Kriminologie und Geschichte: Unterschied zwischen den Versionen

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Die ''in statu nascendi'' begriffene Kriminologie war Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur deshalb uninteressiert an der Gesellschafts-Geschichte, weil sie mit der Gegenwart der Massenkriminalität einschließlich der damals virulenten politischen Kriminalität insbesondere seitens der sogenannten "gefährlichen Klassen", der "classes dangereuses", alle Hände voll zu tun hatte - die Welle politischer Verbrechen, die damals über ganz Europa und die USA hinweg sich ergoss, ist heute ja weitgehend vergessen: dass es 1883 ein Attentat auf den deutschen Kaiser gegeben hatte, dass 1892 in Amerika fünfhundert und in Europa mehr als tausend Sprengstoff-Attentate registriert wurden, dass 1894 der französische Präsident, 1898 die österreichische Kaiserin Elisabeth, 1900 der italienische König Umberto Opfer von Attentaten geworden waren und so weiter und so fort ... - sondern vor allem, weil ihre wichtigste Bezugswissenschaft zur damaligen Zeit nicht die Gesellschafts-, sondern die Naturgeschichte war.
Die ''in statu nascendi'' begriffene Kriminologie war Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur deshalb uninteressiert an der Gesellschafts-Geschichte, weil sie mit der Gegenwart der Massenkriminalität einschließlich der damals virulenten politischen Kriminalität insbesondere seitens der sogenannten "gefährlichen Klassen", der "classes dangereuses", alle Hände voll zu tun hatte - die Welle politischer Verbrechen, die damals über ganz Europa und die USA hinweg sich ergoss, ist heute ja weitgehend vergessen: dass es 1883 ein Attentat auf den deutschen Kaiser gegeben hatte, dass 1892 in Amerika fünfhundert und in Europa mehr als tausend Sprengstoff-Attentate registriert wurden, dass 1894 der französische Präsident, 1898 die österreichische Kaiserin Elisabeth, 1900 der italienische König Umberto Opfer von Attentaten geworden waren und so weiter und so fort ... - sondern vor allem, weil ihre wichtigste Bezugswissenschaft zur damaligen Zeit nicht die Gesellschafts-, sondern die Naturgeschichte war.


Wie es vor kurzem der Historiker Peter Becker (2002) in seinem Buch ''Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis'' zeigte, war die Abwendung vom moralischen, sozialen und historischen Denken hin zum naturwissenschaftlichen geradezu das Markenzeichen der beginnenden Ambitionen der damaligen Zeit, nunmehr auf wissenschaftliche Art und Weise über Verbrechen und Strafen nachzudenken. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war das dominierende Erzählmuster das er moralischen Verderbnis. Ein ursprünglich ehrlicher, in Familie und Gemeinde integrierter, fleißiger Mann kommt durch den Alkohol, das Glücksspiel, durch sexuelle Versuchungen oder andere Schwächen seines Charakters vom rechten Wege ab und gleitet in die Welt der Unehrlichkeit und des Verbrechens ab. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts dann gewinnt ein anderes Erzählmuster die Oberhand, wenn es um die Frage nach den Ursachen des Verbrechens geht. 1859 publiziert Charles Darwin The Origin of Species. Nun taucht der Gedanke auf, dass der Mensch vielleicht gar nichts dafür kann, weil er vielleicht aus der Art geschlagen und biologisch dazu verdammt ist, seine verbrecherischen Anlagen auszuleben. Das sollte den Diskurs über das Verbrechen transformieren: die gängigen populären Vorstellungen von der Entstehung von Straftaten und Straftätern beinhalteten immer seltener die überkommenen Bilder der schiefen Ebene, der falschen Bahn, auf die ein zunächst unbescholtener Bürger durch Alkohol, Glücksspiel oder verbotene Sexualität geriet - und immer häufiger die Vorstellung einer biologischen Entartung, einer Degeneration (Morel) oder eines Atavismus (Lombroso), die bestimmten Menschen in die Wiege gelegt war und an der sich nur wenig ändern ließ. Die damaligen wissenschaftlichen Diskurse über Kriminalität waren zwar gespalten, aber die größte Faszination ging zweifellos von denjenigen Forschern aus, die ihre Erklärungsversuche an der biologischen Evolutionstheorie Charles Darwins festmachen konnten.
Wie es vor kurzem der Historiker Peter Becker (2002) in seinem Buch ''Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis'' zeigte, war die Abwendung vom moralischen, sozialen und historischen Denken hin zum naturwissenschaftlichen geradezu das Markenzeichen der beginnenden Ambitionen der damaligen Zeit, nunmehr auf wissenschaftliche Art und Weise über Verbrechen und Strafen nachzudenken. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war das dominierende Erzählmuster das er moralischen Verderbnis. Ein ursprünglich ehrlicher, in Familie und Gemeinde integrierter, fleißiger Mann kommt durch den Alkohol, das Glücksspiel, durch sexuelle Versuchungen oder andere Schwächen seines Charakters vom rechten Wege ab und gleitet in die Welt der Unehrlichkeit und des Verbrechens ab. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts dann gewinnt ein anderes Erzählmuster die Oberhand, wenn es um die Frage nach den Ursachen des Verbrechens geht. 1859 publiziert Charles Darwin ''The Origin of Species''. Nun taucht der Gedanke der Anlage zum Verbrechen aufgrund biologischer Faktoren auf: und es wurde geradezu um Ausweis einer wissenschaftlichen Erklärung, dass sie einem naturwissenschaftlichen Ansatz folgte. Zur Auswahl standen vor allem die Degenerationstheorie Morels und die Atavismustheorie Lombrosos; weit abgeschlagen fanden sich die Lyoner Schule von Alexandre Lacassagne ("Die Gesellschaften haben die Verbrechen, die sie verdienen") und die Imitationstheorie von Gabriel Tarde, geschweige denn die Erklärungen der sogenannten Moralstatistiker wie Adolphe Quetelet und Andé-Michel Guerry.  
 
Die damaligen wissenschaftlichen Diskurse über Kriminalität waren zwar gespalten, aber die größte Faszination ging zweifellos von denjenigen Forschern aus, die ihre Erklärungsversuche an der biologischen Evolutionstheorie Charles Darwins festmachen konnten.
   
   


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