielfach gar nicht erst zur Sprache. | |||
*weiterhin bestand für die Angeklagten kein Rechtsmittel, es sei denn, sie stellten sich den jeweiligen französischen oder belgischen Behörden, was einer freiwilligen Auslieferung gleichgekommen wäre. | |||
Zwischen August 1922 und Ende 1925 fanden in Frankreich 340 und in Belgien 153 solcher Verfahren statt. In seltenen Fällen erfolgte ein Freispruch, die restlichen Strafen waren sehr hoch und drastisch. | |||
Als Reaktion auf die Abwesenheitsverfahren und deren Urteile wurde im gleichen Zeitrahmen auf deutscher Seite beim Leipziger Reichsgericht in den betreffenden Fällen die Ermittlungsarbeit aufgenommen, um sich gegen die belgischen und französischen Behauptungen bzw. Urteile zur Wehr zu setzen. | |||
Vielmehr wurde auf deutscher Seite ein komplett anderer Weg eröffnet: Dem in einem Abwesenheitsverfahren Angeklagten wurde vom Auswärtigen Amt nahegelegt, dem Leipziger Reichsgericht die eigene Darstellung der zur Last gelegten Beschuldigungen abzufassen und gleichzeitig damit verbunden eine Einstellung des Verfahrens auf deutscher Seite zu beantragen. Diesem Einstellungsverlangen kam die Reichsanwaltschaft in allen Fällen nach. Hierdurch hatte sich offenkundig die Rolle des Reichsgerichts komplett gewandelt. War es zuvor, wenngleich auch nur vordergründig, darum bemüht, den alliierten Erwartungen zu entsprechen und Verfahren trotz größerer Defizite und langwieriger Ermittlungen einzuleiten, fungierte es nun als konterkarierendes Instrument in Bezug auf die alliierten Abwesenheitsverfahren. | |||
===Rechtliche Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit=== | ===Rechtliche Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit=== | ||
In der Zeit zwischen beiden Weltkriegen konnte sich | In der Zeit zwischen beiden Weltkriegen konnte sich das Völkerrecht weiterentwickeln, wenngleich es insgesamt eine nicht wirklich effektiv bindende Wirkung besaß bzw. entfalten konnte, da keine funktionierende internationale Institution (Völkerbund) mit der Kontrolle seiner Einhaltung vorhanden war. | ||
Nicht minder bedeutsam ist, dass in Deutschland bis zum Kriegsausbruch 1939 internationales Kriegsvölkerrecht in nationales Recht umgesetzt worden war. So bildeten die Haager Landkriegsordnung (1907), die 3. Genfer Rot-Kreuz-Konvention und das Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen (beide von 1929) die wichtigsten Regeln im Landkrieg. Um Missverständnisse zu verhindern, sei hierbei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass durch keine der besagten Regelungen bzw. internationalen Vereinbarungen eine juristische Definition des Begriffs „Kriegsverbrechen“ erfolgte oder gar rechtliche Grundlagen für deren spätere Ahndung etabliert wurden. Trotzdem waren die Soldaten der Wehrmacht, im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg, mit leicht verständlichen Verhaltensgeboten, basierend auf den genannten völkerrechtlichen Bestimmungen im Krieg, in Form von Unterricht, Schulungen, Dienstanweisungen und Befehlen vertraut gemacht worden und sollten diese auch grundlegend befolgen. Das Problem bestand jedoch darin, dass jene Richtlinien sehr leicht außer Kraft gesetzt werden konnten, ohne dass dies mit einer strafrechtlichen Ahndung verbunden gewesen wäre. So lag es beispielsweise in der Macht des rangniedersten Befehlsgebers, sprich Bataillonskommandeurs, jene Richtlinien außer Kraft zu setzen. Daneben galten für spezielle Kampfeinheiten wie z. B. die Waffen-SS oder den SD derartige Konventionen zu keinem Zeitpunkt. Folgerichtig waren insgesamt betrachtet die genannten Verhaltensgebote relativ wirkungslos. | |||
Mit Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion ab Juni 1941 änderte sich darüber hinaus generell das allgemeine Kriegsgeschehen. Der gesamte Inhalt der noch bestehenden Regelungen und Verhaltensweisen für die Wehrmacht wurde generell und grundlegend außer Kraft gesetzt und vollständig durch neue, dem Völkerrecht diametral entgegengesetzte Verhaltensrichtlinien ersetzt. Exemplarisch hierfür stehen sowohl der allgemein bekannte „Kommissarbefehl“ oder in Bezug auf die Behandlung der Zivilbevölkerung der besetzten Ostgebiete ein entsprechender Erlass seitens des Ernährungsministers Herbert Backe. Dieser verwarf völkerrechtliche Grundlagen und leitete bewusst zu Verbrechen an der russischen Zivilbevölkerung an (vgl. Hungerplan). | Mit Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion ab Juni 1941 änderte sich darüber hinaus generell das allgemeine Kriegsgeschehen. Der gesamte Inhalt der noch bestehenden Regelungen und Verhaltensweisen für die Wehrmacht wurde generell und grundlegend außer Kraft gesetzt und vollständig durch neue, dem Völkerrecht diametral entgegengesetzte Verhaltensrichtlinien ersetzt. Exemplarisch hierfür stehen sowohl der allgemein bekannte „Kommissarbefehl“ oder in Bezug auf die Behandlung der Zivilbevölkerung der besetzten Ostgebiete ein entsprechender Erlass seitens des Ernährungsministers Herbert Backe. Dieser verwarf völkerrechtliche Grundlagen und leitete bewusst zu Verbrechen an der russischen Zivilbevölkerung an (vgl. Hungerplan). | ||
Zeile 66: | Zeile 73: | ||
*Harald Wiggenhorn: Eine Schuld fast ohne Sühne – Erinnerung an die Leipziger Kriegsverbrecherprozessse vor 75 Jahren. Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit aus Hamburg vom 16. August 1996, S. 9–11. | *Harald Wiggenhorn: Eine Schuld fast ohne Sühne – Erinnerung an die Leipziger Kriegsverbrecherprozessse vor 75 Jahren. Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit aus Hamburg vom 16. August 1996, S. 9–11. | ||
Überarbeitete Fassung des Beitrags in der de.wikipedia über die [http://de.wikipedia.org/wiki/Leipziger_Prozesse Leipziger Prozesse] |