Kriminologie und Geschichte: Unterschied zwischen den Versionen

keine Bearbeitungszusammenfassung
 
Zeile 1: Zeile 1:
Manche Wissenschaften sind undenkbar ohne die historische Dimension ihres Gegenstands. Die akademische Beschäftigung mit Literatur, Kunst und Musik zum Beispiel ist ohne die historische Dimension - ohne Literaturgeschichte, Kunst- und Musikgeschichte - gar nicht vorstellbar. Demgegenüber spielt diese historische Dimension in der Kriminologie eine völlig nebensächliche, untergeordnete, um nicht zu sagen: fast gar keine Rolle.  
Manche Wissenschaften sind undenkbar ohne die historische Dimension ihres Gegenstands. Die akademische Beschäftigung mit Literatur, Kunst und Musik zum Beispiel ist ohne die historische Dimension - ohne Literaturgeschichte, Kunst- und Musikgeschichte - gar nicht vorstellbar. Demgegenüber spielt sie in der Kriminologie so gut wie keine Rolle. Vielleicht sind es die Handlungszwänge der Aktualität, welche die Kriminologie an der kurzen Leine der Gegenwart halten. Jedenfalls ist sie eine Gegenwartswissenschaft par excellence.  


Vielleicht sind es die Handlungszwänge der Aktualität, welche die Kriminologie an der kurzen Leine der Gegenwart halten. Jedenfalls ist sie eine Gegenwartswissenschaft par excellence.
Denn Kriminologen erforschen die Jugenddelinquenz, den Strafvollzug, Computer-, Umwelt-, Wirtschafts- und Finanzmarktskriminalität und sie tun dies hier und heute, geleitet von dem Comte'schen Interesse des ''savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir''. Ihre Ziele sind praktischer-kriminalpolitischer Natur. Sie wollen die Rationalität und Effizienz, auch die Humanität des Systems sozialer Kontrolle verbessern, wollen herausfinden, welche Präventionsprogramme und welche Sanktionen funktionieren und welche nicht. Nicht umsonst lautet der Titel eines vielzitierten Werkes von Lawrence Sherman aus dem Jahre 1998: ''Preventing Crime: What works, what doesn't, what's promising?'' - Eine Überschrift, die man getrost über alle Anstrengungen in dieser Disziplin setzen könnte: Was funktioniert im Hinblick auf unseren Umgang mit Abweichung und Kriminalität, was funktioniert nicht so wie gewollt - und was ließe sich ändern?
 
Kriminologen erforschen die Jugenddelinquenz, den Strafvollzug, Computer-, Umwelt-, Wirtschafts- und Finanzmarktskriminalität und sie tun dies hier und heute, geleitet von dem Comte'schen Interesse des ''savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir''. Ihre Ziele sind praktischer-kriminalpolitischer Natur. Sie wollen die Rationalität und Effizienz, auch die Humanität des Systems sozialer Kontrolle verbessern, wollen herausfinden, welche Präventionsprogramme und welche Sanktionen funktionieren und welche nicht. Nicht umsonst lautet der Titel eines vielzitierten Werkes von Lawrence Sherman aus dem Jahre 1998: ''Preventing Crime: What works, what doesn't, what's promising?'' - Eine Überschrift, die man getrost über alle Anstrengungen in dieser Disziplin setzen könnte: Was funktioniert im Hinblick auf unseren Umgang mit Abweichung und Kriminalität, was funktioniert nicht so wie gewollt - und was ließe sich ändern?


Im Kern ihres Faches fühlen sich Kriminologen auf so etwas wie Geschichte nicht angewiesen. Ihre Beziehung zur Geschichte lässt sich am treffendsten als Nicht-Verhältnis charakterisieren.  
Im Kern ihres Faches fühlen sich Kriminologen auf so etwas wie Geschichte nicht angewiesen. Ihre Beziehung zur Geschichte lässt sich am treffendsten als Nicht-Verhältnis charakterisieren.  


Früher war dieses Nicht-Verhältnis ultrastabil. Der Grund: das Desinteresse war auf beiden Seiten des Grabens, sowohl bei der Kriminologie als auch bei der Geschichtswissenschaft, tief verankert. Es beruhte auf Gegenseitigkeit.
Früher war dieses Nicht-Verhältnis sogar ultrastabil. Denn erstens war das Desinteresse ein gegenseitiges, und zweitens war es zumindest auf seiten der Kriminologie durch mehr als nur einen Faktor bedingt.  


Die Geschichtswissenschaft pflegte sich früher mehr für den Aufstieg und Fall großer Reiche und großer Herrscher mit ihren Siegen und Niederlagen, Kriegserklärungen und Friedensschlüssen zu interessieren als für Straftaten und ihre Verfolgung. Dem Historiker Gerd Schwerhoff (2011: 1) zufolge taten sich die Historiker jedenfalls die meiste Zeit sehr schwer mit solchen Gegenständen, so dass es zumindest "im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten (waren), die sich mit Kriminalität beschäftigten."
Die Geschichtswissenschaft pflegte sich früher mehr für den Aufstieg und Fall großer Reiche und großer Herrscher mit ihren Siegen und Niederlagen, Kriegserklärungen und Friedensschlüssen zu interessieren als für Straftaten und ihre Verfolgung. Dem Historiker Gerd Schwerhoff (2011: 1) zufolge taten sich die Historiker jedenfalls die meiste Zeit sehr schwer mit solchen Gegenständen, so dass es zumindest "im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten (waren), die sich mit Kriminalität beschäftigten."


Die Verbrechensforscher hatten ihrerseits mit der Geschichte nichts am Hut. Und sie wollten es auch überhaupt nicht. Nehmen wir die Zeit, in der das erste Mal der Begriff der Kriminologie auftauchte. Das war 1885 in Italien: ein Verlag veröffentlichte das Buch ''Criminologia'' des neapolitanischen Staatsanwalts [[Raffaele Garofalo]].


In gewissem Sinne war der Beginn kriminologischer Wissenschaft nicht nur a-historisch orientiert, sondern geradezu anti-historisch. Als der neapolitanische Staatsanwalt [[Raffaele Garofalo]] im Jahre 1885 das erste Lehrbuch mit dem Titel ''Criminologia'' publizierte (und damit diesen Begriff überhaupt erst prägte, rund 30 Jahre vor der Errichtung kriminologischer Institute, Lehrstühle und anderer wesentlicher Bestandteile einer akademisch etablierten Disziplin), war die Beziehung zwischen den beiden Disziplinen ein geradezu perfektes ''Nicht-Verhältnis''.
Damit war der Begriff in der Welt, wenn auch noch völlig unbekannt - und rund 30 Jahre vor der Errichtung kriminologischer Institute, Lehrstühle und anderer wesentlicher Bestandteile einer akademisch etablierten Disziplin.  
 


Die ''in statu nascendi'' begriffene Kriminologie war Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur deshalb uninteressiert an der Gesellschafts-Geschichte, weil sie mit der Gegenwart der Massenkriminalität einschließlich der damals virulenten politischen Kriminalität insbesondere seitens der sogenannten "gefährlichen Klassen", der "classes dangereuses", alle Hände voll zu tun hatte - die Welle politischer Verbrechen, die damals über ganz Europa und die USA hinweg sich ergoss, ist heute ja weitgehend vergessen: dass es 1883 ein Attentat auf den deutschen Kaiser gegeben hatte, dass 1892 in Amerika fünfhundert und in Europa mehr als tausend Sprengstoff-Attentate registriert wurden, dass 1894 der französische Präsident, 1898 die österreichische Kaiserin Elisabeth, 1900 der italienische König Umberto Opfer von Attentaten geworden waren und so weiter und so fort ... - sondern vor allem, weil ihre wichtigste Bezugswissenschaft zur damaligen Zeit nicht die Gesellschafts-, sondern die Naturgeschichte war.
Und schon begann ein geradezu klassisches ''Nicht-Verhältnis''. Die ''in statu nascendi'' begriffene Kriminologie hatte alle Hände voll zu tun mit der Gegenwart der Massenkriminalität einschließlich der damals in hohem Maße virulenten politischen Delikte, die heute weitgehend vergessen sind - man denke daran, dass es 1883 ein Attentat auf den deutschen Kaiser gegeben hatte, dass 1892 in Amerika fünfhundert und in Europa mehr als tausend Sprengstoff-Attentate registriert wurden, dass 1894 der französische Präsident, 1898 die österreichische Kaiserin Elisabeth, 1900 der italienische König Umberto Opfer von Attentaten geworden waren und so weiter und so fort. Vor allem aber hätten es keine zehn Pferde geschafft, die Verbrechensforscher der damaligen Zeit von Nutzen der Geschichte für ihre Disziplin zu überzeugen.  


Wie es vor kurzem der Historiker Peter Becker (2002) in seinem Buch ''Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis'' zeigte, war die Abwendung vom moralischen, sozialen und historischen Denken hin zum naturwissenschaftlichen geradezu das Markenzeichen der beginnenden Ambitionen der damaligen Zeit, nunmehr auf wissenschaftliche Art und Weise über Verbrechen und Strafen nachzudenken. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war das dominierende Erzählmuster das er moralischen Verderbnis. Ein ursprünglich ehrlicher, in Familie und Gemeinde integrierter, fleißiger Mann kommt durch den Alkohol, das Glücksspiel, durch sexuelle Versuchungen oder andere Schwächen seines Charakters vom rechten Wege ab und gleitet in die Welt der Unehrlichkeit und des Verbrechens ab. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts dann gewinnt ein anderes Erzählmuster die Oberhand, wenn es um die Frage nach den Ursachen des Verbrechens geht. 1859 publiziert Charles Darwin ''The Origin of Species''. Nun taucht der Gedanke der Anlage zum Verbrechen aufgrund biologischer Faktoren auf: und es wurde geradezu um Ausweis einer wissenschaftlichen Erklärung, dass sie einem naturwissenschaftlichen Ansatz folgte. Zur Auswahl standen vor allem die seit 1857 von [http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A9n%C3%A9dict_Augustin_Morel Bénédict Auguste Morel] propagierte Degenerationstheorie und die aus den 1870er Jahren stammende Atavismustheorie Lombrosos; weit abgeschlagen fanden sich die Lyoner Schule von Alexandre Lacassagne ("Die Gesellschaften haben die Verbrechen, die sie verdienen") und die Imitationstheorie von Gabriel Tarde, geschweige denn die Erklärungen der sogenannten Moralstatistiker wie Adolphe Quetelet und Andé-Michel Guerry.  
Sie hätten sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt. Denn für sie war Wissenschaft gleich Naturwissenschaft, und die Ursachen der Kriminalität waren nicht über die Historie zu ermitteln, sondern über die Identifikation körperlicher Merkmale und die Katalogisierung und Interpretation solcher Unterschiede zwischen "Verbrechermenschen" einerseits und rechtstreuen Bürgern andererseits. Das war das große, das epochale Projekt der Wissenschaft vom Verbrechen und von den Verbrechern: weg von den moralisch und sozial grundierten Narrativen hin zur empirischen Erfassung eindeutiger körperlicher Merkmale der unterschiedlichen Verbrechertypen.


Gegen Ende des 19. Jahrhunderts befand sich die Kriminologie auf der Suche nach äußerlich erkennbaren Tätertypen. Und auch wenn es stimmt, dass die Theorien des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen [[Cesare Lombroso]] mehrheitlich auf Ablehnung stießen (Baer, Näke, v. Liszt), so ging von dem Gedanken einer irgendwie prädeterminierten Delinquenz doch die bei weitem größte Anziehungskraft aus.  
Wie Peter Becker (2002) in seinem Buch ''Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis'' zeigte, war die Abwendung vom moralischen, sozialen und historischen Denken hin zum naturwissenschaftlichen geradezu das Markenzeichen der beginnenden Ambitionen der damaligen Zeit, nunmehr auf wissenschaftliche Art und Weise über Verbrechen und Strafen nachzudenken. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war das dominierende Erzählmuster das er moralischen Verderbnis. Ein ursprünglich ehrlicher, in Familie und Gemeinde integrierter, fleißiger Mann kommt durch den Alkohol, das Glücksspiel, durch sexuelle Versuchungen oder andere Schwächen seines Charakters vom rechten Wege ab und gleitet in die Welt der Unehrlichkeit und des Verbrechens ab. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts dann gewinnt ein anderes Erzählmuster die Oberhand, wenn es um die Frage nach den Ursachen des Verbrechens geht. 1859 publiziert Charles Darwin ''The Origin of Species''. Nun taucht der Gedanke der Anlage zum Verbrechen aufgrund biologischer Faktoren auf: und es wurde geradezu um Ausweis einer wissenschaftlichen Erklärung, dass sie einem naturwissenschaftlichen Ansatz folgte. Zur Auswahl standen vor allem die seit 1857 von [http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A9n%C3%A9dict_Augustin_Morel Bénédict Auguste Morel] propagierte Degenerationstheorie und die aus den 1870er Jahren stammende Atavismustheorie Lombrosos; weit abgeschlagen fanden sich die Lyoner Schule von Alexandre Lacassagne ("Die Gesellschaften haben die Verbrechen, die sie verdienen") und die Imitationstheorie von Gabriel Tarde, geschweige denn die Erklärungen der sogenannten Moralstatistiker wie Adolphe Quetelet und Andé-Michel Guerry.  


Lombroso, der seine wichtigsten Werke zwischen 1876 und 1909 veröffentlichte, war bekanntlich zu der Überzeugung gelangt, dass manche Menschen zwar aufgrund von sozialen Umständen oder Zufällen zu Straftätern würden, dass aber die wirklichen Verbrecher von der Natur dazu bestimmt worden seien. Die "geborenen Verbrecher" (Enrico Ferri) unterschieden sich von normalen Menschen durch körperliche Merkmale. Biologisch sei der ''homo delinquens'', bzw. der ''homo criminalis'' eine Unterart des ''homo sapiens'', und zwar Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts, bzw. eines evolutionären Rückschlags, auch [http://de.wikipedia.org/wiki/Atavismus Atavismus] genannt.
Und auch wenn es stimmt, dass die Theorien des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen [[Cesare Lombroso]] mehrheitlich auf Ablehnung stießen (Baer, Näke, v. Liszt), so ging von dem Gedanken einer irgendwie prädeterminierten Delinquenz doch die bei weitem größte Anziehungskraft aus. Lombroso, der seine wichtigsten Werke zwischen 1876 und 1909 veröffentlichte, war bekanntlich zu der Überzeugung gelangt, dass manche Menschen zwar aufgrund von sozialen Umständen oder Zufällen zu Straftätern würden, dass aber die wirklichen Verbrecher von der Natur dazu bestimmt worden seien. Die "geborenen Verbrecher" (Enrico Ferri) gehörten zu einer Unterart des ''homo sapiens'' namens ''homo delinquens'', bzw. ''homo criminalis''. Dieser Verbrechermenschentypus war Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts, bzw. eines evolutionären Rückschlags, [http://de.wikipedia.org/wiki/Atavismus Atavismus] genannt.


Nach seiner eigenen, später von seiner Tochter und Mitarbeiterin Gina noch ausgeschmückten, Darstellung machte Lombroso diese Entdeckung im Jahre 1872, als er die Hirnschale eines damals berühmt-berüchtigten Räubers namens [[Giuseppe Villella]] in Händen hielt. Dieser Totenschädel war anders als die anderen: da waren "die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen", wie sie nur "bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden", das alles wiederum gepaart mit dem, was man über die Verbrecher sowieso schon wusste, sich aber nicht erklären konnte: "die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen" - all dies fügte sich beim Anblick dieses Verbrecherschädels zu einer neuartigen Erkenntnis: "Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt." Lombroso und seinen Mitstreitern gelang es sogar, den Typus des Diebes vom Typus des Vergewaltigers und diesen vom Typus des Mörders aufgrund körperlicher Merkmale zu unterscheiden. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)): „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefädelt und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“
Entdeckt hatte Lombroso den Verbrechermenschen nach seiner eigenen (von seiner Tochter und Mitarbeiterin Gina noch ausgeschmückten) Darstellung, als er 1872 den Schädel des berühmt-berüchtigten Sozialrebellen und Banditen [[Giuseppe Villella]] in Händen hielt. Dieser Totenschädel war anders als die anderen: da waren "die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen", wie sie nur "bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden", das alles wiederum gepaart mit dem, was man über die Verbrecher sowieso schon wusste, sich aber nicht erklären konnte: "die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen" - all dies fügte sich beim Anblick dieses Verbrecherschädels zu einer neuartigen Erkenntnis: "Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt." Lombroso und seinen Mitstreitern gelang es sogar, den Typus des Diebes vom Typus des Vergewaltigers und diesen vom Typus des Mörders aufgrund körperlicher Merkmale zu unterscheiden. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)): „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefädelt und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“


Die Vorstellung, dass äußere Merkmale wie eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen auf eine atavistische, d.h. niedrigere und gewalttätigere Anlage zum Verbrecher hindeuteten, und dass Verbrecher mit den aggressiveren, nicht kulturell domestizierten Vorfahren des heutigen Menschen durch eine direkte Verwandtschaft verbunden seien, fördert nun offensichtlich nicht gerade das Interesse an der Geschichte im Sinne einer idiographischen Wissenschaft. Die einzige Geschichte, für die man sich interessierte, war eben nicht die Ereignisgeschichte, die es "mit individuellen Vorgängen und Zuständen der geschichtlichen Welt" (Wieacker 1967: 17) zu tun hat, sondern die der Entstehung biologischer "Entartungen".
Die Vorstellung, dass äußere Merkmale wie eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen auf eine atavistische, d.h. niedrigere und gewalttätigere Anlage zum Verbrecher hindeuteten, und dass Verbrecher mit den aggressiveren, nicht kulturell domestizierten Vorfahren des heutigen Menschen durch eine direkte Verwandtschaft verbunden seien, fördert nun offensichtlich nicht gerade das Interesse an der Geschichte im Sinne einer idiographischen Wissenschaft. Die einzige Geschichte, für die man sich interessierte, war eben nicht die Ereignisgeschichte, die es "mit individuellen Vorgängen und Zuständen der geschichtlichen Welt" (Wieacker 1967: 17) zu tun hat, sondern die der Entstehung biologischer "Entartungen".
31.738

Bearbeitungen