Kriminalität: Unterschied zwischen den Versionen

Zur Navigation springen Zur Suche springen
1.657 Bytes hinzugefügt ,  21:43, 26. Mai 2015
 
(8 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
'''Artikel wird bearbeitet von Uwe D.'''


== Einleitung ==
== Einleitung ==
Zeile 40: Zeile 38:
Kunz (2008) sieht Kriminalität als einen Begriff, der zur Vergewisserung der Grenze zwischen öffentlicher Toleranz und förmlich sanktionierter Missbilligung dient. Diese verschiebt sich im sozialen Wandel und ist für jede geschichtlich-gesellschaftliche Situation neu zu fixieren. Insofern sei Kriminalität ein gesellschaftstheoretischer Begriff, dessen Konturen als Metaphern eines bestimmten Gesellschaftsbildes zu verstehen seien. In dieser theoretischen Bedeutung bleibt Kriminalität eine latente, nicht direkt beobachtbare Größe, die sich von der Gesamtzahl der in einem bestimmten Raum-Zeit-Gebiet festgestellten strafrechtlichen Gesetzesverstöße unterscheidet.
Kunz (2008) sieht Kriminalität als einen Begriff, der zur Vergewisserung der Grenze zwischen öffentlicher Toleranz und förmlich sanktionierter Missbilligung dient. Diese verschiebt sich im sozialen Wandel und ist für jede geschichtlich-gesellschaftliche Situation neu zu fixieren. Insofern sei Kriminalität ein gesellschaftstheoretischer Begriff, dessen Konturen als Metaphern eines bestimmten Gesellschaftsbildes zu verstehen seien. In dieser theoretischen Bedeutung bleibt Kriminalität eine latente, nicht direkt beobachtbare Größe, die sich von der Gesamtzahl der in einem bestimmten Raum-Zeit-Gebiet festgestellten strafrechtlichen Gesetzesverstöße unterscheidet.


Eine Besonderheit gilt für den Kriminalitäts-Begriff des [[Labeling|Labeling Approach]]. Danach ist "kriminell" eine zugeschriebene Eigenschaft und Kriminalität daher ein "negatives Gut" ([[Fritz Sack]]), dessen Verteilung sich unter umgekehrtem Vorzeichen nach denselben Kriterien richtet wie die gesellschaftliche Verteilung positiver Güter. Die mögliche Verknüpfung der Theorie der Kriminalität als eines negativen Guts mit der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie der "Ungüter" (H.G. Fuchs u.a., Hg., Güter und Ungüter. Berlin: Duncker und Humblot 1991) steht bislang noch aus.
Eine Besonderheit gilt für den Kriminalitäts-Begriff des [[Labeling|Labeling Approach]]. Danach ist "kriminell" eine zugeschriebene Eigenschaft und Kriminalität daher ein "negatives Gut" ([[Fritz Sack]]), dessen Verteilung sich unter umgekehrtem Vorzeichen nach denselben Kriterien richtet wie die gesellschaftliche Verteilung positiver Güter.


Über die Zusammenhänge zwischen Kriminalität und anderen Elementen der materiellen Realität ließ sich lange Zeit erstaunlich wenig (gesichertes) Wissen beibringen. Henner Hess und Sebastian Scheerer wagten sich dann 1997 erstmals, eine konstruktivistische Kriminalitätstherorie zu skizzieren: Die zentrale Aufgabe der allgemeinen Kriminalitätstherorie bestand darin, einen Weg zu finden, auf dem sich die übliche Trennung makro- und mikroperspektivischer Devianztheorien überwinden ließ. Denn bisher beschränkten sich Kriminalitätstherorien bei ihren Erklärungsversuchen entweder auf das Handeln von Individuen oder aber auf die Erklärung unterschiedlicher Kriminalitätsraten und anderer Phänomene auf der Makro-Ebene. Eine allgemeine Kriminalitätstherorie sollte aber Antworten auf beide Arten von Fragen erlauben. Sie sollte Makro-Phänomene zwar von individuellen Handlungen analytisch trennen, aber beides im Zusammenhang sehen und eins ins andere übersetzen. Zu diesem Zweck schien ihnen ein Modell besonders geeignet, das das Mehrebenen-Problem in drei Schritten bewältigt. Im ersten Schritt geht es um die Widersprüche in der gesellschaftlichen Struktur, die zur Entstehung von bestimmten Risiken und zu deren Kategorisierung als "Kriminalität" führen. Im zweiten Schritt geht es um die Transformation dieser gesellschaftlichen Bedingungen in soziales Handeln und um Kriminalität als Handlung und situatives Ereignis. Im dritten Schritt geht es um die Frage, welche neuen überindividuellen Phänomene aus dem Handeln und Zusammenhandeln einer Vielzahl individueller Akteure entstehen und wie - geleitet durch bestimmte Transformationsregeln - die Vielzahl krimineller Ereignisse in neue Makro-Phänomene übersetzt wird. Diese Skizze einer konstruktiven Kriminalitätstheorie von Henner Hess und Sebastian Scheerer im Kriminologischen Journal 2/97 abgedruckt, diente der Kriminologie als Theoriediskussion über die zentrale Frage - Was ist Kriminalität?
Über die Zusammenhänge zwischen Kriminalität und anderen Elementen der materiellen Realität ließ sich lange Zeit erstaunlich wenig (gesichertes) Wissen beibringen. Henner Hess und Sebastian Scheerer wagten sich dann 1997 erstmals, eine konstruktivistische Kriminalitätstherorie zu skizzieren: Die zentrale Aufgabe der allgemeinen Kriminalitätstherorie bestand darin, einen Weg zu finden, auf dem sich die übliche Trennung makro- und mikroperspektivischer Devianztheorien überwinden ließ. Denn bisher beschränkten sich Kriminalitätstherorien bei ihren Erklärungsversuchen entweder auf das Handeln von Individuen oder aber auf die Erklärung unterschiedlicher Kriminalitätsraten und anderer Phänomene auf der Makro-Ebene. Eine allgemeine Kriminalitätstherorie sollte aber Antworten auf beide Arten von Fragen erlauben. Sie sollte Makro-Phänomene zwar von individuellen Handlungen analytisch trennen, aber beides im Zusammenhang sehen und eins ins andere übersetzen. Zu diesem Zweck schien ihnen ein Modell besonders geeignet, das das Mehrebenen-Problem in drei Schritten bewältigt. Im ersten Schritt geht es um die Widersprüche in der gesellschaftlichen Struktur, die zur Entstehung von bestimmten Risiken und zu deren Kategorisierung als "Kriminalität" führen. Im zweiten Schritt geht es um die Transformation dieser gesellschaftlichen Bedingungen in soziales Handeln und um Kriminalität als Handlung und situatives Ereignis. Im dritten Schritt geht es um die Frage, welche neuen überindividuellen Phänomene aus dem Handeln und Zusammenhandeln einer Vielzahl individueller Akteure entstehen und wie - geleitet durch bestimmte Transformationsregeln - die Vielzahl krimineller Ereignisse in neue Makro-Phänomene übersetzt wird. Diese Skizze einer konstruktiven Kriminalitätstheorie von Henner Hess und Sebastian Scheerer im Kriminologischen Journal 2/97 abgedruckt, diente der Kriminologie als Theoriediskussion über die zentrale Frage - Was ist Kriminalität?
Zeile 47: Zeile 45:


Die Kriminalitätsgeschichte verweist auf die Notwendigkeit, Kriminalität auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu beziehen, die im Strafrecht ihren Ausdruck finden. Im England des 18. Jahrhunderts ist der Zusammenhang von Strafrecht und Sozialkontrolle besonders eng (Hay 1975). Die englische Kriminalitätsgeschichte hat mit Energie und Erfolg versucht, für die vormoderne Zeit Kriminalitätsstrukturen in regional abgegrenzten Räumen herauszuarbeiten (Cockburn 1977). Die Überlieferung von Grafschafts-, Kirchen- und Adelsgerichten ist dabei die wichtigste Quelle. Schon für das 17. Jahrhundert belegen Zeitreihenanalysen eine eindeutige Dominanz der Eigentumskriminalität. Vor drei Grafschaftsgerichten (Essex, Hertfordshire, Sussex) standen z.B. in dem Zeitraum 1559-1625 über 70 Prozent der Angeklagten wegen Diebstahl oder Raubes vor Gericht.
Die Kriminalitätsgeschichte verweist auf die Notwendigkeit, Kriminalität auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu beziehen, die im Strafrecht ihren Ausdruck finden. Im England des 18. Jahrhunderts ist der Zusammenhang von Strafrecht und Sozialkontrolle besonders eng (Hay 1975). Die englische Kriminalitätsgeschichte hat mit Energie und Erfolg versucht, für die vormoderne Zeit Kriminalitätsstrukturen in regional abgegrenzten Räumen herauszuarbeiten (Cockburn 1977). Die Überlieferung von Grafschafts-, Kirchen- und Adelsgerichten ist dabei die wichtigste Quelle. Schon für das 17. Jahrhundert belegen Zeitreihenanalysen eine eindeutige Dominanz der Eigentumskriminalität. Vor drei Grafschaftsgerichten (Essex, Hertfordshire, Sussex) standen z.B. in dem Zeitraum 1559-1625 über 70 Prozent der Angeklagten wegen Diebstahl oder Raubes vor Gericht.
Auch die französische Kriminalitätsgeschichte hat sich sehr intensiv mit der vorrevolutionären Zeit befasst (Deyon 1975; Castan 1980). Die Überlieferung erlaubt es, auch schon für das Ancien régime auf breiter Basis den Zusammenhang von Delinquenz, Stafsystem und Strafpraxis anzugehen. Dabei wird ein für die Geschichte der Kriminalität wichtiger Gesichtspunkt herausgestellt. In Frankreich gab es ein breit gefächertes System informeller Strafkontrolle („se faire justice soimême“) mit einer sehr langen Lebensdauer. Es beeinflusste stark die durch Bürokratien registrierte Kriminalität. Erst im 19. Jahrhundert gewannen die Instanzen staatlicher Strafgewalt Gewicht und Durchschlagskraft.
Auch die französische Kriminalitätsgeschichte hat sich sehr intensiv mit der vorrevolutionären Zeit befasst (Deyon 1975; Castan 1980). Die Überlieferung erlaubt es, auch schon für das Ancien régime auf breiter Basis den Zusammenhang von Delinquenz, Strafsystem und Strafpraxis anzugehen. Dabei wird ein für die Geschichte der Kriminalität wichtiger Gesichtspunkt herausgestellt. In Frankreich gab es ein breit gefächertes System informeller Strafkontrolle („se faire justice soimême“) mit einer sehr langen Lebensdauer. Es beeinflusste stark die durch Bürokratien registrierte Kriminalität. Erst im 19. Jahrhundert gewannen die Instanzen staatlicher Strafgewalt Gewicht und Durchschlagskraft.
Für den größten deutschen Einzelstaat, Preußen, sind die engen Verflechtungen von Gesellschafts- und Kriminalitätsgeschichte herausgearbeitet worden (Blasius 1976; 1978). Dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts Kriminalität zum Massenphänomen wurde, hat eindeutig sozialökonomische Ursachen. Die Geschichte der Kriminalität rückt Armut und Not nachdrücklich ins Zentrum jenes Motivspektrums, das insbesondere hinter Massendelikten steht. Die Grenzlinien zwischen einem vormodernen, agrarisch geprägten und einem modernen, städtisch-industriell bestimmten Verbrechertyp sind nicht scharf zu ziehen. Mit Industrialisierung und Urbanisierung, die in Deutschland erst im letzten Viertes des 19. Jahrhunderts voll einsetzten, stellte sich keineswegs ein Deliktschub bei Diebstählen ein; den gab es vielmehr vorher.
Für den größten deutschen Einzelstaat, Preußen, sind die engen Verflechtungen von Gesellschafts- und Kriminalitätsgeschichte herausgearbeitet worden (Blasius 1976; 1978). Dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts Kriminalität zum Massenphänomen wurde, hat eindeutig sozialökonomische Ursachen. Die Geschichte der Kriminalität rückt Armut und Not nachdrücklich ins Zentrum jenes Motivspektrums, das insbesondere hinter Massendelikten steht. Die Grenzlinien zwischen einem vormodernen, agrarisch geprägten und einem modernen, städtisch-industriell bestimmten Verbrechertyp sind nicht scharf zu ziehen. Mit Industrialisierung und Urbanisierung, die in Deutschland erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts voll einsetzten, stellte sich keineswegs ein Deliktschub bei Diebstählen ein; den gab es vielmehr vorher.
Die historische Kriminalitätsforschung beschäftigt sich zwar primär mit Kriminalität als Abbreviatur der sozialen und ökonomischen Entwicklung; doch verstärkt wendet sie auch ihre Aufmerksamkeit der Lebenswirklichkeit jener Schichten zu, die mit Recht in Konflikt gerieten. Nicht um eine falsche Romantisierung des Verbrechens geht es dabei, sondern um den Zusammenhang von Verbrechen und Gesellschaft sowie um die Markierung gesellschaftlicher Warnsignale. Für die moderne Kriminologie ist die Sozialgeschichte der Kriminalität von produktivem Erinnerungswert. (Kaiser 1993)
Die historische Kriminalitätsforschung beschäftigt sich zwar primär mit Kriminalität als Abbreviatur der sozialen und ökonomischen Entwicklung; doch verstärkt wendet sie auch ihre Aufmerksamkeit der Lebenswirklichkeit jener Schichten zu, die mit Recht in Konflikt gerieten. Nicht um eine falsche Romantisierung des Verbrechens geht es dabei, sondern um den Zusammenhang von Verbrechen und Gesellschaft sowie um die Markierung gesellschaftlicher Warnsignale. Für die moderne Kriminologie ist die Sozialgeschichte der Kriminalität von produktivem Erinnerungswert. (Kaiser 1993)


Zeile 57: Zeile 55:
Die kriminologische Befassung mit Kriminalität erfolgt dreidimensional. Zum einen gilt das Interesse den Regeln des Gebrauchs der Kriminalitätsdefinition im informellen gesellschaftlichen Diskurs und durch die Instanzen der Kriminalitätskontrolle. Zum anderen wird nach Regeln geforscht, denen das damit bezeichnete Verhalten folgt. Drittens schließlich gilt das Interesse den Regeln, nach denen die möglichen Anwendungen des Gebrauchs der ersten beiden Regeln phänomenologisch in Subkategorien (Gewalt-, Sexual-, Umweltkriminalität usw.) eingeteilt werden können. Die Kriminologie betrachtet diese drei Arten von Regeln des crime talk unter dem Aspekt ihres tatsächlichen Gebrauchs: nicht in ihrer logischen Konsistenz oder der normativen Korrektheit ihrer Anwendung, sondern in einer effektiven Verwendung in der gesellschaftlichen Praxis. (Kunz 2008) Die Kriminalität dient in der Kriminologie durch das wissenschaftliche Begleiten der Fallzahlen, der Modi Operandi, der Dunkelfeldforschung und vieler weiterer Module zur empirisch gesicherten Erkenntniserlangung. (Liebl 2004)
Die kriminologische Befassung mit Kriminalität erfolgt dreidimensional. Zum einen gilt das Interesse den Regeln des Gebrauchs der Kriminalitätsdefinition im informellen gesellschaftlichen Diskurs und durch die Instanzen der Kriminalitätskontrolle. Zum anderen wird nach Regeln geforscht, denen das damit bezeichnete Verhalten folgt. Drittens schließlich gilt das Interesse den Regeln, nach denen die möglichen Anwendungen des Gebrauchs der ersten beiden Regeln phänomenologisch in Subkategorien (Gewalt-, Sexual-, Umweltkriminalität usw.) eingeteilt werden können. Die Kriminologie betrachtet diese drei Arten von Regeln des crime talk unter dem Aspekt ihres tatsächlichen Gebrauchs: nicht in ihrer logischen Konsistenz oder der normativen Korrektheit ihrer Anwendung, sondern in einer effektiven Verwendung in der gesellschaftlichen Praxis. (Kunz 2008) Die Kriminalität dient in der Kriminologie durch das wissenschaftliche Begleiten der Fallzahlen, der Modi Operandi, der Dunkelfeldforschung und vieler weiterer Module zur empirisch gesicherten Erkenntniserlangung. (Liebl 2004)
Für eine sozialwissenschaftlich orientierte Kriminologie ist die Kriminalität als gesellschaftstheoretische Kategorie, nicht als Summe kriminell definierten Verhaltens von Interesse. (Kunz 2008)  
Für eine sozialwissenschaftlich orientierte Kriminologie ist die Kriminalität als gesellschaftstheoretische Kategorie, nicht als Summe kriminell definierten Verhaltens von Interesse. (Kunz 2008)  
Die Kriminologie als anwendungsbezogene Bedarfsforschung benötigt die Werkzeuge, respektive Module der Kriminalitätstheorien. Denken wir nur an die biologischen Theorien (Evolutionstheorie, Neuronale Hirnforschung), die biosozialen Theorien (Chromosomen-Studien, Zwillingsforschung), die Kontrolltheorien (Bindungstheorien), Persönlichkeitstheorien (Psychoanalyse), an die Sozialstrukturellen Konzepte (Anomietheorien, Entwicklungsbezogene Kriminologie, an die multifaktoriellen Kriminalitätstheorien, Neutralisationstechniken, Sozialisationstheorien, Subkulturtheorie) und die vielen anderen.
Die Kriminologie als anwendungsbezogene Bedarfsforschung benötigt die Werkzeuge, respektive Module der Kriminalitätstheorien. Denken wir nur an die biologischen Theorien (Evolutionstheorie, Neuronale Hirnforschung), die biosozialen Theorien (Chromosomen-Studien, Zwillingsforschung), die Kontrolltheorien (Bindungstheorien), Persönlichkeitstheorien (Psychoanalyse), an die sozialstrukturellen Konzepte (Anomietheorien, entwicklungsbezogene Kriminologie, an die multifaktoriellen Kriminalitätstheorien, Neutralisationstechniken, Sozialisationstheorien, Subkulturtheorie) und die vielen anderen.
Da sich die Phänomenbereiche der Kriminalität ständig wandeln, werden die Anforderungen an die Kriminologie stets differenzierter. (Liebl 2004)
Da sich die Phänomenbereiche der Kriminalität ständig wandeln, werden die Anforderungen an die Kriminologie stets differenzierter. (Liebl 2004)
Eine allgemeine Theorie der Kriminalität, so meinen viele Kriminologen, würde sowohl an der prinzipiellen Unvereinbarkeit der erkenntnistheoretischen Prämissen gegenwärtiger Erklärungsansätze (von der Anomietheorie bis zum Labeling) als auch an der Unvergleichbarkeit der unter Strafe gestellten Delikte (vom Ladendiebstahl bis zum Völkermord) scheitern. Und manche sehen darin gar nicht einmal ein Problem, weil sie die aktuelle „fragmentation of crimonology“ (Ericson und Carriere 1996) sowieso vorziehen. In postmoderner Skepsis gegenüber „Wahrheit“, Wissenschaft“ und „objektiver Erkenntnis“, in denen sie nicht mehr als die Mythen einer „Großen Erklärung“ sehen, plädieren sie dafür, jeglichen „Anspruch auf eine wie auch immer geartete Wissenschaftlichkeit“ aufzugeben und dem herrschenden Diskurs über Kriminalität und Kontrolle „originelle Neubeschreibungen“ entgegen zu setzen (vgl. Kreissl 1996: 34-36; siehe auch Henry und Milovanovic 1996 zu ihrem Programm des „replacement discourse“). Hinzu kommt, dass man selbst dort, wo man von der Möglichkeit und Wünschbarkeit einer „general theory of crime“ ausgeht, dem eigenen Anspruch of nicht genügt und sich unter Ausklammerung der gesamtgesellschaftlichen Dimension dann doch wieder auf die bloße Erklärung kriminellen Handelns – also auf die Mikroperspektive – beschränkt (vgl. z.B. Gottfredson und Hirschi 1990; Tittle 1995). „Allgemein“ sollte eine Theorie aber sinnvoller weise erst dann genannt werden, wenn sie neben der Begehung von Delikten auch die makro-perspektivisch zu analysierenden Voraussetzungen und Folgen von Kriminalität als Handlung in den Blick nimmt, von der Rechtssetzung bis zum Kriminalitätsdiskurs. „Die Kriminalität der Gesellschaft“ (Krasmann 2003) – das ist ein komplexes Ensemble von Akteuren und Handlungen, von Institutionen und Bewegungen, von sozialen Netzen und rechtlichen Regeln, von Machtverhältnissen und Konflikten, aber auch von Gefühlen, Phantasien, Symbolen, Diskursen und Geschichten der unterschiedlichsten Art, in dem sich jedes Element letztlich nur in seinem und durch seinem Kontext begreifen lässt. Eine wirklich allgemeine kriminologische Theorie, d.h. eine Theorie, deren Hauptzweck darin gesehen wird, zu einem besseren Verständnis des Gesamtphänomens der Kriminalität beizutragen, sollte deshalb auf jeden Fall breit genug angelegt sein, um alle genannten (und überhaupt alle für diese Aufgabe relevanten) Phänomene berücksichtigen zu können. (Hess, Henner / Scheerer, Sebastian, 2004)
Eine allgemeine Theorie der Kriminalität, so meinen viele Kriminologen, würde sowohl an der prinzipiellen Unvereinbarkeit der erkenntnistheoretischen Prämissen gegenwärtiger Erklärungsansätze (von der Anomietheorie bis zum Labeling) als auch an der Unvergleichbarkeit der unter Strafe gestellten Delikte (vom Ladendiebstahl bis zum Völkermord) scheitern. Und manche sehen darin gar nicht einmal ein Problem, weil sie die aktuelle „fragmentation of crimonology“ (Ericson und Carriere 1996) sowieso vorziehen. In postmoderner Skepsis gegenüber „Wahrheit“, Wissenschaft“ und „objektiver Erkenntnis“, in denen sie nicht mehr als die Mythen einer „Großen Erklärung“ sehen, plädieren sie dafür, jeglichen „Anspruch auf eine wie auch immer geartete Wissenschaftlichkeit“ aufzugeben und dem herrschenden Diskurs über Kriminalität und Kontrolle „originelle Neubeschreibungen“ entgegen zu setzen (vgl. Kreissl 1996: 34-36; siehe auch Henry und Milovanovic 1996 zu ihrem Programm des „replacement discourse“). Hinzu kommt, dass man selbst dort, wo man von der Möglichkeit und Wünschbarkeit einer „general theory of crime“ ausgeht, dem eigenen Anspruch oft nicht genügt und sich unter Ausklammerung der gesamtgesellschaftlichen Dimension dann doch wieder auf die bloße Erklärung kriminellen Handelns – also auf die Mikroperspektive – beschränkt (vgl. z.B. Gottfredson und Hirschi 1990; Tittle 1995). „Allgemein“ sollte eine Theorie aber sinnvollerweise erst dann genannt werden, wenn sie neben der Begehung von Delikten auch die makro-perspektivisch zu analysierenden Voraussetzungen und Folgen von Kriminalität als Handlung in den Blick nimmt, von der Rechtssetzung bis zum Kriminalitätsdiskurs. „Die Kriminalität der Gesellschaft“ (Krasmann 2003) – das ist ein komplexes Ensemble von Akteuren und Handlungen, von Institutionen und Bewegungen, von sozialen Netzen und rechtlichen Regeln, von Machtverhältnissen und Konflikten, aber auch von Gefühlen, Phantasien, Symbolen, Diskursen und Geschichten der unterschiedlichsten Art, in dem sich jedes Element letztlich nur in seinem und durch seinem Kontext begreifen lässt. Eine wirklich allgemeine kriminologische Theorie, d.h. eine Theorie, deren Hauptzweck darin gesehen wird, zu einem besseren Verständnis des Gesamtphänomens der Kriminalität beizutragen, sollte deshalb auf jeden Fall breit genug angelegt sein, um alle genannten (und überhaupt alle für diese Aufgabe relevanten) Phänomene berücksichtigen zu können. (Hess, Henner / Scheerer, Sebastian, 2004)
 
== (Post-) Strukturalismus und Kriminalität ==
 
In den "Konturen einer Allgemeinen Theorie der Kriminalität als sozialer Praxis" gehen Dollinger, Rudolph, Schmidt-Semisch und Urban (2013) auf Gedanken des [http://de.wikipedia.org/wiki/Poststrukturalismus Poststrukturalisten] Ernesto Laclau und die Kontingenz der Zuschreibung des Etiketts Kriminalität ein.
 
Dieser Bezug zur Semantik und zum semantischen Dreieck wendet folgenden Gedankengang von Saussure bezüglich des differentiellen Charakters des Signifikanten auf die Kriminalität an: Ein Signifikant (ein Begriff, der hin und wieder auch - ungenau - als synonym mit "Referent" oder allgemein für "Zeichen" gebraucht wird) ist in seiner Bedeutung nicht durch sein Signifikat bestimmt (außer bei einigen wenigen lautmalerischen Wörtern wie „Kuckuck“), sondern durch die Abgrenzung (Differenz) zu anderen Signifikanten. Die Verbindung von Signifikant und Signifikat, Wort und Bedeutung, die uns im Sprachalltag so selbstverständlich erscheint, ist im Grunde „arbiträr“, d. h. beliebig, nicht natürlich.


== Literatur ==
Der Begriff des Signifikanten war schon - über die Rezeption des linguistic turn durch den labeling approach - von Bedeutung für die Kriminologie seit den 1960er Jahren.
 
== Weblinks und Literatur ==
*[http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_19980311_OTS0069/3-christian-broda-vorlesung-kriminalitaet-existiert-nicht Christie, Nils (1998) Kriminalität existiert nicht]
:"Verbrechen existiert nicht. Es existieren nur Handlungen, denen man die Bedeutung von Verbrechen verleiht (Christie 2004, 3)" (H.J. Schneider, 2005


*Eisenberg, Ulrich, Kriminologie, 6. Auflage, C.H. Beck, München, 2005
*Eisenberg, Ulrich, Kriminologie, 6. Auflage, C.H. Beck, München, 2005
*Flörchinger, Susana, Der Begriff Kriminalität. Eine Entstehungsgeschichte, Hamburg 2004
*Flörchinger, Susana, Der Begriff Kriminalität. Eine Entstehungsgeschichte, Hamburg 2004
*[http://www.crimeandjustice.org.uk/resources/does-crime-exist Garside, Richard (2011) Does Crime Exist?]
*Göppinger, Kriminologie, 6. Auflage, C.H. Beck, München, 2008
*Göppinger, Kriminologie, 6. Auflage, C.H. Beck, München, 2008
*Hess, Henner / Scheerer, Sebastian, Was ist Kriminalität? Kriminologisches Journal, 29. Jg., 2/97, Juventa Verlag, Weinheim
*Hess, Henner / Scheerer, Sebastian, Was ist Kriminalität? Kriminologisches Journal, 29. Jg., 2/97, Juventa Verlag, Weinheim
*Hess, Henner / Scheerer, Sebastian, Theorie der Kriminalität, in: Oberwittler, D./S. Karstedt (Hg.): Soziologie der Kriminalität. Sonderheft 43/2003 der Kölner Zeitschrift für Sozíologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden, S. 69-92
*Hess, Henner / Scheerer, Sebastian, Theorie der Kriminalität, in: Oberwittler, D./S. Karstedt (Hg.): Soziologie der Kriminalität. Sonderheft 43/2003 der Kölner Zeitschrift für Sozíologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden, S. 69-92
*[https://books.google.de/books?id=XGSpAgAAQBAJ&pg=PA7&lpg=PA7&dq=Hulsman+crime+exist&source=bl&ots=-4stnMU67D&sig=HrFBiCdNcSIIwOJIEt5-QGsK_9Q&hl=en&sa=X&ei=msxkVZ-LA4GoUpfOgcAI&ved=0CCIQ6AEwAA#v=onepage&q=Hulsman%20crime%20exist&f=false Hulsmans Sicht von "crime"]
*Kaiser, Günther, Kriminologie, 3. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg, 1996
*Kaiser, Günther, Kriminologie, 3. Auflage, C.F. Müller, Heidelberg, 1996
*Kaiser, Günther, Stichwort "Kriminalität" in: Kaiser, Kerner, Sack, Schellhoss, Hg., Kleines Krim. Wörterbuch. 3. Aufl. Heidelberg 1993, S. 238-246.
*Kaiser, Günther, Stichwort "Kriminalität" in: Kaiser, Kerner, Sack, Schellhoss, Hg., Kleines Krim. Wörterbuch. 3. Aufl. Heidelberg 1993, S. 238-246.
Zeile 76: Zeile 87:
*Schwind, Hans-Dieter, Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. 14. völlig neubearbeitete und erw. Aufl. Heidelberg: Kriminalistik Verlag 2004
*Schwind, Hans-Dieter, Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. 14. völlig neubearbeitete und erw. Aufl. Heidelberg: Kriminalistik Verlag 2004


== Links ==
Kriminalität in: Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Kriminalität (letzter Zugriff 11.03.09)
Kriminalität in: Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Kriminalität (letzter Zugriff 11.03.09)




[[Kategorie:Leistungsnachweis]]
[[Kategorie:Leistungsnachweis]]
31.738

Bearbeitungen

Navigationsmenü