Kriminologie und Geschichte: Unterschied zwischen den Versionen

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Manche Wissenschaften sind undenkbar ohne die historische Dimension ihres Gegenstands. Literaturwissenschaft ohne Literaturgeschichte? Unmöglich. Musikwissenschaft ohne Musikgeschichte? Undenkbar. Andere Wissenschaften hingegen werden von der Gegenwart an der kurzen Leine gehalten: eine Disziplin wie die Kriminologie, von der ganz allgemein und nicht zu unrecht ein Beitrag erwartet wird zur Bewältigung akuter Bedrohungen der Wohlfahrt und des Zusammenhalts der Gesellschaft - etwa im Hinblick auf Menschenhandel und Drogenkriminalität, internationalen Terrorismus, Umweltzerstörung, Korruption und Wirtschaftsdelikte - ist in erster Linie eine Gegenwartswissenschaft. So etwas wie eine evidente sachlogische Angewiesenheit auf die Geschichtswissenschaft existiert für die Kriminologie nicht.  
Manche Wissenschaften sind undenkbar ohne die historische Dimension ihres Gegenstands. Literaturwissenschaft ohne Literaturgeschichte? Unmöglich. Musikwissenschaft ohne Musikgeschichte? Undenkbar. Andere Wissenschaften hingegen werden von der Gegenwart an der kurzen Leine gehalten: eine Disziplin wie die Kriminologie, von der ganz allgemein und nicht zu unrecht ein Beitrag erwartet wird zur Bewältigung akuter Bedrohungen der Wohlfahrt und des Zusammenhalts der Gesellschaft - etwa im Hinblick auf Menschenhandel und Drogenkriminalität, internationalen Terrorismus, Umweltzerstörung, Korruption und Wirtschaftsdelikte - ist in erster Linie eine Gegenwartswissenschaft. So etwas wie eine evidente sachlogische Angewiesenheit auf die Geschichtswissenschaft existiert für die Kriminologie nicht. Deshalb muss es nicht verwundern, dass zwischen '''Kriminologie und Geschichte''' ebenso wie zwischen '''Geschichte und Kriminologie''' traditionell alles andere als eine lebhafte oder gar fruchtbare Beziehung bestand. Zumindest für die Anfangszeit kann man es auch ruhig noch pointierter sagen. Denn als der Begriff der Kriminologie zum ersten Mal auftauchte - das ist nicht allzu lange her, das war im Jahre 1885, als der neapolitanische Staatsanwalt [[Raffaele Garofalo]] ein Lehrbuch mit dem Titel ''Criminologia'' publizierte, und das war lange, bevor man an die Errichtung von kriminologischen Lehrstühlen oder Instituten dachte - um 1885 also, war die Beziehung zwischen den beiden Disziplinen ein perfektes ''Nicht-Verhältnis'' im strengen Sinne des Wortes. Zu der damaligen Zeit interessierte sich die Geschichtswissenschaft für den Aufstieg und Fall großer Reiche, für Herrscherdynastien, ihre Kriege mit ihren Siegen und Niederlagen, kurzum: im wesentlichen für große Männer und große Schlachten. Es bedurfte also einer großen Wende in der Geschichtswissenschaft, die noch rund einhundert Jahre auf sich warten lassen sollte, einer Wende hin zur Alltags-, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, bis diese Disziplin sich für so triviale Dinge wie Straftaten, ihre Verfolgung und Sanktionierung interessierte. In den Worten des Historikers Gerd Schwerhoff (2011:1), eines der Protagonisten der historischen Kriminalitätsforschung:
 
Als der Begriff der Kriminologie zum ersten Mal auftauchte - das ist nicht allzu lange her, das war im Jahre 1885, als der neapolitanische Staatsanwalt [[Raffaele Garofalo]] ein Lehrbuch mit dem Titel ''Criminologia'' publizierte, und das war lange, bevor man an die Errichtung von kriminologischen Lehrstühlen oder Instituten dachte - um 1885 also, bestand zwischen '''Kriminologie und Geschichte''' ebenso wie zwischen '''Geschichte und Kriminologie''' alles andere als eine lebhafte oder gar fruchtbare Beziehung. Am besten charakterisieren ließe sie sich wohl als ein echtes ''Nicht-Verhältnis''.
 
Historiker interessierten sich vor der Wende zur Alltags-, Sozial- und Gesellschaftsgeschichte vor allem für Diplomatie und Kriege, für politische Ereignisse und Phänomene der Hochkultur - jedenfalls kaum bis gar nicht für so triviale Dinge wie Straftaten und ihre Verfolgung und Sanktionierung. In den Worten des Historikers Gerd Schwerhoff, eines der Protagonisten der historischen Kriminalitätsforschung:


:Für die gegenwartsbezogenen Wissenschaften, nicht nur für die Jurisprudenz, sondern auch für die Gesellschaftswissenschaften, ist eine Beschäftigung mit Kriminalität seit Langem selbstverständlich, so selbstverständlich, dass sich mit der Kriminologie ein eigener Wissenschaftszweig entwickelt hat. Historiker taten sich allerdings meist schwer mit dem Thema ‚Kriminalität‘. Neben den Rechtshistorikern, die sich vor allem auf die Entwicklung der Rechtsnormen konzentrierten, die Rechtspraxis dagegen eher stiefväterlich behandelten und die sanktionierten Taten kaum betrachteten, waren es im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten, die sich mit Kriminalität beschäftigten.
:Für die gegenwartsbezogenen Wissenschaften, nicht nur für die Jurisprudenz, sondern auch für die Gesellschaftswissenschaften, ist eine Beschäftigung mit Kriminalität seit Langem selbstverständlich, so selbstverständlich, dass sich mit der Kriminologie ein eigener Wissenschaftszweig entwickelt hat. Historiker taten sich allerdings meist schwer mit dem Thema ‚Kriminalität‘. Neben den Rechtshistorikern, die sich vor allem auf die Entwicklung der Rechtsnormen konzentrierten, die Rechtspraxis dagegen eher stiefväterlich behandelten und die sanktionierten Taten kaum betrachteten, waren es im deutschsprachigen Raum bis in die jüngere Vergangenheit eher wenige Exoten, die sich mit Kriminalität beschäftigten.
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