Kriminologie und Geschichte: Unterschied zwischen den Versionen

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Dieses Nicht-Verhältnis war ausgesprochen stabil, weil das Desinteresse eben beide Seiten charakterisierte. Die Geschichtswissenschaft interessierte sich 1885 mehr für den Aufstieg und Fall großer Reiche und großer Herrscher mit ihren Siegen und Niederlagen, Kriegserklärungen und Friedensschlüssen. Es bedurfte also der Wende hin zur Alltags-, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, bis diese Disziplin sich für so triviale Dinge wie Straftaten, ihre Verfolgung und Sanktionierung interessierte. Laut Gerd Schwerhoff (2011:1) "taten sich" die Historiker - im Gegensatz etwa zu Juristen und Soziologen - "meist schwer mit dem Thema 'Kriminalität'", so dass es jedenfalls "im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten (waren), die sich mit Kriminalität beschäftigten."
Dieses Nicht-Verhältnis war ausgesprochen stabil, weil das Desinteresse eben beide Seiten charakterisierte. Die Geschichtswissenschaft interessierte sich 1885 mehr für den Aufstieg und Fall großer Reiche und großer Herrscher mit ihren Siegen und Niederlagen, Kriegserklärungen und Friedensschlüssen. Es bedurfte also der Wende hin zur Alltags-, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, bis diese Disziplin sich für so triviale Dinge wie Straftaten, ihre Verfolgung und Sanktionierung interessierte. Laut Gerd Schwerhoff (2011:1) "taten sich" die Historiker - im Gegensatz etwa zu Juristen und Soziologen - "meist schwer mit dem Thema 'Kriminalität'", so dass es jedenfalls "im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten (waren), die sich mit Kriminalität beschäftigten."


Noch deutlicher als das mangelnde Interesse der Historiker an der Kriminalität war aber das Desinteresse der Kriminologen an der Geschichte. Das hing nicht nur damit zusammen, dass die Kriminologie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ganz und gar mit vom brennenden Problem der Massenkriminalität der sogenannten ''dangerous classes'' und der Mobilisierung von Abwehrkräften gegen die ''Armee von Verbrechern'' absorbiert war, die Wohlfahrt und Zusammenhalt der Gesellschaft und vor allem auch die Existenz der hierarchischen Ordnung der damaligen Klassengesellschaften bedrohte, sondern mehr noch mit ihrer wissenschaftstheoretischen Ausrichtung in der damaligen Zeit. 1859 war Charles Darwins The Origin of Species erschienen. Seither war der Diskurs über das Verbrechen transformiert: die gängigen populären Vorstellungen von der Entstehung von Straftaten und Straftätern beinhalteten immer seltener die überkommenen Bilder der schiefen Ebene, der falschen Bahn, auf die ein zunächst unbescholtener Bürger durch Alkohol, Glücksspiel oder verbotene Sexualität geriet - und immer häufiger die Vorstellung einer biologischen Entartung, einer Degeneration (Morel) oder eines Atavismus (Lombroso), die bestimmten Menschen leider in die Wiege gelegt war und an der sich nur wenig ändern ließ. Die damaligen wissenschaftlichen Diskurse über Kriminalität waren zwar gespalten, aber die größte Faszination ging zweifellos von denjenigen Forschern aus, die ihre Erklärungsversuche an der biologischen Evolutionstheorie Charles Darwins festmachen konnten.
Die ''in statu nascendi'' begriffene Kriminologie war Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur deshalb uninteressiert an der Geschichte, weil sie mit der Gegenwart der Massenkriminalität einschließlich der damals virulenten politischen Kriminalität insbesondere seitens der sogenannten "gefährlichen Klassen", der "classes dangereuses", alle Hände voll zu tun hatte, sondern vor allem, weil ihre wichtigste Bezugswissenschaft zur damaligen Zeit nicht die Gesellschafts-, sondern die Naturgeschichte darstellte, genauer: die Evolutionsbiologie, wie sie sich seit 1859, seit der Publikation von Charles Darwins ''The Origin of Species'', darstellte.
 
Seither war der Diskurs über das Verbrechen transformiert: die gängigen populären Vorstellungen von der Entstehung von Straftaten und Straftätern beinhalteten immer seltener die überkommenen Bilder der schiefen Ebene, der falschen Bahn, auf die ein zunächst unbescholtener Bürger durch Alkohol, Glücksspiel oder verbotene Sexualität geriet - und immer häufiger die Vorstellung einer biologischen Entartung, einer Degeneration (Morel) oder eines Atavismus (Lombroso), die bestimmten Menschen leider in die Wiege gelegt war und an der sich nur wenig ändern ließ. Die damaligen wissenschaftlichen Diskurse über Kriminalität waren zwar gespalten, aber die größte Faszination ging zweifellos von denjenigen Forschern aus, die ihre Erklärungsversuche an der biologischen Evolutionstheorie Charles Darwins festmachen konnten.


Zwar wird mit Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass die Theorien des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen [[Cesare Lombroso]] mehrheitlich auf Ablehnung stießen (Baer, Näke, v. Liszt), doch ist ebenso eindeutig nachweisbar, dass die Kriminologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich auf die eine oder andere Weise doch ganz überwiegend auf der Suche nach Tätertypen befand und dass der Gedanke an biologisch (oder anders) prädeterminierte Delinquenz den Diskurs der Disziplin in diesen Jahrzehnten dominierte. Lombroso, der seine wichtigsten Werke zwischen 1876 und 1909 veröffentlichte, war zu der Überzeugung gelangt, dass manche Menschen zwar aufgrund von sozialen Umständen oder Zufällen zu Straftätern würden, dass aber die wirklichen Verbrecher von der Natur dazu bestimmt worden seien. Die "geborenen Verbrecher" (Enrico Ferri) unterschieden sich von normalen Menschen durch körperliche Merkmale. Biologisch sei der ''homo delinquens'', bzw. der ''homo criminalis'' eine Unterart des ''homo sapiens'', und zwar Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts, bzw. eines evolutionären Rückschlags, auch [http://de.wikipedia.org/wiki/Atavismus Atavismus] genannt. Nach seiner eigenen, später von seiner Tochter und Mitarbeiterin Gina noch ausgeschmückten, Darstellung machte Lombroso diese Entdeckung im Jahre 1872, als er die Hirnschale eines damals berühmt-berüchtigten Räubers namens [[Giuseppe Villella]] in Händen hielt. Dieser Totenschädel war anders als die anderen: da waren "die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen", wie sie nur "bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden", das alles wiederum gepaart mit dem, was man über die Verbrecher sowieso schon wusste, sich aber nicht erklären konnte: "die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen" - all dies fügte sich beim Anblick dieses Verbrecherschädels zu einer neuartigen Erkenntnis: "Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt." Lombroso und seinen Mitstreitern gelang es sogar, den Typus des Diebes vom Typus des Vergewaltigers und diesen vom Typus des Mörders aufgrund körperlicher Merkmale zu unterscheiden. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)): „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“
Zwar wird mit Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass die Theorien des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen [[Cesare Lombroso]] mehrheitlich auf Ablehnung stießen (Baer, Näke, v. Liszt), doch ist ebenso eindeutig nachweisbar, dass die Kriminologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich auf die eine oder andere Weise doch ganz überwiegend auf der Suche nach Tätertypen befand und dass der Gedanke an biologisch (oder anders) prädeterminierte Delinquenz den Diskurs der Disziplin in diesen Jahrzehnten dominierte. Lombroso, der seine wichtigsten Werke zwischen 1876 und 1909 veröffentlichte, war zu der Überzeugung gelangt, dass manche Menschen zwar aufgrund von sozialen Umständen oder Zufällen zu Straftätern würden, dass aber die wirklichen Verbrecher von der Natur dazu bestimmt worden seien. Die "geborenen Verbrecher" (Enrico Ferri) unterschieden sich von normalen Menschen durch körperliche Merkmale. Biologisch sei der ''homo delinquens'', bzw. der ''homo criminalis'' eine Unterart des ''homo sapiens'', und zwar Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts, bzw. eines evolutionären Rückschlags, auch [http://de.wikipedia.org/wiki/Atavismus Atavismus] genannt. Nach seiner eigenen, später von seiner Tochter und Mitarbeiterin Gina noch ausgeschmückten, Darstellung machte Lombroso diese Entdeckung im Jahre 1872, als er die Hirnschale eines damals berühmt-berüchtigten Räubers namens [[Giuseppe Villella]] in Händen hielt. Dieser Totenschädel war anders als die anderen: da waren "die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen", wie sie nur "bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden", das alles wiederum gepaart mit dem, was man über die Verbrecher sowieso schon wusste, sich aber nicht erklären konnte: "die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen" - all dies fügte sich beim Anblick dieses Verbrecherschädels zu einer neuartigen Erkenntnis: "Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt." Lombroso und seinen Mitstreitern gelang es sogar, den Typus des Diebes vom Typus des Vergewaltigers und diesen vom Typus des Mörders aufgrund körperlicher Merkmale zu unterscheiden. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)): „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“
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