Labeling Approach: Unterschied zwischen den Versionen

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== Entwicklung des Ansatzes / Hauptakzentuierungen ==
Wegen der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Akzentuierungen der in Fülle parallel zueinander formulierten Ansätze lässt sich auch so etwas wie eine Entwicklung für den L.A. nicht so einfach nachzeichnen. An dieser Stelle können nur –chronologisch nach ihrer Erscheinung- einige Publikationen angeführt werden, mit denen ihre Verfasser dem L.A. seine Hauptakzentuierungen verliehen und insofern seine wesentlichen Grundzüge geprägt haben:
Sein Ursprung wird ganz überwiegend in dem ersten, durch [[Frank Tannenbaum]] formulierten Etikettierungsansatz (1938) gesehen, auch wenn es wohl schon wesentlich früher Hinweise auf genau die Dimensionen gegeben hat, die heute kennzeichnend für die Labeling-Perspektive sind (vgl. Keckeisen, der hier beispielhaft die bereits 1916 gemachte Formulierung des Sozialisten Bonger anführt, dass "Macht eine notwendige Bedingung für diejenigen ist, die ein Verhalten als Verbrechen klassifizieren wollen", vgl. 1976, 35). Während dort jedoch nicht weiter problematisiert, war es Frank Tannenbaum mit dem Aufzeigen des Prozesses der "Schaffung eines Kriminellen" (vgl. 1951, 19f.), der in seiner „Crime and the Community“ erstmals auf die Bedeutung sozialer Reaktionen für abweichendes Verhalten hingewiesen hat.
Populär geworden ist der L.A. jedoch erst wesentlich später durch das Wiederaufgreifen dieser Gedanken durch Edwin M. Lemert und [[Howard S. Becker]] (1951). Welcher der beiden insofern als sein "Wiederentdecker" gilt, ob Lemert mit der erstmaligen Formulierung der für den (gemäßigten) L.A. zentralen Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz oder Becker mit seiner berühmten Formulierung “the deviant is one to whom that label has been successfully applied: deviant behavior is behavior that people so label“ (vgl. 1963, 9), ist strittig. Jedenfalls haben beide etwa zeitgleich ihre Arbeiten publiziert.
In seiner "Social Pathology" (1951) beschreibt Lemert den Prozess der Verfestigung devianter Verhaltensmuster, wie er sich durch die Anpassung der Betroffenen an die ihnen durch die Gesellschaft zugeschriebene Rolle der "Abweichler" vollziehen und dabei in der letzten Konsequenz zur Übernahme einer kriminellen Identität führen kann. Seinen Ausführungen liegen dabei die Annahmen der ganz maßgeblich durch [[George H. Mead]] geprägten Theorie des [[symbolischer Interaktionismus|symbolischen Interaktionismus]] zugrunde.
Dem ursprünglich abweichenden Verhalten einer Person, welches er primäre [[Devianz]] nennt, kommt in seiner Arbeit keine große Bedeutung zu ; die für ihn maßgebliche (sekundäre) Devianz manifestiert sich erst in Handlungen, die der Betroffene in Folge der Reaktionen des sozialen Umfeldes darauf vornimmt. Denn erst diese (Reaktionen) sind es, die dem Betroffenen seinen "abweichenden" Status bewusst machen und dazu führen können, dass er das Bild, von welchem er glaubt, dass es die Gesellschaft von ihm hat, für sich anerkennt und gemäß den Erwartungen an diese Rolle dann weitere Abweichungen zeigt. Die seitens des sozialen Umfeldes in Folge immer stärker werdenden Stigmatisierungen und Ausgrenzungen machen es ihm zunehmend unmöglich, sich diesen Etiketts wieder zu entledigen und drängen ihn soweit in die kriminelle Rolle hinein, bis diese letztlich angenommen wird.
Ähnlich argumentiert auch [[Howard S. Becker|Becker]] in seinem Modell der „abweichenden Laufbahn“ (1951, 1953 zunächst als Teilpublikationen seines späteren Werkes Outsiders - Studies in the Sociology of Deviance erschienen) damit, dass die Erfahrung, als abweichend definiert und als Außenseiter „abgestempelt“ worden zu sein, den Betroffenen zunehmend die Möglichkeiten nehmen, sich normkonform zu verhalten (vgl. 1975,23ff.) Anders als Lemert bezieht er jedoch über den Aspekt der Zuschreibung des Merkmals „Abweichung“ und den sich daraus ergebenen Problemen für die Betroffenen hinaus auch den der Normsetzung in seine Überlegungen mit ein, was dem L.A. erst seine eigentliche „gesellschaftspolitische Sprengkraft“ verliehen hat:
Seinen Ausführungen nach enthält keine Verhaltensweise per se die Qualität „Abweichung“. Eben diese werden erst dadurch erzeugt, dass bestimmte soziale Gruppen „die Regeln, deren Verletzung Abweichung konstituiert, formulieren und indem sie diese Regeln auf einzelne Individuen anwenden und diese damit als Außenseiter kennzeichnen“ (vgl. 1975, 9). Mit dem Hinweis darauf, dass dabei selektiv vorgegangen wird, indem gleichartige Verhaltensweisen situations- und personenspezifisch unterschiedlich – als entweder abweichend oder nicht-abweichend – definiert werden und es nur bestimmte Mitglieder einer Gesellschaft sind, deren gesellschaftliche Stellung ihnen die erforderlichen „Waffen“ und Macht zur Setzung und Durchsetzung von Normen verleiht (vgl. 1975,22) erweiterte er den L.A. um seine gesellschaftspolitische Dimension.
Eine in diesem Zusammenhang weitere wichtige Unterscheidung bzgl. mikro- und makrosoziologischer Aspekte nahmen wenig später John I. Kitsuse und Kai T. Erikson vor, indem sie in ihren Ansätzen (1963) aufzeigten, wie solche zunächst durch einzelne Personen (-gruppen) vorgenommene Etikettierungen später auch von den formellen Kontrollinstanzen übernommen werden können.
Die Ende der 60er- Anfang der 70er - Jahre erfolgte Rezeption des L.A. in Deutschland ist der Verdienst von [[Fritz Sack]] mit der Formulierung seines radikalen Ansatzes (1968). Als „radikal“ deswegen bezeichnet, weil er im Gegensatz zu anderen Vertretern jede Ursachenforschung ablehnt und ausschließlich auf Definitions- und Zuschreibungsprozesse der Gesellschaft als Grund für das Auftreten von Kriminalität in der Gesellschaft abstellt.
Seinen Annahmen, die er 1968 als „Neue Perspektiven in der Kriminologie“ vorgestellte, liegen die v.a. durch Harold Garfinkel, Aaron V. Cicourel und Harvey Sacks geprägten Grundzüge der Ethnomethodologie zugrunde, welche ihrerseits die der Phänomenologie von Alfred Schütz mit denen des [[symbolischer Interaktionismus|symbolischen Interaktionismus]] verbindet.
Vorangestellt wird die Behauptung, dass abweichendes Verhalten ubiquitär, d.h. gleichmäßig über alle Bevölkerungsschichten verteilt, also eine normale Erscheinung ist und erst durch die Instanzen der sozialen Kontrolle die Entscheidung getroffen wird, wem das Attribut „abweichend“ tatsächlich zugeschrieben wird.
Dabei sind es nicht ausschließlich, aber vor allem die formellen Kontrollinstanzen und hier die Gerichte, die den Angeklagten mit ihren Urteilen diesen (neuen) Status verleihen und insofern als „tatsachenerzeugende Instanzen“ zu qualifizieren sind (vgl. 1968, 465). Da die Bewertung eines Verhaltens als „abweichend“ immer auch entscheidend von der Interpretation des Geschehens durch die Parteien eines Rechtsstreites (mit-) beeinflusst wird, den Normen des Strafgesetzbuches insofern kein eigenständiges Definitionspotential zukommen kann und die Zuweisung in kriminelle Rollen hinein nach bestimmten soziologischen Regelmäßigkeiten abläuft, plädiert Sack dafür, Kriminalität nicht als ein Verhalten, sondern als ein „negatives Gut“ analog zu den positiven Gütern wie Vermögen oder Einkommen zu verstehen (1968,469f.). Dabei sind es die Personen, die aus schlechten sozialen Verhältnissen stammen, die seiner Meinung nach eher damit rechnen müssen, von anderen als abweichend bzw. als kriminell definiert zu werden, als dies bei Personen höherer Schichten der Fall wäre (vgl.1968,472f.).
Wie schon angedeutet, hat es eine Vielzahl weiterer Publikationen gegeben, in denen die oben aufgezeigten Grundzüge übernommen und mehr oder weniger abgewandelt worden sind, die in diesem Artikel nicht berücksichtigt werden können.
Als weiterer deutscher Vertreter soll hier nur noch Stephan Quensel genannt werden, der unter dem Titel "Wie wird man kriminell?" den Labeling-Gedanken mit psychoanalytischen und sozialisationstheoretischen Überlegungen verbunden hat (vgl. 1970, 377ff.). Ausgangspunkt in seinem achtstufigen Modell bildet die Annahme, dass delinquentes wie kriminelles Verhalten von Jugendlichen immer der Versuch ist, ein bestehendes Problem zu lösen (1970,377.). Bleibt dieses (ursprüngliche) Problem ungelöst und kommt es infolge weiterer Abweichungen zu stärkeren Stigmatisierungen, verfestigt sich die kriminelle Karriere. Der Prozess der Kriminalisierung wird dabei je eher und wahrscheinlicher eintreten bzw. voranschreiten, desto stärker die Sozialisationsbelastungen und -bedingungen des Jugendlichen sind, desto früher dessen kriminelle Karriere begonnen hat und desto später dabei das (ursprüngliche) Problem erkannt wurde sowie je fehlgeschlagener die Reaktion auf die Abweichung ausgefallen ist.




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