Kriminologie und Geschichte: Unterschied zwischen den Versionen

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Manche Wissenschaften sind undenkbar ohne die historische Dimension ihres Gegenstands. Wissenschaftlich-akademische Erforschung von Literatur, Kunst und Musik erscheinen uns ohne die historische Dimension dieser Gegenstände  geradezu unvorstellbar. Andere Disziplinen hingegen werden von den Handlungszwängen der Aktualität an der kurzen Leine gehalten. Die Kriminologie dürfte sogar zu denjenigen dieser Gegenwartswissenschaften zählen, deren Interesse in ganz besonderem Maße den aktuellen Risiken für Individuen, Staat und Gesellschaft gilt. Kriminologen erforschen die Jugenddelinquenz, den Strafvollzug, Computer-, Umwelt-, Wirtschafts- und Finanzmarktskriminalität und sie tun dies hier und heute, geleitet von dem Comte'schen Interesse des ''savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir''. Ihre Ziele sind praktischer-kriminalpolitischer Natur. Sie wollen die Rationalität und Effizienz, auch die Humanität des Systems sozialer Kontrolle verbessern, wollen herausfinden, welche Präventionsprogramme und welche Sanktionen funktionieren und welche nicht. Nicht umsonst lautet der Titel eines vielzitierten Werkes von Lawrence Sherman aus dem Jahre 1998: ''Preventing Crime: What works, what doesn't, what's promising?'' - Eine Überschrift, die man getrost über alle Anstrengungen in dieser Disziplin setzen könnte: Was funktioniert im Hinblick auf unseren Umgang mit Abweichung und Kriminalität, was funktioniert nicht so wie gewollt - und was ließe sich ändern?
Manche Wissenschaften sind undenkbar ohne die historische Dimension ihres Gegenstands. Die akademische Beschäftigung mit Literatur, Kunst und Musik zum Beispiel ist ohne die historische Dimension - ohne Literaturgeschichte, Kunst- und Musikgeschichte - gar nicht vorstellbar. Demgegenüber spielt sie in der Kriminologie so gut wie keine Rolle. Vielleicht sind es die Handlungszwänge der Aktualität, welche die Kriminologie an der kurzen Leine der Gegenwart halten. Jedenfalls ist sie eine Gegenwartswissenschaft par excellence.  


Im Kern ihres Faches fühlen sich Kriminologen auf so etwas wie Geschichte nicht angewiesen. Und deshalb darf es uns nicht wundern, dass sich zwischen '''Kriminologie und Geschichte''' ebenso wie zwischen '''Geschichte und Kriminologie''' wenig abspielt. Oder besser: abspielte. Denn ein bisschen hat sich inzwischen doch getan: sogar mehr, viel mehr, als man angesichts der Kälte der Anfangszeit zu hoffen gewagt hätte, aber andererseits auch nicht so viel, wie es bräuchte, um das Potential einer historisch aufgeklärten Kriminologie voll zur Entfaltung kommen zu lassen.
Denn Kriminologen erforschen die Jugenddelinquenz, den Strafvollzug, Computer-, Umwelt-, Wirtschafts- und Finanzmarktskriminalität und sie tun dies hier und heute, geleitet von dem Comte'schen Interesse des ''savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir''. Ihre Ziele sind praktischer-kriminalpolitischer Natur. Sie wollen die Rationalität und Effizienz, auch die Humanität des Systems sozialer Kontrolle verbessern, wollen herausfinden, welche Präventionsprogramme und welche Sanktionen funktionieren und welche nicht. Nicht umsonst lautet der Titel eines vielzitierten Werkes von Lawrence Sherman aus dem Jahre 1998: ''Preventing Crime: What works, what doesn't, what's promising?'' - Eine Überschrift, die man getrost über alle Anstrengungen in dieser Disziplin setzen könnte: Was funktioniert im Hinblick auf unseren Umgang mit Abweichung und Kriminalität, was funktioniert nicht so wie gewollt - und was ließe sich ändern?


In gewissem Sinne war der Beginn kriminologischer Wissenschaft nicht nur a-historisch orientiert, sondern geradezu anti-historisch. Als der neapolitanische Staatsanwalt [[Raffaele Garofalo]] im Jahre 1885 das erste Lehrbuch mit dem Titel ''Criminologia'' publizierte (und damit diesen Begriff überhaupt erst prägte, rund 30 Jahre vor der Errichtung kriminologischer Institute, Lehrstühle und anderer wesentlicher Bestandteile einer akademisch etablierten Disziplin), war die Beziehung zwischen den beiden Disziplinen ein geradezu perfektes ''Nicht-Verhältnis''.
Im Kern ihres Faches fühlen sich Kriminologen auf so etwas wie Geschichte nicht angewiesen. Ihre Beziehung zur Geschichte lässt sich am treffendsten als Nicht-Verhältnis charakterisieren.  


Dieses Nicht-Verhältnis war stabil, weil es auf einem intensiven beiderseitigen Desinteresse beruhte. Die Geschichtswissenschaft interessierte sich 1885 mehr für den Aufstieg und Fall großer Reiche und großer Herrscher mit ihren Siegen und Niederlagen, Kriegserklärungen und Friedensschlüssen. Es bedurfte also der Wende hin zur Alltags-, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, bis diese Disziplin sich für so triviale Dinge wie Straftaten, ihre Verfolgung und Sanktionierung interessierte. Laut Gerd Schwerhoff (2011:1) "taten sich" die Historiker - im Gegensatz etwa zu Juristen und Soziologen - "meist schwer mit dem Thema 'Kriminalität'", so dass es jedenfalls "im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten (waren), die sich mit Kriminalität beschäftigten."
Früher war dieses Nicht-Verhältnis sogar ultrastabil. Denn erstens war das Desinteresse ein gegenseitiges, und zweitens war es zumindest auf seiten der Kriminologie durch mehr als nur einen Faktor bedingt.  


Die ''in statu nascendi'' begriffene Kriminologie war Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur deshalb uninteressiert an der Gesellschafts-Geschichte, weil sie mit der Gegenwart der Massenkriminalität einschließlich der damals virulenten politischen Kriminalität insbesondere seitens der sogenannten "gefährlichen Klassen", der "classes dangereuses", alle Hände voll zu tun hatte - die Welle politischer Verbrechen, die damals über ganz Europa und die USA hinweg sich ergoss, ist heute ja weitgehend vergessen: dass es 1883 ein Attentat auf den deutschen Kaiser gegeben hatte, dass 1892 in Amerika fünfhundert und in Europa mehr als tausend Sprengstoff-Attentate registriert wurden, dass 1894 der französische Präsident, 1898 die österreichische Kaiserin Elisabeth, 1900 der italienische König Umberto Opfer von Attentaten geworden waren und so weiter und so fort ... - sondern vor allem, weil ihre wichtigste Bezugswissenschaft zur damaligen Zeit nicht die Gesellschafts-, sondern die Naturgeschichte war.
Die Geschichtswissenschaft pflegte sich früher mehr für den Aufstieg und Fall großer Reiche und großer Herrscher mit ihren Siegen und Niederlagen, Kriegserklärungen und Friedensschlüssen zu interessieren als für Straftaten und ihre Verfolgung. Dem Historiker Gerd Schwerhoff (2011: 1) zufolge taten sich die Historiker jedenfalls die meiste Zeit sehr schwer mit solchen Gegenständen, so dass es zumindest "im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten (waren), die sich mit Kriminalität beschäftigten."


Wie es vor kurzem der Historiker Peter Becker (2002) in seinem Buch ''Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis'' zeigte, war die Abwendung vom moralischen, sozialen und historischen Denken hin zum naturwissenschaftlichen geradezu das Markenzeichen der beginnenden Ambitionen der damaligen Zeit, nunmehr auf wissenschaftliche Art und Weise über Verbrechen und Strafen nachzudenken. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war das dominierende Erzählmuster das er moralischen Verderbnis. Ein ursprünglich ehrlicher, in Familie und Gemeinde integrierter, fleißiger Mann kommt durch den Alkohol, das Glücksspiel, durch sexuelle Versuchungen oder andere Schwächen seines Charakters vom rechten Wege ab und gleitet in die Welt der Unehrlichkeit und des Verbrechens ab. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts dann gewinnt ein anderes Erzählmuster die Oberhand, wenn es um die Frage nach den Ursachen des Verbrechens geht. 1859 publiziert Charles Darwin The Origin of Species. Nun taucht der Gedanke auf, dass der Mensch vielleicht gar nichts dafür kann, weil er vielleicht aus der Art geschlagen und biologisch dazu verdammt ist, seine verbrecherischen Anlagen auszuleben. Das sollte den Diskurs über das Verbrechen transformieren: die gängigen populären Vorstellungen von der Entstehung von Straftaten und Straftätern beinhalteten immer seltener die überkommenen Bilder der schiefen Ebene, der falschen Bahn, auf die ein zunächst unbescholtener Bürger durch Alkohol, Glücksspiel oder verbotene Sexualität geriet - und immer häufiger die Vorstellung einer biologischen Entartung, einer Degeneration (Morel) oder eines Atavismus (Lombroso), die bestimmten Menschen in die Wiege gelegt war und an der sich nur wenig ändern ließ. Die damaligen wissenschaftlichen Diskurse über Kriminalität waren zwar gespalten, aber die größte Faszination ging zweifellos von denjenigen Forschern aus, die ihre Erklärungsversuche an der biologischen Evolutionstheorie Charles Darwins festmachen konnten.
Die Verbrechensforscher hatten ihrerseits mit der Geschichte nichts am Hut. Und sie wollten es auch überhaupt nicht. Nehmen wir die Zeit, in der das erste Mal der Begriff der Kriminologie auftauchte. Das war 1885 in Italien: ein Verlag veröffentlichte das Buch ''Criminologia'' des neapolitanischen Staatsanwalts [[Raffaele Garofalo]].
 
Damit war der Begriff in der Welt, wenn auch noch völlig unbekannt - und rund 30 Jahre vor der Errichtung kriminologischer Institute, Lehrstühle und anderer wesentlicher Bestandteile einer akademisch etablierten Disziplin.  
 
Und schon begann ein geradezu klassisches ''Nicht-Verhältnis''. Die ''in statu nascendi'' begriffene Kriminologie hatte alle Hände voll zu tun mit der Gegenwart der Massenkriminalität einschließlich der damals in hohem Maße virulenten politischen Delikte, die heute weitgehend vergessen sind - man denke daran, dass es 1883 ein Attentat auf den deutschen Kaiser gegeben hatte, dass 1892 in Amerika fünfhundert und in Europa mehr als tausend Sprengstoff-Attentate registriert wurden, dass 1894 der französische Präsident, 1898 die österreichische Kaiserin Elisabeth, 1900 der italienische König Umberto Opfer von Attentaten geworden waren und so weiter und so fort. Vor allem aber hätten es keine zehn Pferde geschafft, die Verbrechensforscher der damaligen Zeit von Nutzen der Geschichte für ihre Disziplin zu überzeugen.
 
Sie hätten sich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt. Denn für sie war Wissenschaft gleich Naturwissenschaft, und die Ursachen der Kriminalität waren nicht über die Historie zu ermitteln, sondern über die Identifikation körperlicher Merkmale und die Katalogisierung und Interpretation solcher Unterschiede zwischen "Verbrechermenschen" einerseits und rechtstreuen Bürgern andererseits. Das war das große, das epochale Projekt der Wissenschaft vom Verbrechen und von den Verbrechern: weg von den moralisch und sozial grundierten Narrativen hin zur empirischen Erfassung eindeutiger körperlicher Merkmale der unterschiedlichen Verbrechertypen.


Wendung weg vom Moralischen und Sozialen und Historischen und hin zum Naturwissenschaftlichen , und zwar insbesondere die Evolutionsbiologie, wie sie sich seit 1859, seit der Publikation von Charles Darwins ''The Origin of Species'', darstellte.
Wie Peter Becker (2002) in seinem Buch ''Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis'' zeigte, war die Abwendung vom moralischen, sozialen und historischen Denken hin zum naturwissenschaftlichen geradezu das Markenzeichen der beginnenden Ambitionen der damaligen Zeit, nunmehr auf wissenschaftliche Art und Weise über Verbrechen und Strafen nachzudenken. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war das dominierende Erzählmuster das er moralischen Verderbnis. Ein ursprünglich ehrlicher, in Familie und Gemeinde integrierter, fleißiger Mann kommt durch den Alkohol, das Glücksspiel, durch sexuelle Versuchungen oder andere Schwächen seines Charakters vom rechten Wege ab und gleitet in die Welt der Unehrlichkeit und des Verbrechens ab. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts dann gewinnt ein anderes Erzählmuster die Oberhand, wenn es um die Frage nach den Ursachen des Verbrechens geht. 1859 publiziert Charles Darwin ''The Origin of Species''. Nun taucht der Gedanke der Anlage zum Verbrechen aufgrund biologischer Faktoren auf: und es wurde geradezu um Ausweis einer wissenschaftlichen Erklärung, dass sie einem naturwissenschaftlichen Ansatz folgte. Zur Auswahl standen vor allem die seit 1857 von [http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A9n%C3%A9dict_Augustin_Morel Bénédict Auguste Morel] propagierte Degenerationstheorie und die aus den 1870er Jahren stammende Atavismustheorie Lombrosos; weit abgeschlagen fanden sich die Lyoner Schule von Alexandre Lacassagne ("Die Gesellschaften haben die Verbrechen, die sie verdienen") und die Imitationstheorie von Gabriel Tarde, geschweige denn die Erklärungen der sogenannten Moralstatistiker wie Adolphe Quetelet und Andé-Michel Guerry.  


Zwar wird mit Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass die Theorien des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen [[Cesare Lombroso]] mehrheitlich auf Ablehnung stießen (Baer, Näke, v. Liszt), doch ist ebenso eindeutig nachweisbar, dass die Kriminologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich auf die eine oder andere Weise doch ganz überwiegend auf der Suche nach Tätertypen befand und dass der Gedanke an biologisch (oder anders) prädeterminierte Delinquenz den Diskurs der Disziplin in diesen Jahrzehnten dominierte. Lombroso, der seine wichtigsten Werke zwischen 1876 und 1909 veröffentlichte, war zu der Überzeugung gelangt, dass manche Menschen zwar aufgrund von sozialen Umständen oder Zufällen zu Straftätern würden, dass aber die wirklichen Verbrecher von der Natur dazu bestimmt worden seien. Die "geborenen Verbrecher" (Enrico Ferri) unterschieden sich von normalen Menschen durch körperliche Merkmale. Biologisch sei der ''homo delinquens'', bzw. der ''homo criminalis'' eine Unterart des ''homo sapiens'', und zwar Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts, bzw. eines evolutionären Rückschlags, auch [http://de.wikipedia.org/wiki/Atavismus Atavismus] genannt. Nach seiner eigenen, später von seiner Tochter und Mitarbeiterin Gina noch ausgeschmückten, Darstellung machte Lombroso diese Entdeckung im Jahre 1872, als er die Hirnschale eines damals berühmt-berüchtigten Räubers namens [[Giuseppe Villella]] in Händen hielt. Dieser Totenschädel war anders als die anderen: da waren "die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen", wie sie nur "bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden", das alles wiederum gepaart mit dem, was man über die Verbrecher sowieso schon wusste, sich aber nicht erklären konnte: "die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen" - all dies fügte sich beim Anblick dieses Verbrecherschädels zu einer neuartigen Erkenntnis: "Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt." Lombroso und seinen Mitstreitern gelang es sogar, den Typus des Diebes vom Typus des Vergewaltigers und diesen vom Typus des Mörders aufgrund körperlicher Merkmale zu unterscheiden. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)): „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“
Und auch wenn es stimmt, dass die Theorien des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen [[Cesare Lombroso]] mehrheitlich auf Ablehnung stießen (Baer, Näke, v. Liszt), so ging von dem Gedanken einer irgendwie prädeterminierten Delinquenz doch die bei weitem größte Anziehungskraft aus. Lombroso, der seine wichtigsten Werke zwischen 1876 und 1909 veröffentlichte, war bekanntlich zu der Überzeugung gelangt, dass manche Menschen zwar aufgrund von sozialen Umständen oder Zufällen zu Straftätern würden, dass aber die wirklichen Verbrecher von der Natur dazu bestimmt worden seien. Die "geborenen Verbrecher" (Enrico Ferri) gehörten zu einer Unterart des ''homo sapiens'' namens ''homo delinquens'', bzw. ''homo criminalis''. Dieser Verbrechermenschentypus war Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts, bzw. eines evolutionären Rückschlags, [http://de.wikipedia.org/wiki/Atavismus Atavismus] genannt.


Die Vorstellung, dass äußere Merkmale wie eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen auf eine atavistische, d.h. niedrigere und gewalttätigere Anlage zum Verbrecher hindeuteten, und dass Verbrecher mit den aggressiveren, nicht kulturell domestizierten Vorfahren des heutigen Menschen durch eine direkte Verwandtschaft verbunden seien, fördert nun offensichtlich nicht gerade das Interesse an der Geschichte im Sinne einer idiographischen Wissenschaft, also Ereignisgeschichte, die es "mit individuellen Vorgängen und Zuständen der geschichtlichen Welt" (Wieacker 1967: 17) zu tun hat. Die Geschichte, für die sich die damalige Kriminologie interessierte, war einzig und allein die Geschichte der Entstehung der Arten im Sinne von Darwins ''On the Origin of Species'' (1859).
Entdeckt hatte Lombroso den Verbrechermenschen nach seiner eigenen (von seiner Tochter und Mitarbeiterin Gina noch ausgeschmückten) Darstellung, als er 1872 den Schädel des berühmt-berüchtigten Sozialrebellen und Banditen [[Giuseppe Villella]] in Händen hielt. Dieser Totenschädel war anders als die anderen: da waren "die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen", wie sie nur "bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden", das alles wiederum gepaart mit dem, was man über die Verbrecher sowieso schon wusste, sich aber nicht erklären konnte: "die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen" - all dies fügte sich beim Anblick dieses Verbrecherschädels zu einer neuartigen Erkenntnis: "Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt." Lombroso und seinen Mitstreitern gelang es sogar, den Typus des Diebes vom Typus des Vergewaltigers und diesen vom Typus des Mörders aufgrund körperlicher Merkmale zu unterscheiden. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)): „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefädelt und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“


So sprach denn auch Lombroso zeitlebens, wenn er die von ihm mitbegründete und mit-angeführte Wissenschaft meinte, nicht von der "Kriminologie" oder der "Wissenschaft vom Verbrechen" (Mergen 1961; Baumann 2006: 16), sondern immer nur von der Wissenschaft vom Verbrecher - und die nannte er, um keinen Zweifel an der Leitfunktion der Anthropologie aufkommen zu lassen, ganz bewusst "Kriminalanthropologie" (''antropologia criminale'', ''anthropologie criminelle''). Gewiss gab es daneben noch konkurrierende Ideen - man denke etwa an die seit 1857 von [http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A9n%C3%A9dict_Augustin_Morel Bénédict Auguste Morel] propagierte Degenerationstheorie - oder an Enrico Ferris Kriminalsoziologie, die das Verbrechen ausdrücklich als soziale Erscheinung (1883) untersuchen wollte. Doch so wie einerseits Lombroso durchaus bereit war, auch sozialen Faktoren einen Einfluss zuzugestehen, so war andererseits auch sein Schüler und Freund Ferri - übrigens zugleich Chefredakteur der sozialistischen Parteizeitung ''Avanti!'' und als römischer Professor für ein Dutzende Jahre das Opfer eines politisch motivierten Berufsverbots, das er freilich produktiv zu nutzen wusste - alles andere als ein Kritiker der anthropologischen Schule. Im Gegenteil: er war überzeugt, allein durch den Anblick der Gefangenen, die sich in einem Gefängnishof aufhielten, die Diebe von den Vergewaltigern und diese von den Mördern unterscheiden zu können. So etabliert und so unangreifbar erschien seinerzeit die Lehre von der Existenz eines ''homo criminalis'', bzw. ''uomo delinquente'', also ''Verbrechermenschen'', dass sich niemand mehr über die vielen gedruckten Schautafeln in den Lehrbüchern wunderte, auf denen eine Seite den typischen Betrügern, die nächste den Taschendieben und eine dritte den Mördern gewidmet war.
Die Vorstellung, dass äußere Merkmale wie eine bestimmte Schädelform oder zusammengewachsene Augenbrauen auf eine atavistische, d.h. niedrigere und gewalttätigere Anlage zum Verbrecher hindeuteten, und dass Verbrecher mit den aggressiveren, nicht kulturell domestizierten Vorfahren des heutigen Menschen durch eine direkte Verwandtschaft verbunden seien, fördert nun offensichtlich nicht gerade das Interesse an der Geschichte im Sinne einer idiographischen Wissenschaft. Die einzige Geschichte, für die man sich interessierte, war eben nicht die Ereignisgeschichte, die es "mit individuellen Vorgängen und Zuständen der geschichtlichen Welt" (Wieacker 1967: 17) zu tun hat, sondern die der Entstehung biologischer "Entartungen".


Ob man den Verbrecher nun mit Morel als ein Wesen ansah, bei dem sich die typischen Fähigkeiten des Menschen degenerativ zurückentwickelt hätten, oder aber als Wesen, das im Gegensatz zu seinen unmittelbaren Vorfahren durch eine Laune der Natur so aussah, als stamme es direkt von Vorfahren von einer längst überwundenen Stufe der Evolution ab - in beiden Fällen handelte es sich für die damaligen Zeitgenossen bei der Kriminalität nicht um ein Phänomen der Kultur, sondern der Natur und mithin eben nicht um eine Angelegenheit der Historiographie.
So sprach denn auch Lombroso zeitlebens, wenn er die von ihm mitbegründete und mit-angeführte Wissenschaft meinte, nicht von der "Kriminologie" oder der "Wissenschaft vom Verbrechen" (Mergen 1961; Baumann 2006: 16), sondern immer nur von der Wissenschaft vom Verbrecher - und die nannte er, um keinen Zweifel an der Leitfunktion der Anthropologie aufkommen zu lassen, ganz bewusst "Kriminalanthropologie" (''antropologia criminale'', ''anthropologie criminelle'').


Die prinzipiell anderen Zugänge zur Kriminalitätsfrage in den frühen Jahren der Kriminologie - zu denken ist an Gabriel Tarde (1843-1904) und Alexandre Lacassagne (1843-1924), dessen Ausspruch "Die Gesellschaften haben die Verbrecher, die sie verdienen" ihn jedenfalls in vielfältigen Variationen bis heute überlebte - waren zu schwach, um dem Gedanken an historische Forschungen den Raum und die Gelegenheiten zu verschaffen, praktisch zu werden.  
Gewiss gab es daneben noch konkurrierende Ideen - man denke etwa an - oder an Enrico Ferris Kriminalsoziologie, die das Verbrechen ausdrücklich als soziale Erscheinung (1883) untersuchen wollte. Doch so wie einerseits Lombroso durchaus bereit war, auch sozialen Faktoren einen Einfluss zuzugestehen, so war andererseits auch sein Schüler und Freund Ferri - übrigens zugleich Chefredakteur der sozialistischen Parteizeitung ''Avanti!'' und als römischer Professor für ein Dutzende Jahre das Opfer eines politisch motivierten Berufsverbots, das er freilich produktiv zu nutzen wusste - alles andere als ein Kritiker der anthropologischen Schule. Im Gegenteil: er war überzeugt, allein durch den Anblick der Gefangenen, die sich in einem Gefängnishof aufhielten, die Diebe von den Vergewaltigern und diese von den Mördern unterscheiden zu können. So etabliert und so unangreifbar erschien seinerzeit die Lehre von der Existenz eines ''homo criminalis'', bzw. ''uomo delinquente'', also ''Verbrechermenschen'', dass sich niemand mehr über die vielen gedruckten Schautafeln in den Lehrbüchern wunderte, auf denen eine Seite den typischen Betrügern, die nächste den Taschendieben und eine dritte den Mördern gewidmet war.




== Geschichte des Gegenstands ==
== Geschichte des Gegenstands ==


So war denn die Beziehung zwischen Geschichte und Kriminologie während der längsten Zeit immer noch am treffendsten als Nicht-Verhältnis zu charakterisieren. Und so waren es auch weder die Geschichtswissenschaft stricto sensu noch die Kriminologie, die historische Forschungen über Verbrechen und Strafen zu Beginn des 20. Jahrhunderts voranbrachten. Wer sich solcher Themen gelegentlich annahm, war eher die Rechtsgeschichte. Man denke da an den Kölner Professor für Strafrecht, Zivil- und Strafprozessrecht und zeitweiligen Rektor der Albertus-Magnus-Universität, [[Gotthold Bohne]] (1890-1957) und seine 1922 und 1925 veröffentlichte Habilitationsschrift über die ''Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des 12. bis 16. Jahrhunderts'' - oder an [[Gustav Radbruch]] und seine postum 1951 von Heinrich Gwinner publizierte [http://books.google.de/books?id=-9xJKHLJ_7wC&pg=PA19&lpg=PA19&dq=Geschichte+des+Verbrechens.+Versuch+einer&source=bl&ots=PddZL7yhTh&sig=07OeZkhpOT7WG4EX3839bijBmAs&hl=en&sa=X&ei=tF3IUdjzG_PQ4QSq4YGABw&ved=0CGgQ6AEwBzgK#v=onepage&q=Geschichte%20des%20Verbrechens.%20Versuch%20einer&f=false ''Geschichte des Verbrechens''] mit dem Zusatztitel: ''Versuch einer historischen Kriminologie.''
Bei diesem Nicht-Verhältnis zwischen Geschichte und Kriminologie sollte es auch über die Epoche Lombrosos hinaus bleiben. Die einzigen, die sich der Geschichte der Kriminalität gelegentlich annahmen, waren die Rechtsgeschichtler. Man denke an den Kölner Professor für Strafrecht, Zivil- und Strafprozessrecht und zeitweiligen Rektor der Albertus-Magnus-Universität, [[Gotthold Bohne]] (1890-1957) und seine 1922 und 1925 veröffentlichte Habilitationsschrift über die ''Freiheitsstrafe in den italienischen Stadtrechten des 12. bis 16. Jahrhunderts'' - oder an [[Gustav Radbruch]] und seine postum 1951 von Heinrich Gwinner publizierte [http://books.google.de/books?id=-9xJKHLJ_7wC&pg=PA19&lpg=PA19&dq=Geschichte+des+Verbrechens.+Versuch+einer&source=bl&ots=PddZL7yhTh&sig=07OeZkhpOT7WG4EX3839bijBmAs&hl=en&sa=X&ei=tF3IUdjzG_PQ4QSq4YGABw&ved=0CGgQ6AEwBzgK#v=onepage&q=Geschichte%20des%20Verbrechens.%20Versuch%20einer&f=false ''Geschichte des Verbrechens''] mit dem Zusatztitel: ''Versuch einer historischen Kriminologie.'' Ebenfalls 1951 erschien auch das Buch "Geburt der Strafe" des Kölner rechtswissenschaftlichen Privatdozenten und späteren außerordentlichen Professors [http://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Achter_(Jurist) Viktor Achter], in dem es um den Übergang von der Automatik der Sühne zur Bestrafung des Täters (im Hochmittelalter in Südfrankreich) ging.


Diese ''historische Kriminologie'' befand sich damals und dann noch für längere Zeit ''in statu nascendi''. Die Geburtsmetapher liegt auch wegen der Merkwürdigkeit nahe, dass zwei wichtige Werke sie in ihrem Titel bzw. Zusatztitel selbst verwenden. Nämlich im Jahre 1951 das Buch "Geburt der Strafe" des Kölner rechtswissenschaftlichen Privatdozenten und späteren außerordentlichen Professors [http://de.wikipedia.org/wiki/Viktor_Achter_(Jurist) Viktor Achter], in dem es um den Übergang von der Automatik der Sühne zur Bestrafung des Täters (im Hochmittelalter in Südfrankreich) ging - und dann, mit einem ganz anderen Donnerschlag, im Jahre 1975 das Buch "Überwachen und Strafen" des Philosophen und Psychologen Michel Foucault, dessen Zusatztitel bekanntlich "Die Geburt des Gefängnisses" lautete. Es war im Anschluss an den epochalen Erfolg dieses Werkes, dass sich Quantität und Qualität im Diskurs der historischen Kriminologie auf höchst erfreuliche Art zu mausern begannen. Wobei dahingestellt bleiben muss, inwiefern ''post hoc'' hier auch tatsächlich auf ein ''propter hoc'' verweist.
Die Geburtsmetapher in Viktor Achters Buch ruft allerdings assoziativ eine weitere Publikation ins Gedächtnis, in der sie ebenfalls vorkommt. Gemeint ist natürlich "Überwachen und Strafen" des Philosophen und Psychologen Michel Foucault - Untertitel: "Die Geburt des Gefängnisses" (1975). Erst danach kam Leben in die Beziehung zwischen Geschichte und Kriminologie. Ob ''post hoc'' den Schluss auf eine kausale Beziehung im Sinne des ''propter hoc'' erlaubt, sei hier dahingestellt. Jedenfalls nahm das Interesse an historischen Arbeiten zu Kriminalität und Strafen rapide zu. In Deutschland begann eine Phase intensiver Rezeption ausländischer Arbeiten zur Geschichte von Kriminalität und Kontrolle.  


Jedenfalls begann nun eine Zeit zunehmender Bereicherung der historischen Kriminologie durch eine ganze Fülle von Arbeiten. Die Initialzündung kam wohl durch die Rezeption ausländischer Forschungen. Gerd Schwerhoff schreibt über diese Umbruchszeit:
Ich selbst erinnere mich vor allem an die Rezeption entsprechender Arbeiten der britischen ''social historians''. Mich faszinierten die von Edward P. Thompsons 1975 in England erschienenen "Whigs and Hunters" und sein Sammelband "Albion's Fatal Tree"; erst darüber wurde ich darauf aufmerksam, dass es auch einen schon länger in deutscher Übersetzung vorliegenden Eric J. Hobsbawm gab (seine Primitive Rebels von 1959 erschienen 1962 als "Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Luchterhand, Neuwied/Berlin" - 1979 erneut im Focus-Verlag, Gießen; seine "Bandits" von 1969 erschienen 1972 als "Die Banditen. Suhrkamp, Frankfurt" - 2007 erneut unter dem Titel "Die Banditen. Räuber als Sozialrebellen" bei Hanser in München).  
 
:Während im englisch- und französischsprachigen Raum Forschungen zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kriminalität blühten, tat sich im deutschsprachigen Raum wenig. Heute dagegen ist die historische Kriminalitätsforschung eine etablierte Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, deren Ergebnisse und Fallstudien weithin anerkannt sind und, noch wichtiger, mit anderen sozial- und kulturhistorischen Forschungsfeldern eng vernetzt sind.


Wichtige Meilensteine waren für Schwerhoff die Jahre 1985 und 1991. Er schreibt:  
In den 1980er und 1990er Jahren sprang aber auch die Konjunktur historischer Kriminalitätsforschung in Deutschland selbst an. Eine wichtige Rolle spielte dabei ein Arbeitskreis an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der von 1991 bis 2010 zwanzig Zusammenkünfte in Stuttgart-Hohenheim veranstaltete und der seinerseits auf einem Vorläufer-Arbeitskreis, nämlich den AK für Interdisziplinäre Hexenforschung aufbauen konnte. Gerd Schwerhoff (2011) erinnert sich so:  


:Ein Arbeitskreis an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, der von 1991 bis 2010 zwanzig Zusammenkünfte in Stuttgart-Hohenheim veranstaltete, hat sehr wesentlich zu dieser Etablierung beigetragen. Die ersten Anstöße kamen dabei aus dem Kreis der Hexenforscher, die bereits 1985 einen eigenen Arbeitskreis (AK für Interdisziplinäre Hexenforschung) gegründet hatten. Auch Hexerei war, jedenfalls in der Frühen Neuzeit, ein Kriminaldelikt, und viele Diskussionen, die unter Hexenforschern geführt wurden, waren grosso modo auch für Kriminalitätshistoriker interessant. Gemeinsam war allen die Faszination für Gerichtsakten, für Quellen mithin, die nicht nur über die Rechtswirklichkeit Auskunft gaben, sondern die darüber hinaus als Schlüssellöcher taugten, um Blicke in die komplexe Alltagswelt vergangener Zeitalter zu riskieren. - Mit Andreas Blauert gab ein Hexenforscher die Anregung für ein erstes Treffen der „Krimi“-Historiker, eine Anregung, die Dieter R. Bauer als Geschichtsreferent der Akademie bereitwillig aufnahm. Über 20 Personen kamen Anfang Juni 1991 in Hohenheim zusammen, um Vorträge zu hören (z. T. konkrete Fallstudien, z. T. sehr programmatische Beiträge) und vor allem: um sich die Köpfe heißzureden und zu diskutieren! Darunter waren wenige Privatdozenten, viele mehr oder weniger frisch Promovierte und etliche Doktorandinnen und Doktoranden – jedoch kein etablierter Professor!
:"Die ersten Anstöße kamen dabei aus dem Kreis der Hexenforscher, die bereits 1985 einen eigenen Arbeitskreis (AK für Interdisziplinäre Hexenforschung) gegründet hatten. Auch Hexerei war, jedenfalls in der Frühen Neuzeit, ein Kriminaldelikt, und viele Diskussionen, die unter Hexenforschern geführt wurden, waren grosso modo auch für Kriminalitätshistoriker interessant. Gemeinsam war allen die Faszination für Gerichtsakten, für Quellen mithin, die nicht nur über die Rechtswirklichkeit Auskunft gaben, sondern die darüber hinaus als Schlüssellöcher taugten, um Blicke in die komplexe Alltagswelt vergangener Zeitalter zu riskieren. - Mit Andreas Blauert gab ein Hexenforscher die Anregung für ein erstes Treffen der „Krimi“-Historiker, eine Anregung, die Dieter R. Bauer als Geschichtsreferent der Akademie bereitwillig aufnahm. Über 20 Personen kamen Anfang Juni 1991 in Hohenheim zusammen, um Vorträge zu hören (z. T. konkrete Fallstudien, z. T. sehr programmatische Beiträge) und vor allem: um sich die Köpfe heißzureden und zu diskutieren! Darunter waren wenige Privatdozenten, viele mehr oder weniger frisch Promovierte und etliche Doktorandinnen und Doktoranden – jedoch kein etablierter Professor!" - "Heute dagegen ist die historische Kriminalitätsforschung eine etablierte Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, deren Ergebnisse und Fallstudien weithin anerkannt sind und, noch wichtiger, mit anderen sozial- und kulturhistorischen Forschungsfeldern eng vernetzt sind."


Ich selbst erinnere mich vor allem an die Rezeption entsprechender Arbeiten der britischen ''social historians''. Mich faszinierten die von Edward P. Thompsons 1975 in England erschienenen "Whigs and Hunters" und sein Sammelband "Albion's Fatal Tree"; erst darüber wurde ich darauf aufmerksam, dass es auch einen schon länger in deutscher Übersetzung vorliegenden Eric J. Hobsbawm gab (seine Primitive Rebels von 1959 erschienen 1962 als "Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Luchterhand, Neuwied/Berlin" - 1979 erneut im Focus-Verlag, Gießen; seine "Bandits" von 1969 erschienen 1972 als "Die Banditen. Suhrkamp, Frankfurt" - 2007 erneut unter dem Titel "Die Banditen. Räuber als Sozialrebellen" bei Hanser in München).  
Einige Werke aus dieser Zeit, die mich besonders beeindruckten, waren die Darstellung von Gerichtspraxis und Strafritualen in der frühen Neuzeit in Richard van Dülmens (1985) [http://books.google.de/books?id=XjOF915mX-cC&pg=PA2&lpg=PA2&dq=%22Richard+van+D%C3%BClmen%22+Theater+des+Schreckens&source=bl&ots=UbFJDM1r_i&sig=L3DS7wDu_Jk_6Z0soTi1JtvYixM&hl=en&sa=X&ei=A4_JUdzHPPHS4QSLkIDgBQ&ved=0CG0Q6AEwBw Theater des Schreckens] (s. auch Richard van Dülmen, Hg., 1990 [http://www.lbz-rlp.de/Inhaltsverzeichnis/3787477.pdf Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Frankfurt: Fischer], die binnen eines Jahres auf Deutsch erschienene Monographie des französischen Kunsthistorikers Daniel Arasse (1987) über die Guillotine (Zusatztitel: Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit; Rowohlt, Reinbek 1988; orig.: La Guillotine et l’imaginaire de la Terreur, éd. Flammarion, 1987), Arbeiten zur Geschichte der Polizei ([http://www.uni-erfurt.de/geschichte/historischeanthropologie/personen/luedtke/ wobei sich besonders Alf Lüdtke] und [http://www2.uni-wuppertal.de/FB1/brusten/reinke/ Herbert Reinke] verdient gemacht haben, nach ihnen aber auch Patrick Wagner mit seiner Arbeit über "Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus = Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte. Bd. 34. Christians, Hamburg 1996, ISBN 3-7672-1271-4; Patrick Wagner: ,Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Kriminalpolizei und der Nationalsozialismus zwischen 1920 und 1960 = Beck'sche Reihe 1498. Beck, München 2002, ISBN 3-406-49402-1 und last not least zu den Zucht- und Arbeitshäusern, zu Gefängnissen und einzelnen Strafen (man denke an [[Pieter Spierenburg]] und Richard Evans mit seinem modernen Klassiker "Rituale der Vergeltung", in dem er vier Jahrhunderte  [http://www.gbv.de/dms/spk/sbb/toc/32705025X.pdf der Todesstrafe in Deutschland]abhandelt (2001).


Die historische Kriminologie weist mehrere Schwerpunkte auf:
Wo die Geschichte von den Einzeldelikten zu Deliktsgruppen und der Kriminalität insgesamt übergeht, wo dann lange, sich über Jahrhunderte oder Jahrtausende erstreckende Entwicklungen etwa der Gewalt und der Gewaltkriminalität ins Auge gefasst werden, da wenden sich Historiker meist schaudernd ab und überlassen das Feld gerne den Generalisten wie z.B. Steven Pinker mit seiner kürzlich erschienenen The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined (2011) - auf Deutsch: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit.


#Geschichte der Gerichtsverfahren und des Strafens: neben "Suveiller et punir" ist da vor allem Richard van Dülmen (1985) mit seinem [http://books.google.de/books?id=XjOF915mX-cC&pg=PA2&lpg=PA2&dq=%22Richard+van+D%C3%BClmen%22+Theater+des+Schreckens&source=bl&ots=UbFJDM1r_i&sig=L3DS7wDu_Jk_6Z0soTi1JtvYixM&hl=en&sa=X&ei=A4_JUdzHPPHS4QSLkIDgBQ&ved=0CG0Q6AEwBw Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München: C.H. Beck 1985] zu nennen (sowie der von ihm herausgegebene Band über [http://www.lbz-rlp.de/Inhaltsverzeichnis/3787477.pdf Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Frankfurt: Fischer 1990]. Dann kam bereits 1988 die 1987 in Paris veröffentlichte Arbeit des Kunsthistorikers Daniel Arasse (1987) über die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit (Rowohlt, Reinbek 1988)heraus (La Guillotine et l’imaginaire de la Terreur, éd. Flammarion, 1987). Zahlreiche Veröffentlichungen über die Geschichte von Zucht- und Arbeitshäusern, von Gefängnissen und von einzelnen Strafen - man denke auch an [[Pieter Spierenburg]] [http://de.wikipedia.org/wiki/Asouade (Asouade)] - kulminierten dann gewissermaßen in Richard Evans modernem Klassiker über die Rituale der Vergeltung, nämlich über vier Jahrhunderte [http://www.gbv.de/dms/spk/sbb/toc/32705025X.pdf der Todesstrafe in Deutschland](2001)
Selbst diese lückenhafte und von persönlichen Vorlieben geleitete Aufzählung dürfte deutlich machen: dass es Historiker waren, die sich die historische Kriminalitätsforschung eroberten und die damit den Löwenanteil der Annäherung zwischen Geschichte und Kriminologie leisteten. Das heißt nicht, dass Kriminologen absolut untätig geblieben wären - ich denke da an die ausgesprochen illuminierende kleine Arbeit über "Die ursprüngliche Erfindung des Verbrechens" von Henner Hess und Johannes Stehr (1987) - aber insgesamt ist doch ein ganz gewaltiges Übergewicht der Historiker zu verzeichnen. Aus meiner Sicht ist es schade, dass die historische Kriminologie, verstanden als Geschichtsforschung durch Kriminologen, gegenüber der historischen Kriminalitätsforschung, verstanden als Geschichtsforschung durch Historiker, so ins Hintertreffen geraten ist - nicht nur aus kriminologischem Fachegoismus heraus, sondern vor allem, weil historische Kriminologie ja eine gewisse Leitfunktion speziell kriminologischer Theorien und Fragestellungen impliziert, was zugleich eine besser Anschlussmöglichkeit an die allgemeinen kriminologischen Theorien implizierte.  
#Geschichte der Kriminalpolizei, besonders im Dritten Reich: Patrick Wagner über "Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte. Bd. 34). Christians, Hamburg 1996, ISBN 3-7672-1271-4; dann ebenfalls von Patrick Wagner: ,Hitlers Kriminalisten. Die deutsche Kriminalpolizei und der Nationalsozialismus zwischen 1920 und 1960 (= Beck'sche Reihe 1498). Beck, München 2002, ISBN 3-406-49402-1. Nicht nur, aber auch zur Polizei forschten natürlich auch sehr vielseitig und schon gleichsam eine Generation vor Wagner: [http://www.uni-erfurt.de/geschichte/historischeanthropologie/personen/luedtke/ Alf Lüdtke] und [http://www2.uni-wuppertal.de/FB1/brusten/reinke/ Herbert Reinke].
#Geschichte des Entstehens von, des Umgangs mit und des Vergehens von Einzeldelikten wie z.B. der Hexerei oder der Blasphemie (Schwerhoff). Wo die Geschichte von den Einzeldelikten zu Deliktsgruppen und der Kriminalität insgesamt übergeht, wo dann lange, sich über Jahrhunderte oder Jahrtausende erstreckende Entwicklungen etwa der Gewalt und der Gewaltkriminalität ins Auge gefasst werden, da wenden sich Historiker meist schaudernd ab und überlassen das Feld gerne den Generalisten wie z.B. Steven Pinker mit seiner kürzlich erschienenen The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined (2011) - auf Deutsch: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit.  


Es geht hier nicht um die Vollständigkeit der Aufzählung, sondern um Schlaglichter auf die Konjunktur der historischen Kriminalitätsforschung, die man - auch das sei gesagt - nicht ohne weiteres gleichsetzen kann mit historischer Kriminologie, was ja eine gewisse Leitfunktion speziell kriminologischer Theorien und Fragestellungen implizierte; dennoch bitte ich vorsorglich um Verzeihung für Auslassungen, Lücken und Nichterwähnungen aller Art. Auf jeden Fall zeigt diese kleine Aufzählung aber schon eines: dass es Historiker waren, die sich die historische Kriminalitätsforschung eroberten und die damit den Löwenanteil der Annäherung zwischen Geschichte und Kriminologie leisteten. Das heißt nicht, dass Kriminologen absolut untätig geblieben wären - ich denke da an die ausgesprochen illuminierende kleine Arbeit über "Die ursprüngliche Erfindung des Verbrechens" von Henner Hess und Johannes Stehr (1987) - aber insgesamt ist doch ein ganz gewaltiges Übergewicht der Historiker zu verzeichnen.
Aus der Sicht der Kriminologie ist dieses Ungleichgewicht zwischen historischer Kriminalitätsforschung und historischer Kriminologie deshalb ein bisschen bedauerlich. Man kann zwar froh sein, dass die anderen die Arbeit machen und man selbst das Vergnügen hat, in den Ergebnissen zu schmökern.


Aus der Sicht der Kriminologie ist dieses Ungleichgewicht auch ein bisschen schade. Warum? Man könnte ja froh sein, dass die anderen die Arbeit machen und man selbst das Vergnügen hat, in den Ergebnissen zu schmökern. Die Geschichte geht im wesentlichen idiographisch vor, das heißt sie befasst sich mit Einzelereignissen. Wie anders die durch und durch [https://de.wikipedia.org/wiki/Deduktiv-nomologisches_Modell| nomologisch] orientierte Kriminologie. Sie klassifiziert, typisiert und systematisiert gesellschaftliche Prozesse im historischen und internationalen Vergleich - immer auf der Suche nach (einst) eher deterministisch eingefärbten, heutzutage (hingegen) durchweg eher bescheiden auf probabilistische Relationen zurechtgestutzten Wenn-Dann-Gesetzmäßigkeiten. Die Frage „Warum tritt dieses oder jenes Phänomen auf?“ wird aufgefasst als Frage „Aufgrund welcher allgemeinen Gesetze und konkreten Vorbedingungen tritt dieses oder jenes Phänomen auf? - Und dies bezogen auf die Vergangenheit (Erklärung) wie auf die Zukunft (Prognose)" (vgl. Hempel/Oppenheim 1948: 136). Derlei Fokussierung unter dem Gesichtspunkt der Erklärung durch Gesetzmäßigkeiten und der Weiterentwicklung der Theorien, die sich mit den Entwicklungen von Kriminalität und Kontrolle befassen, kommt dann leicht zu kurz.
Doch wenn zwei das Gleiche machen, ist es noch lange nicht dasselbe. Die Geschichte geht im wesentlichen idiographisch vor, das heißt sie befasst sich mit Einzelereignissen. Wie anders die durch und durch [https://de.wikipedia.org/wiki/Deduktiv-nomologisches_Modell| nomologisch] orientierte Kriminologie. Sie klassifiziert, typisiert und systematisiert gesellschaftliche Prozesse im historischen und internationalen Vergleich - immer auf der Suche nach (einst) eher deterministisch eingefärbten, heutzutage (hingegen) durchweg eher bescheiden auf probabilistische Relationen zurechtgestutzten Wenn-Dann-Gesetzmäßigkeiten. Die Frage „Warum tritt dieses oder jenes Phänomen auf?“ wird aufgefasst als Frage „Aufgrund welcher allgemeinen Gesetze und konkreten Vorbedingungen tritt dieses oder jenes Phänomen auf? - Und dies bezogen auf die Vergangenheit (Erklärung) wie auf die Zukunft (Prognose)" (vgl. Hempel/Oppenheim 1948: 136). Derlei Fokussierung unter dem Gesichtspunkt der Erklärung durch Gesetzmäßigkeiten und der Weiterentwicklung der Theorien, die sich mit den Entwicklungen von Kriminalität und Kontrolle befassen, kommt dann leicht zu kurz.


Die Historiker die Arbeit machen zu lassen hat also nicht nur Vorteile, sondern auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil für die Kriminologie. Zugespitzt könnte man behaupten: die historische Kriminalitätsforschung hat ihren Ausgangspunkt in Fragestellungen der Historiographie, nicht der Kriminologie. Das ist der wichtigste Grund dafür, dass ihre Ergebnisse auch im Wesentlichen innerhalb der Geschichtswissenschaft und ihrer spezifischen Öffentlichkeit verbleiben, aber in der Kriminologie kaum rezipiert werden. Oder: sie geht nicht von der Kriminologie aus und sie kommt in der Kriminologie nicht an. Die Kriminologie - ausweislich ihrer Lehrbücher und Monographien, ihrer Curricula und ihrer Schwerpunkte - bleibt auf eine seltsame Weise fast unberührt von der reichen Ernte, die von der historischen Kriminalitätsforschung eingebracht wurde.
Die Historiker die Arbeit machen zu lassen hat also nicht nur Vorteile, sondern auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil für die Kriminologie. Zugespitzt könnte man behaupten: die historische Kriminalitätsforschung hat ihren Ausgangspunkt in Fragestellungen der Historiographie, nicht der Kriminologie. Das ist der wichtigste Grund dafür, dass ihre Ergebnisse auch im Wesentlichen innerhalb der Geschichtswissenschaft und ihrer spezifischen Öffentlichkeit verbleiben, aber in der Kriminologie kaum rezipiert werden. Oder: sie geht nicht von der Kriminologie aus und sie kommt in der Kriminologie nicht an. Die Kriminologie - ausweislich ihrer Lehrbücher und Monographien, ihrer Curricula und ihrer Schwerpunkte - bleibt auf eine seltsame Weise fast unberührt von der reichen Ernte, die von der historischen Kriminalitätsforschung eingebracht wurde.
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Dann eine Phase der Annäherung; wobei vor allem die bewegte Fachgeschichte der Kriminologie in Deutschland internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht (jur: Schütz 1972; Dölling 1989, Streng 1993). Kein Wunder, wenn man an die engen Beziehungen zwischen Kriminologie und kriminalpolitischer Praxis denkt und an die schnelle Abfolge unterschiedlichster und zum Teil extremer Regime in Deutschland zwischen 1870 und 1990: da gab es die deutschen Kleinstaaten und den Norddeutschen Bund, dann das Deutsche Kaiserreich von 1871, die Revolution von 1918, die Weimarer Republik, den NS-Staat von 1933 bis 1945, die deutsche Teilung in Bundesrepublik einer- und und Deutsche Demokratische Republik andererseits, und schließlich die Wiedervereinigung von 1990 durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Mit jedem Schritt änderten sich Regierungsformen, Verfassungen und/oder einfache Gesetze, Paragraphen des Strafgesetzbuchs, vorherrschende Anschauungen und die Grenzen zwischen erlaubt und verboten, legal und strafbar, sagbar und unsagbar. Und die Kriminologie als Wissenschaft aus der Praxis und für die Praxis der Bekämpfung von Kriminalität hatte es mit einem ständig wechselnden Begriffsinhalt ihres Gegenstands zu tun: was tun mit der Ursachenforschung, mit den Statistiken und den Langzeitverläufen von Kriminalität, wenn sich das, was darunter verstanden wurde, immer wieder und nicht selten auch grundlegend änderte? Was bedeutet das für die Kriminologie als Erkenntnissystem einerseits, wenn man alle Naslang unter völlig veränderten Bezugsrahmen zu forschen hat - und was für die Kriminologie als soziales System, in dem einzelne Professoren ihre Theorien zwischen Kaiserreich, Weimar, Nationalsozialismus und Bundesrepublik immer wieder anzupassen hatten - jedenfalls dann, wenn sie, was der Normalfall war, das oberste Ziel verfolgten, über alle Zeitläufte hinweg in erster Linie ihre Lehrstühle und ihren Status innerhalb der ''scientific community'' zu bewahren? Möglicherweise gibt es keine andere Disziplin, in der sich die Anpassungsprozesse von Wissenschaft(lern) an die politische Herrschaft besser untersuchen lässt als eben die Kriminologie. Insofern ist es schade, dass der Arbeit von Walter Fuchs (2008) über ''Franz Exner (1881-1947) und das Gemeinschaftsfremdengesetz: Zum Barbarisierungspotenzial moderner Kriminalwissenschaft'', der mit großem Gewinn die Klassifikation von Dieter Langewiesche (1997) verwendete, noch keine Nachfolger gefunden hat, die einmal die gesamte Professorenschaft der Kriminologie unter dem Gesichtspunkt untersuchte, wie diese sich auf die vier Verhaltenstypen von (1) fachwissenschaftlicher und institutioneller Selbstbehauptung durch Distanz zur Politik; (2) illusionärer Selbstgleichschaltung; (3) nachholender Selbstgleichschaltung; (4) identifizierender Selbstgleichschaltung durch fachwissenschaftliche Vorausplanung nationalsozialistischer Programme und Praxis verteilten.
Dann eine Phase der Annäherung; wobei vor allem die bewegte Fachgeschichte der Kriminologie in Deutschland internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht (jur: Schütz 1972; Dölling 1989, Streng 1993). Kein Wunder, wenn man an die engen Beziehungen zwischen Kriminologie und kriminalpolitischer Praxis denkt und an die schnelle Abfolge unterschiedlichster und zum Teil extremer Regime in Deutschland zwischen 1870 und 1990: da gab es die deutschen Kleinstaaten und den Norddeutschen Bund, dann das Deutsche Kaiserreich von 1871, die Revolution von 1918, die Weimarer Republik, den NS-Staat von 1933 bis 1945, die deutsche Teilung in Bundesrepublik einer- und und Deutsche Demokratische Republik andererseits, und schließlich die Wiedervereinigung von 1990 durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Mit jedem Schritt änderten sich Regierungsformen, Verfassungen und/oder einfache Gesetze, Paragraphen des Strafgesetzbuchs, vorherrschende Anschauungen und die Grenzen zwischen erlaubt und verboten, legal und strafbar, sagbar und unsagbar. Und die Kriminologie als Wissenschaft aus der Praxis und für die Praxis der Bekämpfung von Kriminalität hatte es mit einem ständig wechselnden Begriffsinhalt ihres Gegenstands zu tun: was tun mit der Ursachenforschung, mit den Statistiken und den Langzeitverläufen von Kriminalität, wenn sich das, was darunter verstanden wurde, immer wieder und nicht selten auch grundlegend änderte? Was bedeutet das für die Kriminologie als Erkenntnissystem einerseits, wenn man alle Naslang unter völlig veränderten Bezugsrahmen zu forschen hat - und was für die Kriminologie als soziales System, in dem einzelne Professoren ihre Theorien zwischen Kaiserreich, Weimar, Nationalsozialismus und Bundesrepublik immer wieder anzupassen hatten - jedenfalls dann, wenn sie, was der Normalfall war, das oberste Ziel verfolgten, über alle Zeitläufte hinweg in erster Linie ihre Lehrstühle und ihren Status innerhalb der ''scientific community'' zu bewahren? Möglicherweise gibt es keine andere Disziplin, in der sich die Anpassungsprozesse von Wissenschaft(lern) an die politische Herrschaft besser untersuchen lässt als eben die Kriminologie. Insofern ist es schade, dass der Arbeit von Walter Fuchs (2008) über ''Franz Exner (1881-1947) und das Gemeinschaftsfremdengesetz: Zum Barbarisierungspotenzial moderner Kriminalwissenschaft'', der mit großem Gewinn die Klassifikation von Dieter Langewiesche (1997) verwendete, noch keine Nachfolger gefunden hat, die einmal die gesamte Professorenschaft der Kriminologie unter dem Gesichtspunkt untersuchte, wie diese sich auf die vier Verhaltenstypen von (1) fachwissenschaftlicher und institutioneller Selbstbehauptung durch Distanz zur Politik; (2) illusionärer Selbstgleichschaltung; (3) nachholender Selbstgleichschaltung; (4) identifizierender Selbstgleichschaltung durch fachwissenschaftliche Vorausplanung nationalsozialistischer Programme und Praxis verteilten.


Ich nenne nur
*1999: Jan Telp: Ausmerzung und Verrat. Zur Diskussion um Strafzwecke und Verbrechensbegriffe im Dritten Reich. (Rechtshistorische Reihe; Bd. 192). Lang, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-631-34170-9; Zugl. München, Univ., Diss., 1998, insbesondere S. 161-206
*2000: Gerit Thulfaut:, Kriminalpolitik und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger (1883-1962). Nomos, Baden-Baden 2000 (Munoz-Conde ... )
*2000: Wetzell, Richard F. (2000) [http://www.ghi-dc.org/index.php?option=com_content&view=article&id=225&Itemid=164 Richard Wetzells Geschichte der deutschen Kriminologie von 1880 bis 1945] Inventing the Criminal: A History of German Criminology, 1880-1945. Chapel Hill & London: University of North Carolina Press (von demselben: "Gustav Aschaffenburg: German Criminology." In Enyclopedia of Criminological Theory, edited by Francis T. Cullen and Pamela Wilcox, 58-62. Los Angeles: Sage, 2010; "Die Rolle medizinischer Experten in Strafjustiz und Strafrechtsreformbewegung: Eine Medikalisierung des Strafrechts?" In Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne, edited by Alexander Kästner and Sylvia Kesper-Biermann, 57-71. Leipzig: Meine-Verlag, 2008; "Der Verbrecher und seine Erforscher: Die deutsche Kriminologie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus." Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 8 (2006/2007): 256-279.
*2002: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 2002 von [http://irks.academia.edu/PeterBecker Peter Becker], der bekanntlich auch noch mit einer Geschichte der Kriminalistik aufwartete
*2004: [http://books.google.de/books/about/Kriminologie_Im_Deutschen_Kaiserreich.html?id=61PQAAAAIAAJ&redir_esc=y Silviana Galassis Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung] (auch 2004: Christian Müller: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat: Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland. 1871-1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht).
*2006: Imanuel Baumanns (2006) Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland von 1880 bis 1980
Aber auch hier gilt: die Erträge der Aufarbeitung der Fachgeschichte bleiben der Kriminologie äußerlich. Sie finden keinen Eingang in das Selbstverständnis, in die Lehrbücher, in die Selbstreflexion des Faches - sie verändern den Charakter der Kriminologie in keiner Weise. Es ist, als gäbe es sie nicht.


=== Ornamentaler Gebrauch der Geschichte ===
=== Ornamentaler Gebrauch der Geschichte ===
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Der Mythos von der aufsteigenden Erkenntnis in der Kriminologie: von alten Fehlern zur modernen Wahrheit, trägt wenig zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit oder der Gegenwart bei.  
Der Mythos von der aufsteigenden Erkenntnis in der Kriminologie: von alten Fehlern zur modernen Wahrheit, trägt wenig zu einem besseren Verständnis der Vergangenheit oder der Gegenwart bei.  


Das alles ist eine Kritik der Fachgeschichtsschreibung durch Kriminologen. In letzter Zeit haben sich aber nun eine ganze Reihe von "Außenseitern" auf diesem Gebiet engagiert, die durch keinen Schwur auf die kriminologische Verfassung behindert waren und durch deren Arbeiten unser Verständnis des Themas ganz erheblich erweitert wurde. Man denke an Michel Foucault (1977), Robert Nye (1984), Daniel Pick (1989) und Martin Wiener (1990)
Das alles ist eine Kritik der Fachgeschichtsschreibung durch Kriminologen. In letzter Zeit haben sich aber nun eine ganze Reihe von "Außenseitern" auf diesem Gebiet engagiert, die durch keinen Schwur auf die kriminologische Verfassung behindert waren und durch deren Arbeiten unser Verständnis des Themas ganz erheblich erweitert wurde. Man denke im englischsprachigen Raum an Robert Nye (1984), Daniel Pick (1989) und Martin Wiener (1990), bzw., bezogen auf die Geschichte der Kriminologie in Deutschland an
*2000: Wetzell, Richard F. (2000) [http://www.ghi-dc.org/index.php?option=com_content&view=article&id=225&Itemid=164 Richard Wetzells Geschichte der deutschen Kriminologie von 1880 bis 1945] Inventing the Criminal: A History of German Criminology, 1880-1945. Chapel Hill & London: University of North Carolina Press (von demselben: "Gustav Aschaffenburg: German Criminology." In Enyclopedia of Criminological Theory, edited by Francis T. Cullen and Pamela Wilcox, 58-62. Los Angeles: Sage, 2010; "Die Rolle medizinischer Experten in Strafjustiz und Strafrechtsreformbewegung: Eine Medikalisierung des Strafrechts?" In Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne, edited by Alexander Kästner and Sylvia Kesper-Biermann, 57-71. Leipzig: Meine-Verlag, 2008; "Der Verbrecher und seine Erforscher: Die deutsche Kriminologie in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus." Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 8 (2006/2007): 256-279.
*2002: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis. Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 2002 von [http://irks.academia.edu/PeterBecker Peter Becker], der bekanntlich auch noch mit einer Geschichte der Kriminalistik aufwartete
*2004: [http://books.google.de/books/about/Kriminologie_Im_Deutschen_Kaiserreich.html?id=61PQAAAAIAAJ&redir_esc=y Silviana Galassis Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung]
*2004: Christian Müller: Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat: Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland. 1871-1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht).
*2006: Imanuel Baumanns (2006) Geschichte der Kriminologie und Kriminalpolitik in Deutschland von 1880 bis 1980
 
Aber auch hier gilt: die Erträge der Aufarbeitung der Fachgeschichte bleiben der Kriminologie äußerlich. Sie finden keinen Eingang in das Selbstverständnis, in die Lehrbücher, in die Selbstreflexion des Faches - sie verändern den Charakter der Kriminologie in keiner Weise. Es ist, als gäbe es sie nicht.


== Das Potential ==
== Das Potential ==
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Idealiter könnte man sich eine Fülle von Informationen vorstellen, die alles Wissen über die heutige Situation durchtränkte mit Hintergrundwissen und Relativierungen ebenso wie Alternativ-Optionen aus geschichtlichem Wissen. Man könnte einen lebhaften und von Ideen nur so sprühenden Austausch sich vorstellen zwischen kriminologisch bewanderten Historikern und historisch bewanderten Kriminologen, eine Art historisch-kriminalpolitischen Think Tank oder eine Task Force mit der Funktion, nicht nur l'art pour l'art zu produzieren - obwohl auch dagegen gar nichts einzuwenden wäre - sondern auchz in einen kritischen, vielleicht sogar weisen Dialog mit der aktuellen Kriminal- und Gesellschaftspolitik einzutreten.
Idealiter könnte man sich eine Fülle von Informationen vorstellen, die alles Wissen über die heutige Situation durchtränkte mit Hintergrundwissen und Relativierungen ebenso wie Alternativ-Optionen aus geschichtlichem Wissen. Man könnte einen lebhaften und von Ideen nur so sprühenden Austausch sich vorstellen zwischen kriminologisch bewanderten Historikern und historisch bewanderten Kriminologen, eine Art historisch-kriminalpolitischen Think Tank oder eine Task Force mit der Funktion, nicht nur l'art pour l'art zu produzieren - obwohl auch dagegen gar nichts einzuwenden wäre - sondern auchz in einen kritischen, vielleicht sogar weisen Dialog mit der aktuellen Kriminal- und Gesellschaftspolitik einzutreten.


== Die Lage ==
== Versuch einer Erklärung ==


Wer mit diesen Erwartungen sich den Einführungen und Lehrbüchern der Kriminologie nähert, wird eine große Enttäuschung erleben. Denn von alldem wird sie (oder er) nichts finden. Geschichte spielt für die Kriminologie im Kern so gut wie keine Rolle. Da, wo es der Kriminologie um Erkenntnisse über die Ursachen, Erscheinungsformen, den Umfang der Kriminalität und um die Reaktionen auf Kriminalität geht, befindet sich an dem Punkt, wo man jeweils "Geschichte" als Perspektive und Erkenntnismittel erwarten könnte, eine Leerstelle. Das befreiende Potential einer historischen Perspektive auf den Gegenstand der Kriminologie, also auf Kriminalität und Kontrolle, wird ebenso wenig genutzt wie dasjenige einer kritischen Fachgeschichte.  
Wer mit diesen Erwartungen sich den Einführungen und Lehrbüchern der Kriminologie nähert, wird eine große Enttäuschung erleben. Denn von alldem wird sie (oder er) nichts finden. Geschichte spielt für die Kriminologie im Kern so gut wie keine Rolle. Da, wo es der Kriminologie um Erkenntnisse über die Ursachen, Erscheinungsformen, den Umfang der Kriminalität und um die Reaktionen auf Kriminalität geht, befindet sich an dem Punkt, wo man jeweils "Geschichte" als Perspektive und Erkenntnismittel erwarten könnte, eine Leerstelle. Das befreiende Potential einer historischen Perspektive auf den Gegenstand der Kriminologie, also auf Kriminalität und Kontrolle, wird ebenso wenig genutzt wie dasjenige einer kritischen Fachgeschichte.  
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Wo Geschichte der Kriminalität und der Kontrolle überhaupt vorkommt, folgt sie dem schlichten Modell, alles, was bisher war, als wenig human und wenig effizient darzustellen und die Gegenwart vor diesem Hintergrund als besonders human und effizient und aufgeklärt zu bejubeln. Sie folgt also einer Leitidee, die Herbert Butterfield (1900-1979) einmal als The Whig Interpretation of History (1931) bezeichnet hat, also als eine Art der Historiographie, bei der die Vergangenheit als Fortschritt in Richtung auf immer größere Freiheit, Demokratie, Humanität und Rationalität präsentiert wird: "to produce a story which is the ratification if not the glorification of the present" (Butterfield 1931: ) Geschichte ist Fortschrittsgeschichte und nirgendwo ist dieser Fortschritt besser mit Händen zu greifen als in der Geschichte der Kriminalstrafen: von der Vierteilung zur Sozialtherapie und Wiedereingliederung. - Presenting criminological figures of the past as heroes, who advanced the cause of progress, or villains, who sought to hinder its inevitable triumph.
Wo Geschichte der Kriminalität und der Kontrolle überhaupt vorkommt, folgt sie dem schlichten Modell, alles, was bisher war, als wenig human und wenig effizient darzustellen und die Gegenwart vor diesem Hintergrund als besonders human und effizient und aufgeklärt zu bejubeln. Sie folgt also einer Leitidee, die Herbert Butterfield (1900-1979) einmal als The Whig Interpretation of History (1931) bezeichnet hat, also als eine Art der Historiographie, bei der die Vergangenheit als Fortschritt in Richtung auf immer größere Freiheit, Demokratie, Humanität und Rationalität präsentiert wird: "to produce a story which is the ratification if not the glorification of the present" (Butterfield 1931: ) Geschichte ist Fortschrittsgeschichte und nirgendwo ist dieser Fortschritt besser mit Händen zu greifen als in der Geschichte der Kriminalstrafen: von der Vierteilung zur Sozialtherapie und Wiedereingliederung. - Presenting criminological figures of the past as heroes, who advanced the cause of progress, or villains, who sought to hinder its inevitable triumph.


== Ein Erklärungsversuch ==
In der Erziehungswissenschaft gab es einmal eine Zeit, in der man gerne vom "hidden curriculum", bzw. dem "heimlichen Lehrplan" sprach. Damit war die Entdeckung oder Erkenntnis gemeint, dass man in der Schule nicht nur das zu lernen pflegt, was im Lehrplan steht, sondern ...  
In der Erziehungswissenschaft gab es einmal eine Zeit, in der man gerne vom "hidden curriculum", bzw. dem "heimlichen Lehrplan" sprach. Damit war die Entdeckung oder Erkenntnis gemeint, dass man in der Schule nicht nur das zu lernen pflegt, was im Lehrplan steht, sondern ...  


Die Geschichte spielt für die Kriminologie, kurz und bündig gesagt, nicht wirklich eine Rolle - jedenfalls keine legitime und produktive Rolle in der Kriminologie als Erkenntnissystem. Woher aber kommt die Immunität der Kriminologie gegen die Geschichte?
Die Geschichte spielt für die Kriminologie, kurz und bündig gesagt, nicht wirklich eine Rolle - jedenfalls keine legitime und produktive Rolle in der Kriminologie als Erkenntnissystem. Woher aber kommt die Immunität der Kriminologie gegen die Geschichte?
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- vertieftes Verständnis, Abbau von simplen Vorstellungen über Rezepte zur Kriminalitätsbekämpfung (Lea)
- vertieftes Verständnis, Abbau von simplen Vorstellungen über Rezepte zur Kriminalitätsbekämpfung (Lea)


== Bilanz ==
== Zusammenfassung ==
Bisher ist also festzuhalten:  
Bisher ist also festzuhalten:  
#Die akademischen Disziplinen der Geschichte (als ältere Wissenschaft) und der Kriminologie (als jüngere Wissenschaft) hatten zunächst - also im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert - kaum Berührungspunkte.  
#Die akademischen Disziplinen der Geschichte (als ältere Wissenschaft) und der Kriminologie (als jüngere Wissenschaft) hatten zunächst - also im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert - kaum Berührungspunkte.  
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Was nun die Kriminologie angeht, so kann man getrost folgende Aussagen treffen: das Interesse der Kriminologie an der Geschichte ist eher beschränkt. Die Befassung mit der Geschichte des Verbrechens gilt eher als Hobby für Randfiguren, die sich am ornamentalen Charakter des Anekdotisch-Merkwürdigen erfreuen, sich damit aber zugleich der eigentlichen systematischen und analytischen Aufgabe der Wissenschaft entziehen. Was soll man aus der Geschichte schon für die Gegenwart oder gar die Zukunft lernen? Hatte nicht ein großer Philosoph - kein Geringerer als Hegel - schon erklärt: Dass das einzige, was man aus der Geschichte lernen könne, sei, dass man nichts aus ihr lernen könne?
Was nun die Kriminologie angeht, so kann man getrost folgende Aussagen treffen: das Interesse der Kriminologie an der Geschichte ist eher beschränkt. Die Befassung mit der Geschichte des Verbrechens gilt eher als Hobby für Randfiguren, die sich am ornamentalen Charakter des Anekdotisch-Merkwürdigen erfreuen, sich damit aber zugleich der eigentlichen systematischen und analytischen Aufgabe der Wissenschaft entziehen. Was soll man aus der Geschichte schon für die Gegenwart oder gar die Zukunft lernen? Hatte nicht ein großer Philosoph - kein Geringerer als Hegel - schon erklärt: Dass das einzige, was man aus der Geschichte lernen könne, sei, dass man nichts aus ihr lernen könne?


Die Kriminologie ist eine der Gegenwart zugewandte Wissenschaft. Was zählt, sind die neuesten Erkenntnisse, gewonnen auf der Grundlage der neuesten amtlichen Kriminalstatistiken und der neuesten Dunkelfelduntersuchungen. Was etwas älter ist, ist veraltet. Die Feststellung, dass die Thesen eines Kollegen auf "alten, inzwischen doch längst durch neue Untersuchungen überholten Daten" beruhten, ist ein sehr gravierender Vorwurf. Ein Kriminologe, der sich mehr als nur am Rande mit der Geschichte der Kriminologie befasst, führt eher eine Nischenexistenz, vielleicht auch deshalb, weil er im eigentlichen Kerngeschäft nicht mithalten will oder kann.
Das Verhältnis von Geschichte und Kriminologie lässt sich in größter Skizzenhaftigkeit als Kurzgeschichte in zwei Teilen erzählen. Im ersten Teil haben beide nichts miteinander zu tun. Ihr Verhältnis ist ein Nicht-Verhältnis. Im zweiten Teil kommt es dank der Initiative der Geschichtswissenschaft zu einer gewissen Annäherung. Das Happy End bleibt aber aus. Jedenfalls die Kriminologie bleibt von dem Rendezvous, das der Geschichtswissenschaft viel gebracht zu haben scheint, letztlich unbeeindruckt. Der harte Kern der Kriminologie bleibt wie er ist: Man macht so weiter wie bisher. Das heißt: in den Lehrbüchern der Kriminologie dienen stereotype Darstellungen der "Geschichte der Kriminologie" als nützliches Ornament - nützlich zur Affirmation des Wissenschafts-Status und zur Affirmation von Hegemonialansprüchen als Leitdisziplin für den gesamten kriminologischen Diskurs. In der Theorie hinterlässt die Geschichte keine aufklärende Wirkung. Dort ist es, als hätte es die jüngste Blüte der historischen Kriminologie nie gegeben.
Das Verhältnis von Geschichte und Kriminologie lässt sich in größter Skizzenhaftigkeit als Kurzgeschichte in zwei Teilen erzählen. Im ersten Teil haben beide nichts miteinander zu tun. Ihr Verhältnis ist ein Nicht-Verhältnis. Im zweiten Teil kommt es dank der Initiative der Geschichtswissenschaft zu einer gewissen Annäherung. Das Happy End bleibt aber aus. Jedenfalls die Kriminologie bleibt von dem Rendezvous, das der Geschichtswissenschaft viel gebracht zu haben scheint, letztlich unbeeindruckt. Der harte Kern der Kriminologie bleibt wie er ist: Man macht so weiter wie bisher. Das heißt: in den Lehrbüchern der Kriminologie dienen stereotype Darstellungen der "Geschichte der Kriminologie" als nützliches Ornament - nützlich zur Affirmation des Wissenschafts-Status und zur Affirmation von Hegemonialansprüchen als Leitdisziplin für den gesamten kriminologischen Diskurs. In der Theorie hinterlässt die Geschichte keine aufklärende Wirkung. Dort ist es, als hätte es die jüngste Blüte der historischen Kriminologie nie gegeben.


Wir haben gesehen: Geschichte und Kriminologie haben sich in den letzten Jahren angenähert. Und dennoch sind sie noch lange nicht das Traumpaar, das sie darstellen könnten. Für eine solche Feststellung bedarf es natürlich einer gewissen Vorstellung darüber, wann sie denn ein solches Traumpaar wären und wie man das erkennen könnte. Dafür müssen wir neben unserem Realitäts- auch unseren Möglichkeitssinn aktivieren, jene von Robert Musil beschriebene Fähigkeit, das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist - und angesichts des So-Seins der Verhältnisse immer zugleich auch zu denken: ''Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein''. Vor allem: dass es besser sein könnte.
Wir haben gesehen: Geschichte und Kriminologie haben sich in den letzten Jahren angenähert. Und dennoch sind sie noch lange nicht das Traumpaar, das sie darstellen könnten. Für eine solche Feststellung bedarf es natürlich einer gewissen Vorstellung darüber, wann sie denn ein solches Traumpaar wären und wie man das erkennen könnte. Dafür müssen wir neben unserem Realitäts- auch unseren Möglichkeitssinn aktivieren, jene von Robert Musil beschriebene Fähigkeit, das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist - und angesichts des So-Seins der Verhältnisse immer zugleich auch zu denken: ''Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein''. Vor allem: dass es besser sein könnte.
Welche Bedeutung misst die Kriminologie selbst der Geschichte und der Geschichtswissenschaft bei? Was hat die Historie der empirischen Wissenschaft vom Verbrechen, die sich traditionell mit den Ursachen der Kriminalität und mit verschiedenen Methoden der Prävention und Reaktion befasst, heute noch oder wieder oder immer noch zu sagen?
Nietzsche: man könnte sich drei historien vorstellen, Walter Benjamin.
welche Bedeutung die Geschichte des Faches für deren heutiges Selbstverständnis besitzt und welche Bedeutung die jeweilige Disziplin den Geschichtswissenschaften beimisst. In diesem Zusammenhang erlaube
1. Es gibt eine quasi-kanonisierte Geschichtsschreibung der
> Kriminologie, die sich z.B. in nahezu allen Kriminologie-Lehrbüchern
> findet. Das Muster ist denkbar schlicht: Vorläufer, klassische
> Schule (Beccaria), Moralstatistiker (Quetelet), positive Schule
> (Lombroso), heutige Kriminologie.
> 2. Es gibt aber auch eine ungewöhnlich intensive Auseinandersetzung
> darum, wer denn nun "wirklich" der Vater der Kriminologie und wer
> nur Vorläufer oder Irrläufer gewesen sei. Die Matadore als
> potentielle Väter sind: Lombroso oder Beccaria oder die
> Moralstatistiker. Es gibt aber auch Außenseiter-Kandidaten wie Hans
> Gross.
> 3. Der Grund für die besondere Intensität der Auseinandersetzung ist
> in der Funktion der Geschichtsschreibung für die Gegenwart und die
> Zukunft zu suchen. In dem Gemenge der Disziplinen, die sich in der
> Kriminologie tummeln, wollen verschiedene jeweils die Leit-Disziplin
> sein (Status, Reputation, Ressourcen, kriminalpolitische
> Leitfunktion). Beispiele für Phasen dieses Konflikts: Streit um den
> "Lombrosian Myth in Criminology"; aber auch: Sutherland/Glueck;
> 1960er Jahre in Deutschland.
> 4. Wenig aufgearbeitet ist nach wie vor die Geschichte der
> Kriminologie 1933-1945. Einen Grund dafür kann man in den üblichen Interessenkonflikten vermuten, die auch andere Disziplinen behinderten (Selbstschutz der akademischen Lehrer: Kritik als Karrierehindernis). Dreier. Streng. Allerdings oberflächlich geblieben. Und zu hart gegenüber Exner, zu weich gegenüber von Hentig, und wohl auch Mezger. Munoz-Conde. Speziell kommt bei der Kriminologie noch ein weiterer Punkt hinzu. Das explosive Potential für die Grundfesten, die axiomatische Basis der Kriminologie sozusagen.
2. Die Aufarbeitung der Geschichte aller anderen Wissenschaften im Dritten Reich würde nicht die Parameter selbst in Frage stellen: die grundlegenden Theorien der Geografie, der Mathematik, der Physik, der Soziologie. Genau das müsste aber bei einer Reflexion der Geschichte der Kriminologie im Dritten Reich passieren. Warum?
3. Die Kriminologie existiert als Wissenschaft nur, weil und insofern sie die staatliche
> Perspektive auf Ordnung/Unordnung, Recht/Unrecht usw. übernimmt. Den
> Staat als Täter nicht nur de-kontextualisiert gelegentlich einmal zu
> thematisieren, sondern in die Kriminalitäts- und Täter-Theorien
> aufzunehmen, brächte die Parameter der Disziplin ins Wanken.
> Interessant sind Seitenblicke auf Leute, die das versucht haben:
> Wayne Morrisson, Peter Strasser, Anne-Eva Brauneck, aber auch Henner
> Hess mit seinem "Repressiven Verbrechen".
> 5. Anregung für eine künftige Kriminologie-Geschichte kommt von
> außen: 1. Nietzsche, Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben,
> 2. Peter Becker, Wetzell u.a. aus der Geschichtswissenschaft selbst
> (inklusive Silviana Galassi). In Argentinien entwickeln sie gerade
> mit Alvaro Pires (Kanada) eine Geschichte der Kriminologie als
> Geschichte des Wissens mit foucaldischen Anklängen. Auch sehr schön.
*Die Heftigkeit der Vaterschafts-Ansprüche und -Konflikte hängt mit dem Kampf um die Hegemonie zusammen. Der Kampf um die Leitwissenschaft hängt mit gesellschaftspolitischen Präferenzen zusammen. Wissenschaft und Politik: aktive und passive Funktion.
[[Kriminologie in Deutschland und Kriminologie in den USA]]


== Zitate ==
* "Rechtsgeschichte als Immunschutz vor (allzu) Aktuellem“ nennt sich der Beitrag von Gerhard Lingelbach, der Rechtsgeschichte ansieht als Bildung durch die Methode des Denkens, Wissen um Zusammenhänge und Einbindung eines Rechtsinstituts, „Würzung“ der Lehre. Sie vermag Werden und Vergehen von Rechtsinstitutionen überhaupt erst verständlich zu machen und populistische Forderungen zu mäßigen oder verhindern und die Chancen für die Stabilität in der Wertordnung zu vergrößern. - Koebler
* "Rechtsgeschichte als Immunschutz vor (allzu) Aktuellem“ nennt sich der Beitrag von Gerhard Lingelbach, der Rechtsgeschichte ansieht als Bildung durch die Methode des Denkens, Wissen um Zusammenhänge und Einbindung eines Rechtsinstituts, „Würzung“ der Lehre. Sie vermag Werden und Vergehen von Rechtsinstitutionen überhaupt erst verständlich zu machen und populistische Forderungen zu mäßigen oder verhindern und die Chancen für die Stabilität in der Wertordnung zu vergrößern. - Koebler


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== Literatur ==
== Literatur ==
*[http://books.google.de/books?id=cJj1qklt1msC&pg=PA1&lpg=PA1&dq=Achter+Geburt+der+Strafe&source=bl&ots=KYa1KM5FWA&sig=NUuzV0bgZhQZBnOH11xqNcrpBkA&hl=en&sa=X&ei=n1_IUae4E6Wl4AS3oYDYDg&ved=0CCwQ6AEwAA Achter, Viktor (1951) Geburt der Strafe. Frankfurt a.M.: Klostermann].
*[http://books.google.de/books?id=cJj1qklt1msC&pg=PA1&lpg=PA1&dq=Achter+Geburt+der+Strafe&source=bl&ots=KYa1KM5FWA&sig=NUuzV0bgZhQZBnOH11xqNcrpBkA&hl=en&sa=X&ei=n1_IUae4E6Wl4AS3oYDYDg&ved=0CCwQ6AEwAA Achter, Viktor (1951) Geburt der Strafe. Frankfurt a.M.: Klostermann].


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*Lincoln  (2010) Crime over time.
*Lincoln  (2010) Crime over time.
*Lombroso, Cesare (1894) Homo delinquens. Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, übers. von M. O. Fraenkel, Bd. 1, Hamburg: Verlagsanstalt und Druckerei A.-G. (vorm. J. F. Richter).
*Wieacker, Franz (1996) Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Unveränderter Nachdruck der 2., neubearbeiteten Aufl. 1967. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
*Wieacker, Franz (1996) Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. Unveränderter Nachdruck der 2., neubearbeiteten Aufl. 1967. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.


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*Streng, 1993
*Streng, 1993
*Sutherland, Edwin H. and Donald Cressey (1974) [http://en.wikipedia.org/wiki/Principles_of_Criminology Principles of Criminology]. Chicago, Philadelphia: Lippincott.
*Sutherland, Edwin H. and Donald Cressey (1974) [http://en.wikipedia.org/wiki/Principles_of_Criminology Principles of Criminology]. Chicago, Philadelphia: Lippincott.
*Telp, Jan (1999) Ausmerzung und Verrat. Zur Diskussion um Strafzwecke und Verbrechensbegriffe im Dritten Reich. (Rechtshistorische Reihe; Bd. 192). Lang, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-631-34170-9; Zugl. München, Univ., Diss., 1998, insbesondere S. 161-206


*Thome, Helmut (2004) Theoretische Ansätze zur Erklärung langfristiger Gewaltkriminalität seit Beginn der Neuzeit. In: W. Heitmeyer/H.-G. Soeffner (Hg.), Gewalt: Entwicklungen, Strukturen, Analyseproblem. Frankfurt: Suhrkamp, 315–345.
*Thome, Helmut (2004) Theoretische Ansätze zur Erklärung langfristiger Gewaltkriminalität seit Beginn der Neuzeit. In: W. Heitmeyer/H.-G. Soeffner (Hg.), Gewalt: Entwicklungen, Strukturen, Analyseproblem. Frankfurt: Suhrkamp, 315–345.
*Thompson, Edward P. (1975) Whigs and Hunters: The Origin of the Black Act, London: Allen Lane (with a new postscript, Harmondsworth: Penguin, 1977; London: Breviary Stuff Publications, 2013, ISBN 978-0-9570005-2-0).
*Thompson, Edward P. (1975) Whigs and Hunters: The Origin of the Black Act, London: Allen Lane (with a new postscript, Harmondsworth: Penguin, 1977; London: Breviary Stuff Publications, 2013, ISBN 978-0-9570005-2-0).
*Thompson, Edward P., ed., (1975) Albion's Fatal Tree: Crime and Society in Eighteenth Century England, London: Allen Lane.
*Thompson, Edward P., ed., (1975) Albion's Fatal Tree: Crime and Society in Eighteenth Century England, London: Allen Lane.
**Thulfaut, Gerit (2000) Kriminalpolitik und Strafrechtslehre bei Edmund Mezger (1883-1962). Nomos, Baden-Baden.
*van Dülmen, Richard (1995) Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit.4. Aufl. München: C.H. Beck.
*van Dülmen, Richard (1995) Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit.4. Aufl. München: C.H. Beck.


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*[http://www.amazon.de/Geschichte-Kriminologie-Martin-Zimmermann/dp/3656014728 Zimmermann, Martin (2011) Geschichte der Kriminologie. Studienarbeit. GRIN-Verlag]
*[http://www.amazon.de/Geschichte-Kriminologie-Martin-Zimmermann/dp/3656014728 Zimmermann, Martin (2011) Geschichte der Kriminologie. Studienarbeit. GRIN-Verlag]
== Reste ==
Welche Rolle spielt eigentlich die historische Dimension in der Kriminologie? Welche Bedeutung misst die Kriminologie selbst der Geschichte und der Geschichtswissenschaft bei? Was hat die Historie der empirischen Wissenschaft vom Verbrechen, die sich traditionell mit den Ursachen der Kriminalität und mit verschiedenen Methoden der Prävention und Reaktion befasst, heute noch oder wieder oder immer noch zu sagen?
Nietzsche: man könnte sich drei historien vorstellen, Walter Benjamin.
welche Bedeutung die Geschichte des Faches für deren heutiges Selbstverständnis besitzt und welche Bedeutung die jeweilige Disziplin den Geschichtswissenschaften beimisst. In diesem Zusammenhang erlaube
1. Es gibt eine quasi-kanonisierte Geschichtsschreibung der
> Kriminologie, die sich z.B. in nahezu allen Kriminologie-Lehrbüchern
> findet. Das Muster ist denkbar schlicht: Vorläufer, klassische
> Schule (Beccaria), Moralstatistiker (Quetelet), positive Schule
> (Lombroso), heutige Kriminologie.
> 2. Es gibt aber auch eine ungewöhnlich intensive Auseinandersetzung
> darum, wer denn nun "wirklich" der Vater der Kriminologie und wer
> nur Vorläufer oder Irrläufer gewesen sei. Die Matadore als
> potentielle Väter sind: Lombroso oder Beccaria oder die
> Moralstatistiker. Es gibt aber auch Außenseiter-Kandidaten wie Hans
> Gross.
> 3. Der Grund für die besondere Intensität der Auseinandersetzung ist
> in der Funktion der Geschichtsschreibung für die Gegenwart und die
> Zukunft zu suchen. In dem Gemenge der Disziplinen, die sich in der
> Kriminologie tummeln, wollen verschiedene jeweils die Leit-Disziplin
> sein (Status, Reputation, Ressourcen, kriminalpolitische
> Leitfunktion). Beispiele für Phasen dieses Konflikts: Streit um den
> "Lombrosian Myth in Criminology"; aber auch: Sutherland/Glueck;
> 1960er Jahre in Deutschland.
> 4. Wenig aufgearbeitet ist nach wie vor die Geschichte der
> Kriminologie 1933-1945. Einen Grund dafür kann man in den üblichen Interessenkonflikten vermuten, die auch andere Disziplinen behinderten (Selbstschutz der akademischen Lehrer: Kritik als Karrierehindernis). Dreier. Streng. Allerdings oberflächlich geblieben. Und zu hart gegenüber Exner, zu weich gegenüber von Hentig, und wohl auch Mezger. Munoz-Conde. Speziell kommt bei der Kriminologie noch ein weiterer Punkt hinzu. Das explosive Potential für die Grundfesten, die axiomatische Basis der Kriminologie sozusagen.
2. Die Aufarbeitung der Geschichte aller anderen Wissenschaften im Dritten Reich würde nicht die Parameter selbst in Frage stellen: die grundlegenden Theorien der Geografie, der Mathematik, der Physik, der Soziologie. Genau das müsste aber bei einer Reflexion der Geschichte der Kriminologie im Dritten Reich passieren. Warum?
3. Die Kriminologie existiert als Wissenschaft nur, weil und insofern sie die staatliche
> Perspektive auf Ordnung/Unordnung, Recht/Unrecht usw. übernimmt. Den
> Staat als Täter nicht nur de-kontextualisiert gelegentlich einmal zu
> thematisieren, sondern in die Kriminalitäts- und Täter-Theorien
> aufzunehmen, brächte die Parameter der Disziplin ins Wanken.
> Interessant sind Seitenblicke auf Leute, die das versucht haben:
> Wayne Morrisson, Peter Strasser, Anne-Eva Brauneck, aber auch Henner
> Hess mit seinem "Repressiven Verbrechen".
> 5. Anregung für eine künftige Kriminologie-Geschichte kommt von
> außen: 1. Nietzsche, Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben,
> 2. Peter Becker, Wetzell u.a. aus der Geschichtswissenschaft selbst
> (inklusive Silviana Galassi). In Argentinien entwickeln sie gerade
> mit Alvaro Pires (Kanada) eine Geschichte der Kriminologie als
> Geschichte des Wissens mit foucaldischen Anklängen. Auch sehr schön.
*Die Heftigkeit der Vaterschafts-Ansprüche und -Konflikte hängt mit dem Kampf um die Hegemonie zusammen. Der Kampf um die Leitwissenschaft hängt mit gesellschaftspolitischen Präferenzen zusammen. Wissenschaft und Politik: aktive und passive Funktion.
[[Kriminologie in Deutschland und Kriminologie in den USA]]
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