Kriminologie und Geschichte: Unterschied zwischen den Versionen

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:Für die gegenwartsbezogenen Wissenschaften, nicht nur für die Jurisprudenz, sondern auch für die Gesellschaftswissenschaften, ist eine Beschäftigung mit Kriminalität seit Langem selbstverständlich, so selbstverständlich, dass sich mit der Kriminologie ein eigener Wissenschaftszweig entwickelt hat. Historiker taten sich allerdings meist schwer mit dem Thema ‚Kriminalität‘. Neben den Rechtshistorikern, die sich vor allem auf die Entwicklung der Rechtsnormen konzentrierten, die Rechtspraxis dagegen eher stiefväterlich behandelten und die sanktionierten Taten kaum betrachteten, waren es im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten, die sich mit Kriminalität beschäftigten.
:Für die gegenwartsbezogenen Wissenschaften, nicht nur für die Jurisprudenz, sondern auch für die Gesellschaftswissenschaften, ist eine Beschäftigung mit Kriminalität seit Langem selbstverständlich, so selbstverständlich, dass sich mit der Kriminologie ein eigener Wissenschaftszweig entwickelt hat. Historiker taten sich allerdings meist schwer mit dem Thema ‚Kriminalität‘. Neben den Rechtshistorikern, die sich vor allem auf die Entwicklung der Rechtsnormen konzentrierten, die Rechtspraxis dagegen eher stiefväterlich behandelten und die sanktionierten Taten kaum betrachteten, waren es im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten, die sich mit Kriminalität beschäftigten.


Und wie sah es aus der Sicht der Kriminologie aus? Warum interessierte sie sich nicht für die Geschichte der Kriminalität und der Strafen - und, wie wir sehen werden, nicht wirklich für die Geschichte des eigenen Fachs? Auf die Frage der Fachgeschichte kommen wir später noch zurück, aber ein Gesichtspunkt ist natürlich naheliegend: der Begriff der Kriminologie stammt aus dem Jahre 1885. Die Etablierung der Kriminologie als Wissenschaft an den Universitäten begann erst im 20. Jahrhundert. Da hat sich noch nicht so viel Geschichte angehäuft, dass eine Fach-Historiographie sich von selbst aufdrängte.  
Noch deutlicher als das mangelnde Interesse der Historiker an der Kriminalität war aber das Desinteresse der Kriminologen an der Geschichte. Das hing nicht nur damit zusammen, dass die Kriminologie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ganz und gar mit vom brennenden Problem der Massenkriminalität der sogenannten ''dangerous classes'' und der Mobilisierung von Abwehrkräften gegen die Armee von Verbrechern absorbiert war, sondern mehr noch mit ihrer wissenschaftstheoretischen Ausrichtung in der damaligen Zeit.


Warum aber interessierte sich die Kriminologie nicht für die Geschichte von Verbrechen und Strafen? Der Hauptgrund dafür dürfte darin gelegen haben, dass sie von Anfang an von einer ganz anderen Bezugsdisziplin fasziniert war, nämlich der biologischen Evolutionstheorie von Charles Darwin und den Folgerungen, die man aus dieser für die Erklärung des Verbrechens ziehen konnte. Zwar wird mit Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass die Theorien des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen [[Cesare Lombroso]] mehrheitlich auf Ablehnung stießen (Baer, Näke, v. Liszt), doch ist ebenso eindeutig nachweisbar, dass die Kriminologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich auf die eine oder andere Weise doch ganz überwiegend auf der Suche nach Tätertypen befand und dass der Gedanke an biologisch (oder anders) prädeterminierte Delinquenz den Diskurs der Disziplin in diesen Jahrzehnten dominierte - und dies zu einem Großteil übrigens selbst bei den Kritikern Lombrosos, so dass es sich doch lohnt, einen Blick auf seine Theorien zu werfen.  
aktuellen Phänomen Warum aber interessierte sich die Kriminologie nicht für die Geschichte von Verbrechen und Strafen? Der Hauptgrund dafür dürfte darin gelegen haben, dass sie von Anfang an von einer ganz anderen Bezugsdisziplin fasziniert war, nämlich der biologischen Evolutionstheorie von Charles Darwin und den Folgerungen, die man aus dieser für die Erklärung des Verbrechens ziehen konnte. Zwar wird mit Recht immer wieder darauf hingewiesen, dass die Theorien des Turiner Arztes, Psychiaters und Kriminalanthropologen [[Cesare Lombroso]] mehrheitlich auf Ablehnung stießen (Baer, Näke, v. Liszt), doch ist ebenso eindeutig nachweisbar, dass die Kriminologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich auf die eine oder andere Weise doch ganz überwiegend auf der Suche nach Tätertypen befand und dass der Gedanke an biologisch (oder anders) prädeterminierte Delinquenz den Diskurs der Disziplin in diesen Jahrzehnten dominierte - und dies zu einem Großteil übrigens selbst bei den Kritikern Lombrosos, so dass es sich doch lohnt, einen Blick auf seine Theorien zu werfen.  


Lombroso, der seine wichtigsten Werke zwischen 1876 und 1909 veröffentlichte, war zu der Überzeugung gelangt, dass manche Menschen zwar aufgrund von sozialen Umständen oder Zufällen zu Straftätern würden, dass aber die wirklichen Verbrecher von der Natur dazu bestimmt worden seien. Die "geborenen Verbrecher" (Enrico Ferri) unterschieden sich von normalen Menschen durch körperliche Merkmale. Biologisch sei der ''homo delinquens'', bzw. der ''homo criminalis'' eine Unterart des ''homo sapiens'', und zwar Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts, bzw. eines evolutionären Rückschlags, auch [http://de.wikipedia.org/wiki/Atavismus Atavismus] genannt. Nach seiner eigenen, später von seiner Tochter und Mitarbeiterin Gina noch ausgeschmückten, Darstellung machte Lombroso diese Entdeckung im Jahre 1872, als er die Hirnschale eines damals berühmt-berüchtigten Räubers namens [[Giuseppe Villella]] in Händen hielt. Dieser Totenschädel war anders als die anderen: da waren "die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen", wie sie nur "bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden", das alles wiederum gepaart mit dem, was man über die Verbrecher sowieso schon wusste, sich aber nicht erklären konnte: "die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen" - all dies fügte sich beim Anblick dieses Verbrecherschädels zu einer neuartigen Erkenntnis: "Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt." Lombroso und seinen Mitstreitern gelang es sogar, den Typus des Diebes vom Typus des Vergewaltigers und diesen vom Typus des Mörders aufgrund körperlicher Merkmale zu unterscheiden. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)): „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“
Lombroso, der seine wichtigsten Werke zwischen 1876 und 1909 veröffentlichte, war zu der Überzeugung gelangt, dass manche Menschen zwar aufgrund von sozialen Umständen oder Zufällen zu Straftätern würden, dass aber die wirklichen Verbrecher von der Natur dazu bestimmt worden seien. Die "geborenen Verbrecher" (Enrico Ferri) unterschieden sich von normalen Menschen durch körperliche Merkmale. Biologisch sei der ''homo delinquens'', bzw. der ''homo criminalis'' eine Unterart des ''homo sapiens'', und zwar Vertreter einer früheren Entwicklungsphase des Menschengeschlechts, bzw. eines evolutionären Rückschlags, auch [http://de.wikipedia.org/wiki/Atavismus Atavismus] genannt. Nach seiner eigenen, später von seiner Tochter und Mitarbeiterin Gina noch ausgeschmückten, Darstellung machte Lombroso diese Entdeckung im Jahre 1872, als er die Hirnschale eines damals berühmt-berüchtigten Räubers namens [[Giuseppe Villella]] in Händen hielt. Dieser Totenschädel war anders als die anderen: da waren "die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen", wie sie nur "bei Verbrechern, Wilden und Affen gefunden werden", das alles wiederum gepaart mit dem, was man über die Verbrecher sowieso schon wusste, sich aber nicht erklären konnte: "die Fühllosigkeit gegen Schmerzen, (...) und die unwiderstehliche Begierde nach Bösem um seiner selbst willen" - all dies fügte sich beim Anblick dieses Verbrecherschädels zu einer neuartigen Erkenntnis: "Beim Anblick dieser Hirnschale glaubte ich ganz plötzlich, das Problem der Natur des Verbrechens zu schauen. Ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt." Lombroso und seinen Mitstreitern gelang es sogar, den Typus des Diebes vom Typus des Vergewaltigers und diesen vom Typus des Mörders aufgrund körperlicher Merkmale zu unterscheiden. Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung des Uomo delinquente von 1894 (S. 229-231)): „Diebe haben im allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefältet und stoßen zusammen; die Nase ist krumm oder stumpf. Der Bart spärlich, das Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend (...). - Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich, die Lippen dünn, die Eckzähne groß (...). - Im allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder hervorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer oder bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“
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