Kriminologie und Geschichte: Unterschied zwischen den Versionen

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Wir haben gesehen: Geschichte und Kriminologie haben sich in den letzten Jahren angenähert. Und dennoch sind sie noch lange nicht das Traumpaar, das sie darstellen könnten. Für eine solche Feststellung bedarf es natürlich einer gewissen Vorstellung darüber, wann sie denn ein solches Traumpaar wären und wie man das erkennen könnte. Dafür müssen wir neben unserem Realitäts- auch unseren Möglichkeitssinn aktivieren, jene von Robert Musil beschriebene Fähigkeit, das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist - und angesichts des So-Seins der Verhältnisse immer zugleich auch zu denken: ''Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein''. Vor allem: dass es besser sein könnte.
Wir haben gesehen: Geschichte und Kriminologie haben sich in den letzten Jahren angenähert. Und dennoch sind sie noch lange nicht das Traumpaar, das sie darstellen könnten. Für eine solche Feststellung bedarf es natürlich einer gewissen Vorstellung darüber, wann sie denn ein solches Traumpaar wären und wie man das erkennen könnte. Dafür müssen wir neben unserem Realitäts- auch unseren Möglichkeitssinn aktivieren, jene von Robert Musil beschriebene Fähigkeit, das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist - und angesichts des So-Seins der Verhältnisse immer zugleich auch zu denken: ''Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein''. Vor allem: dass es besser sein könnte.
Welche Rolle spielt eigentlich die historische Dimension in der Kriminologie? Welche Bedeutung misst die Kriminologie selbst der Geschichte und der Geschichtswissenschaft bei? Was hat die Historie der empirischen Wissenschaft vom Verbrechen, die sich traditionell mit den Ursachen der Kriminalität und mit verschiedenen Methoden der Prävention und Reaktion befasst, heute noch oder wieder oder immer noch zu sagen?
Nietzsche: man könnte sich drei historien vorstellen, Walter Benjamin.
welche Bedeutung die Geschichte des Faches für deren heutiges Selbstverständnis besitzt und welche Bedeutung die jeweilige Disziplin den Geschichtswissenschaften beimisst. In diesem Zusammenhang erlaube
1. Es gibt eine quasi-kanonisierte Geschichtsschreibung der
> Kriminologie, die sich z.B. in nahezu allen Kriminologie-Lehrbüchern
> findet. Das Muster ist denkbar schlicht: Vorläufer, klassische
> Schule (Beccaria), Moralstatistiker (Quetelet), positive Schule
> (Lombroso), heutige Kriminologie.
> 2. Es gibt aber auch eine ungewöhnlich intensive Auseinandersetzung
> darum, wer denn nun "wirklich" der Vater der Kriminologie und wer
> nur Vorläufer oder Irrläufer gewesen sei. Die Matadore als
> potentielle Väter sind: Lombroso oder Beccaria oder die
> Moralstatistiker. Es gibt aber auch Außenseiter-Kandidaten wie Hans
> Gross.
> 3. Der Grund für die besondere Intensität der Auseinandersetzung ist
> in der Funktion der Geschichtsschreibung für die Gegenwart und die
> Zukunft zu suchen. In dem Gemenge der Disziplinen, die sich in der
> Kriminologie tummeln, wollen verschiedene jeweils die Leit-Disziplin
> sein (Status, Reputation, Ressourcen, kriminalpolitische
> Leitfunktion). Beispiele für Phasen dieses Konflikts: Streit um den
> "Lombrosian Myth in Criminology"; aber auch: Sutherland/Glueck;
> 1960er Jahre in Deutschland.
> 4. Wenig aufgearbeitet ist nach wie vor die Geschichte der
> Kriminologie 1933-1945. Einen Grund dafür kann man in den üblichen Interessenkonflikten vermuten, die auch andere Disziplinen behinderten (Selbstschutz der akademischen Lehrer: Kritik als Karrierehindernis). Dreier. Streng. Allerdings oberflächlich geblieben. Und zu hart gegenüber Exner, zu weich gegenüber von Hentig, und wohl auch Mezger. Munoz-Conde. Speziell kommt bei der Kriminologie noch ein weiterer Punkt hinzu. Das explosive Potential für die Grundfesten, die axiomatische Basis der Kriminologie sozusagen.
2. Die Aufarbeitung der Geschichte aller anderen Wissenschaften im Dritten Reich würde nicht die Parameter selbst in Frage stellen: die grundlegenden Theorien der Geografie, der Mathematik, der Physik, der Soziologie. Genau das müsste aber bei einer Reflexion der Geschichte der Kriminologie im Dritten Reich passieren. Warum?
3. Die Kriminologie existiert als Wissenschaft nur, weil und insofern sie die staatliche
> Perspektive auf Ordnung/Unordnung, Recht/Unrecht usw. übernimmt. Den
> Staat als Täter nicht nur de-kontextualisiert gelegentlich einmal zu
> thematisieren, sondern in die Kriminalitäts- und Täter-Theorien
> aufzunehmen, brächte die Parameter der Disziplin ins Wanken.
> Interessant sind Seitenblicke auf Leute, die das versucht haben:
> Wayne Morrisson, Peter Strasser, Anne-Eva Brauneck, aber auch Henner
> Hess mit seinem "Repressiven Verbrechen".
> 5. Anregung für eine künftige Kriminologie-Geschichte kommt von
> außen: 1. Nietzsche, Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben,
> 2. Peter Becker, Wetzell u.a. aus der Geschichtswissenschaft selbst
> (inklusive Silviana Galassi). In Argentinien entwickeln sie gerade
> mit Alvaro Pires (Kanada) eine Geschichte der Kriminologie als
> Geschichte des Wissens mit foucaldischen Anklängen. Auch sehr schön.
*Die Heftigkeit der Vaterschafts-Ansprüche und -Konflikte hängt mit dem Kampf um die Hegemonie zusammen. Der Kampf um die Leitwissenschaft hängt mit gesellschaftspolitischen Präferenzen zusammen. Wissenschaft und Politik: aktive und passive Funktion.
[[Kriminologie in Deutschland und Kriminologie in den USA]]


* "Rechtsgeschichte als Immunschutz vor (allzu) Aktuellem“ nennt sich der Beitrag von Gerhard Lingelbach, der Rechtsgeschichte ansieht als Bildung durch die Methode des Denkens, Wissen um Zusammenhänge und Einbindung eines Rechtsinstituts, „Würzung“ der Lehre. Sie vermag Werden und Vergehen von Rechtsinstitutionen überhaupt erst verständlich zu machen und populistische Forderungen zu mäßigen oder verhindern und die Chancen für die Stabilität in der Wertordnung zu vergrößern. - Koebler
* "Rechtsgeschichte als Immunschutz vor (allzu) Aktuellem“ nennt sich der Beitrag von Gerhard Lingelbach, der Rechtsgeschichte ansieht als Bildung durch die Methode des Denkens, Wissen um Zusammenhänge und Einbindung eines Rechtsinstituts, „Würzung“ der Lehre. Sie vermag Werden und Vergehen von Rechtsinstitutionen überhaupt erst verständlich zu machen und populistische Forderungen zu mäßigen oder verhindern und die Chancen für die Stabilität in der Wertordnung zu vergrößern. - Koebler
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*[http://www.amazon.de/Geschichte-Kriminologie-Martin-Zimmermann/dp/3656014728 Zimmermann, Martin (2011) Geschichte der Kriminologie. Studienarbeit. GRIN-Verlag]
*[http://www.amazon.de/Geschichte-Kriminologie-Martin-Zimmermann/dp/3656014728 Zimmermann, Martin (2011) Geschichte der Kriminologie. Studienarbeit. GRIN-Verlag]
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Welche Rolle spielt eigentlich die historische Dimension in der Kriminologie? Welche Bedeutung misst die Kriminologie selbst der Geschichte und der Geschichtswissenschaft bei? Was hat die Historie der empirischen Wissenschaft vom Verbrechen, die sich traditionell mit den Ursachen der Kriminalität und mit verschiedenen Methoden der Prävention und Reaktion befasst, heute noch oder wieder oder immer noch zu sagen?
Nietzsche: man könnte sich drei historien vorstellen, Walter Benjamin.
welche Bedeutung die Geschichte des Faches für deren heutiges Selbstverständnis besitzt und welche Bedeutung die jeweilige Disziplin den Geschichtswissenschaften beimisst. In diesem Zusammenhang erlaube
1. Es gibt eine quasi-kanonisierte Geschichtsschreibung der
> Kriminologie, die sich z.B. in nahezu allen Kriminologie-Lehrbüchern
> findet. Das Muster ist denkbar schlicht: Vorläufer, klassische
> Schule (Beccaria), Moralstatistiker (Quetelet), positive Schule
> (Lombroso), heutige Kriminologie.
> 2. Es gibt aber auch eine ungewöhnlich intensive Auseinandersetzung
> darum, wer denn nun "wirklich" der Vater der Kriminologie und wer
> nur Vorläufer oder Irrläufer gewesen sei. Die Matadore als
> potentielle Väter sind: Lombroso oder Beccaria oder die
> Moralstatistiker. Es gibt aber auch Außenseiter-Kandidaten wie Hans
> Gross.
> 3. Der Grund für die besondere Intensität der Auseinandersetzung ist
> in der Funktion der Geschichtsschreibung für die Gegenwart und die
> Zukunft zu suchen. In dem Gemenge der Disziplinen, die sich in der
> Kriminologie tummeln, wollen verschiedene jeweils die Leit-Disziplin
> sein (Status, Reputation, Ressourcen, kriminalpolitische
> Leitfunktion). Beispiele für Phasen dieses Konflikts: Streit um den
> "Lombrosian Myth in Criminology"; aber auch: Sutherland/Glueck;
> 1960er Jahre in Deutschland.
> 4. Wenig aufgearbeitet ist nach wie vor die Geschichte der
> Kriminologie 1933-1945. Einen Grund dafür kann man in den üblichen Interessenkonflikten vermuten, die auch andere Disziplinen behinderten (Selbstschutz der akademischen Lehrer: Kritik als Karrierehindernis). Dreier. Streng. Allerdings oberflächlich geblieben. Und zu hart gegenüber Exner, zu weich gegenüber von Hentig, und wohl auch Mezger. Munoz-Conde. Speziell kommt bei der Kriminologie noch ein weiterer Punkt hinzu. Das explosive Potential für die Grundfesten, die axiomatische Basis der Kriminologie sozusagen.
2. Die Aufarbeitung der Geschichte aller anderen Wissenschaften im Dritten Reich würde nicht die Parameter selbst in Frage stellen: die grundlegenden Theorien der Geografie, der Mathematik, der Physik, der Soziologie. Genau das müsste aber bei einer Reflexion der Geschichte der Kriminologie im Dritten Reich passieren. Warum?
3. Die Kriminologie existiert als Wissenschaft nur, weil und insofern sie die staatliche
> Perspektive auf Ordnung/Unordnung, Recht/Unrecht usw. übernimmt. Den
> Staat als Täter nicht nur de-kontextualisiert gelegentlich einmal zu
> thematisieren, sondern in die Kriminalitäts- und Täter-Theorien
> aufzunehmen, brächte die Parameter der Disziplin ins Wanken.
> Interessant sind Seitenblicke auf Leute, die das versucht haben:
> Wayne Morrisson, Peter Strasser, Anne-Eva Brauneck, aber auch Henner
> Hess mit seinem "Repressiven Verbrechen".
> 5. Anregung für eine künftige Kriminologie-Geschichte kommt von
> außen: 1. Nietzsche, Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben,
> 2. Peter Becker, Wetzell u.a. aus der Geschichtswissenschaft selbst
> (inklusive Silviana Galassi). In Argentinien entwickeln sie gerade
> mit Alvaro Pires (Kanada) eine Geschichte der Kriminologie als
> Geschichte des Wissens mit foucaldischen Anklängen. Auch sehr schön.
*Die Heftigkeit der Vaterschafts-Ansprüche und -Konflikte hängt mit dem Kampf um die Hegemonie zusammen. Der Kampf um die Leitwissenschaft hängt mit gesellschaftspolitischen Präferenzen zusammen. Wissenschaft und Politik: aktive und passive Funktion.
[[Kriminologie in Deutschland und Kriminologie in den USA]]
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