Kinderdelinquenz: Unterschied zwischen den Versionen

767 Bytes hinzugefügt ,  19:32, 9. Feb. 2010
keine Bearbeitungszusammenfassung
 
(61 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
Weltweit gibt es Kinder, die gegen die in dem jeweiligen Land/ der jeweiligen Gesellschaft geltenden Normen verstoßen und Handlungen begehen, die als Straftatbestände definiert sind. Die Reaktionen auf normverletzende Handlungen von Kindern sind von Land zu Land/ von Gesellschaft zu Gesellschaft und von (zeitlicher) Epoche zu Epoche verschieden. Eine Thematisierung des Begriffes Kinderdelinquenz soll im Folgenden ausschließlich auf die Situation in Deutschland seit dem Beginn der Industrialisierung bezogen sein:
Kinderdelinquenz ist kindliches Verhalten, das - würde es von einer strafmündigen Person ausgeführt - im Sinne des Strafrechts als eine Straftat verstanden werden würde, das aber mit Rücksicht auf die Besonderheiten des Umgangs mit Kindern unterhalb der [[Strafmündigkeitsgrenze]] auch sprachlich nicht dem Bereich der strafrechtlich verstandenen Kriminalität zugeordnet werden soll und deshalb in aller Regel nicht als "Kriminalität", sondern als "Delinquenz" bezeichnet wird. Das impliziert als Reaktion eher erzieherische Einwirkungen als kriminalrechtliche Sanktionierungen.  


===Etymologie===
==Abgrenzung vom Kriminalitätsbegriff==
Vgl.: Begriff [[Delinquenz]], [[Devianz]]
*Der Begriff "Kriminalität" beinhaltet einen bewussten Normenverstoß, insofern ein "tatbestandliches, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten", welches einer Strafverfolgung und ggf. Bestrafung zugänglich ist. Kinder unter 14 Jahren können sich in Deutschland "tatbestandlich" und "rechtswidrig", aber nicht "schuldhaft" verhalten, da nach § 19 StGB eine "unwiderlegbare Vermutung der Schuldunfähigkeit" für bei Begehung einer Tat unter 14-Jährige vorliegt.
*Von Kindern realisiertes von Normen abweichendes Verhalten ist im Rahmen der kindlichen Sozialisation unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Aspekte einzuordnen: Um eine gesellschaftlich festgelegte Norm befolgen zu können, muss diese zunächst kennengelernt, verstanden und ausprobiert werden, ggf. müssen Erfahrungen mit Konsequenzen auf Normverstöße gemacht werden. Erst durch einen Prozess des Internalisierens von außen vorgegebener Normen wird eine Grundlage dafür geschaffen, bei Verstößen gegen die Norm eine Vorwerfbarkeit (im Sinne eines absichtsvollen normübertretenden Verhaltens) annehmen zu können. <br>
*Die begriffliche Unterscheidung weist auch auf eine unterschiedliche Reaktionsweise gegenüber kindlichen vs. erwachsenen Normen brechenden Verhaltens hin: Während auf (erwachsene) Kriminalität repressiv zu reagieren ist, soll auf (kindliche) Delinquenz präventiv reagiert werden.


===Definition Kinderdelinquenz===
== Umfang und Erscheinungsformen ==
In Deutschland können Kinder grundsätzlich nicht kriminell sein, da sie bis zum 14. Geburtstag gem. § 19 <nowiki>StGB</nowiki> strafunmündig sind. Um normbrechendes Verhalten von Kindern nicht im Bereich der strafrechtlich verstandenen [[Kriminalität]] anzusiedeln, erscheinen die sozialpsychologischen Begriffe der [[Devianz]] und [[Delinquenz]] zur Benennung des abweichenden Verhaltens angemessen, zumal diese Begriffe die mit dem Begriff [[Kriminalität]] verbundene soziale Verurteilung des Verhaltens und die damit verknüpfte [[Stigmatisierung ]] vermeiden.  
===Umfang===
Vgl. auch: Begriff [[Delinquenz]]
In der Polizeilichen Kriminalstatistik [[PKS]] erfasste Daten des sog. Hellfeldes bedürfen vor einer Interpretation bezogen auf die Entwicklung der Kriminalität der Ergänzung und Kontrastierung durch weitere Datenquellen (z.B. durch eine statistikbegleitende Dunkelfeldforschung oder Daten aus Staatsanwaltschaft und Justiz). Auf diese Weise können z.B. Veränderungen im Anzeigeverhalten, institutionelle Bewertungsvorgänge oder Veränderungen normativer Rahmenbedingungen einbezogen werden, die Auswirkungen auf die erhobenen Zahlen haben (können).<br>


===Begriffsgeschichte===
Bezogen auf den Bereich Kinderdelinquenz bestehen dabei verschiedene Schwierigkeiten: Risiken von Fehlern in der Erfassung und rechtlichen Bewertung sowie in der qualitativen Interpretation der Daten sind deutlich ausgeprägter als bei strafmündigen Personen. Zu Fragen ist z.B., ob die Registrierung unter 6-jähriger Kinder als tatverdächtig mit dem Entwicklungsstand von Kindern dieses Alters vereinbar ist, ob ein Kind diesen Alters also bewusst normverletzend gehandelt haben kann. Auch eine Mitregistrierung von Kindern als Tatverdächtige, wenn sie sich (ohne eigenen Tatbeitrag) in einer Gruppe von Personen, die eine Straftat begangen haben, befunden haben, lässt die Annahme einer Normabweichung dieses - registrierten - Kindes diskutierbar erscheinen. Auch fehlt bei Kindern die Möglichkeit der Prüfung und ggf. der Korrektur eines polizeilichen Tatverdachtes durch die Justiz, da ein Strafverfahren gegen sie nicht weitergeführt werden kann. <br>
Im Rahmen der Industrialisierung im 19. verbreitete sich in den westlichen Gesellschaften langsam die Überzeugung, dass „Kindheit“ ein vom Jugend- und Erwachsenalter abzugrenzender eigenständiger Lebensabschnitt im Leben eines jeden Menschen ist, der besonderen Schutz bedarf.
Unter der Annahme, dass im Fall strafunmündiger Täter die Anzeigehäufigkeit niedrig ist, führt schon ein geringfügiger Wandel der Anzeigebereitschaft bezogen auf Kinder zu erheblichen Veränderungen der Daten. Schließlich ist einzubeziehen, dass Veränderungen der personellen Kapazitäten z.B. der Polizei zu ggf. gravierenden Veränderungen in der Registrierung strafunmündiger Kinder führen können, ohne dass ein tatsächlich erhöhtes Aufkommen normabweichenden Verhaltens in dieser Altersgruppe vorhanden sein muss. <br>
Die Entwicklung der modernen Entwicklungspsychologie und allgemeinen Psychologie betrachtete und betrachtet die sich verändernden Lebensbedingungen für Kinder (d.h. zunehmende Berufstätigkeit der Eltern, Auflösung der sog. Großfamilie, Entstehung der Kern-/ Kleinfamilie bis hin zu den heute existierenden vielfältigen Formen von Familie: Klein-, Patchwork-, Ein- Elternfamilie etc., damit verbunden ein zunehmender Verlust elterlicher Kontrolle über die Kinder, sich  verändernde und variierende Erziehungsformen, wachsende Zahl außerfamilialer Sozialisationsinstanzen wie Schule, Freunde/ peer- group, Medien usw., die neben den Eltern Einfluss auf die Sozialisation der Kinder ausüben etc.) und führte zu der allgemeinen Ansicht, dass Kindern die Reife fehle, um die volle Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Vor diesem Hintergrund setzten Diskussionen hinsichtlich der Höhe der [[Strafmündigkeitsgrenze]] um das 19. Jahrhundert ein.<br>
Zu diesem Zeitpunkt galt in Deutschland gemäß dem Strafgesetzbuch von 1871 noch die [[Strafmündigkeitsgrenze]] von 12 Jahren. D.h. abweichendes, strafrechtlich relevantes Verhalten von Kindern wurde ab ihrem 12. Lebensjahr als ebenso kriminelles Verhalten verstanden, wie abweichendes, Strafgesetze brechendes Verhalten von Jugendlichen und Erwachsenen. Die [[Strafmündigkeitsgrenze]] von 12 Jahren wurde mit dem ersten Jugendgerichtsgesetz von 1923 auf 14 Jahre heraufgesetzt. Es wurde und wird jedoch auch heute noch immer wieder darüber diskutiert, ob die [[Strafmündigkeitsgrenze]] auf 12 Jahre gesenkt oder aber auf 16 Jahre erhöht werden sollte.


Der Begriff Kinderdelinquenz wird heute gemäß der im Abschnitt „Definition Kinderdelinquenz“ dargestellten Fassung verstanden und steht in einem zeitlichen Zusammenhang zu dem sich seit dem 19. Jahrhundert wandelnden Verständnis von Kindheit (s.o.). Seit wann genau dieser Begriff zur Bezeichnung strafrechtlich relevanten normbrechenden Verhaltens von Kindern verwendet wird, ist (m.E.) jedoch unklar.
Insgesamt finden sich in der PKS wellenförmige Verläufe in der Entwicklung der Tatverdächtigenanteile von Kindern, die unter dem Vorbehalt möglicher verzerrender Einflussfaktoren zu sehen sind. Eine kontinuierliche Verjüngung der Tatverdächtigen im Hellfeld läßt sich (bis 2005) anhand der Daten nicht belegen. Auch eine deutliche Zunahme von Mehrfach- oder Intensivtätern lässt sich nicht ableiten. Ein zunehmender Trend findet sich bis etwa 2004 bezogen auf einfache und qualifizierte Körperverletzung, wobei Gewalt-, Körperverletzungs- und Drogendelikte den kleinsten Teil der Kinderdelinquenz ausmachen. Bei dem größten Anteil der Kinderdelinquenz, den Eigentumsdelikten, ist ab Mitte der 90er Jahre ein deutlicher Rückgang festzustellen.  
Der Vergleich der Tatverdächtigenanteile der strafunmündigen Kinder an der Gesamtkriminalität zeigt, dass die registrierte Kinderdelinquenz zwar gestiegen ist, insgesamt aber nach wie vor nur einen geringen Anteil ausmacht. <br>
Die Datenlage zur Erfassung des Umfangs und der Struktur der Kinderdelinquenz ist in Deutschland noch als unzureichend anzusehen. Eine alleinige Interpretation der Hellfelddaten der Polizei sollte im Bereich der Kinderdelinquenz zurückhaltend erfolgen.


Um Reaktionen der Jugendhilfe für die Kinder und die Familien sinnvoll und nutzbar zu machen, ist eine zeitnahe Reaktion erforderlich, was häufig aufgrund von unterschiedlichen Verfahrensweisen der beteiligten Institutionen (z.B. Polizei und Jugendamt) nicht erfolgt. Ein weiterer Aspekt ist die Bereitstellung ausreichender auch personeller Ressourcen, um auf eingehende Meldungen oder Hinweise auf kindliche Auffälligkeiten oder Delinquenz mit einem pädagogisch angemessenen Angebot reagieren zu können.


===Zusammenhänge mit anderen Begriffen===
===Formen===
Delikte von Kindern, die nach strafrechtlichen Definitionen als Straftaten angesehen werden, treten meist nicht als bewusste Normbrüche, sondern im Rahmen aus entwicklungspsychologischer Sicht normalen kindlichen, explorativen Verhaltens auf, wobei es zu Grenzüberschreitungen kommen kann. Kinderdelinquenz tritt häufig in der Freizeit auf und ist durch typisch kindliche Motive, emotional gesteuerte Begehensweisen und eine Verteilung der Verantwortung auf die Gruppe gekennzeichnet. Häufig stehen ein Streben nach Anerkennung insbesondere in der peer-group und nach Statussymbolen im Vordergrund. Delinquente Verhaltensweisen sind häufig Laden- und Fahrraddiebstahl, Sachbeschädigung oder leichte Körperverletzung, sie werden meist spontan und unüberlegt realisiert. <br>
Kinderdelinquenz richtet sich häufig gegen etwa gleichaltrige Opfer. Vor allem Gewaltdelikte, bei denen Kinder Täter sind, ereignen sich in der Regel im näheren Wohnumfeld, so dass von Täter-Opfer-Beziehungen auszugehen ist.
== Verlaufsformen ==
== Sanktionierungen ==


[[Devianz]], [[Jugendkriminalität]], [[Jugendgewalt]], [[abweichendes Verhalten]], [[Kinderkriminalität]]


===Zusammenhänge mit der Realität===
==Kinderdelinquenz als Prädiktor für späteres kriminelles Verhalten?==
Retrospektive Untersuchungen an Rückfalltätern zeigen, dass diese häufig als Kinder früh wegen strafbarer Handlungen auffielen. Umgekehrt finden sich aber keine belastbaren Daten dafür, dass das Tatalter oder die Häufigkeit delinquenten Verhaltens in der Kindheit eine Prognose späterer Kriminalität erlaubt. <br>
Hinweise auf eine Kumulation von Belastungsfaktoren und auf nicht erfolgreiche Interventionsbemühungen im Vorfeld bei sog. Intensivtätern machen deutlich, dass präventive Bestrebungen ggf. noch gezielter im Hinblick auf eine Verbesserung der Zusammenarbeit der beteiligten Personen und Institutionen und z.B. auf eine Verbesserung der Sozialisationsbedingungen von Kindern ausgerichtet werden könnten. Zeitnahe Reaktionen auf delinquentes kindliches Verhalten im Sinne einer Normverdeutlichung (nicht einer Strafe)befördert die Entwicklung eines Normenverständnisses bei Kinder (welches durchaus bei den meisten Kindern Studien zufolge anzutreffen ist) und eine Internalisierung, die es den Kindern im weiteren Verlauf erlaubt, bewusst Entscheidungen für (oder auch gegen) ein normenkonformes Verhalten zu treffen.<br>
Eine sachliche Darstellung des Phänomens kindlicher Delinquenz in der Öffentlichkeit und eine zurückhaltende Interpretation von Daten der PKS kann eine Skandalisierung entwicklungspsychologisch normaler Verhaltensweisen vermeiden und Stigmatisierungsprozesse verhindern helfen.


====Entwicklung und Quantität der Kinderdelinquenz anhand der Daten der PKS====
==Entstehungsbedingungen==
Es gibt verschiedenen Forschungsansätze, mittels derer versucht wird, die Entwicklung und Quantität der Kinderdelinquenz in Deutschland zu ermitteln: Die Akten- Verlaufs- Untersuchung (veraltet), die Dunkelfeldforschung (in der Regel nicht repräsentativ, da zu speziell) und die Polizeiliche Kriminalstatistik ([[PKS]]). Die [[PKS]] ist die einzige Statistik in der Bundesrepublik, die umfassende Zahlen über das Kriminalitätsgeschehen von Kinderdelinquenz ermöglichen kann.  
Mit der Auflösung der Großfamilie, veränderten Erziehungsstilen oder einer zunehmenden Berufstätigkeit der Eltern außer Haus veränderte sich das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Damit einhergehend verringerten sich die innerfamiliären Kontakte und die Beaufsichtigung der Kinder durch die Eltern, aber auch die innerfamiliären Identifikationsmöglichkeiten für die Kinder. Kinder orientier(t)en sich zunehmend an außerfamiliären Personen, z.B. in der Gleichaltrigengruppe (peer group), an Lehrkräften oder Rollenvorbildern in den Medien (Fernsehen, Internet). Eine Sozialisation und damit auch die Vermittlung von Normen erfolgt(e) insofern zunehmend nicht mehr (vorwiegend) innerhalb des familiären Verbandes. <br>
Insgesamt ist ein wellenförmiger Verlauf in der Entwicklung der Tatverdächtigenanteile der Kinder in der [[PKS]] zwischen 1972 und 1998 festzustellen. Ende 1990 war ein ähnlich hohes Niveau erreicht, wie es bereits in den 70er Jahren einmal existiert hatte.<br>
Durch veränderte Sozialisationsbedingungen, Indivualisierungstendenzen und einen Strukturwandel der Kindheitsphase werden Kinder zunehmend Freiheiten zugewiesen und sie werden zu einer früheren Verselbstständigung angehalten, die nicht unbedingt ihrem Entwicklungsstand entspricht. Zum Erwerb eines Moral- und Normenverständnisses als Grundlage für eine bewusste Entscheidung, sich diesen entsprechend verhalten zu wollen, sind Kinder auf die Vorgabe eines verbindlichen Rahmens, auf Vorbilder und die Bereitschaft ihrer Bezugspersonen, sich mit ihnen über Normen und soziale Regeln auseinanderzusetzen, angewiesen. <br>
Speziell in den 1990er Jahren ist festzustellen, dass von 1993 bis 1998 insgesamt ein Anstieg der Kinderdelinquenz, v.a. der 12- 13jährigen Kinder, innerhalb der absoluten Tatverdächtigenzahlen ([[TVZ]]) und der Tatverdächtigenbelastungsziffern ([[TVBZ]]) zu verzeichnen ist. Seit 1999 sind diese Zahlen wieder rückläufig. Jedoch bedeuten zunehmende [[TVZ]] und [[TVBZ]] nicht unbedingt, dass die Kinderdelinquenz tatsächlich so entschieden und bedrohlich geworden ist, dass dies neue gesetzliche Regelungen erforderlich machen bzw. rechtfertigen würde. Denn die Aussagekraft der PKS hinsichtlich der tatsächlichen Kinderdelinquenz kann durch sog. „Zehrfaktoren“ erheblich gemindert werden (Veränderung des Anzeigen- und Registrierungsverhaltens der Bevölkerung und Polizei zu Lasten der Strafunmündigen seit den 1990er Jahren u.ä.).<br>
Normen verletzendes Verhalten stellt ein entwicklungspsychologisch gesehen normales Phänomen dar, soweit es sich um ein episodenhaftes Verhalten handelt. Ein solches Verhalten ist nicht in unmittelbarer Abhängigkeit von besonderen Belastungsfaktoren in der kindlichen Umwelt zu sehen. So weisen Studien darauf hin, dass zu kindlichen Delinquenten keine signifikanten Hinweise auf Auffälligkeiten bezogen auf eine psychosoziale Belastung oder z.B. bestimmte Persönlichkeitsmerkmale dieser Kinder festgestellt werden können. <br>
Der Vergleich der Tatverdächtigenanteile der strafunmündigen Kinder an der Gesamtkriminalität jedoch zeigt, dass die registrierte Kinderdelinquenz zwar gestiegen, insgesamt aber nach wie vor nur einen geringen Anteil ausmacht. Insofern besteht auch kein Grund, die Kinderdelinquenz als so besorgniserregend einzustufen, wie es in der Öffentlichkeit, v.a. den Medien und der Politik, erfolgt. Dies bedeutet nicht, dass die Kinderdelinquenz verharmlost werden soll und kein Handlungsbedarf bezüglich dieser Problematik existieren würde.
Soweit (eine vergleichsweise kleine Zahl) Kinder in großem Umfang oder durch besonders gravierende Delikte auffällig werden, finden sich dagegen Hinweise auf eine Kumulation familiärer, individueller und sozialer Belastungsfaktoren sowie häufig eine Vorgeschichte nicht erfolgreicher Interventions- und Hilfeangebote. Einzubeziehen ist, dass ggf. nicht "schwierige Kinder", sondern "Kinder in schwierigen Situationen" durch häufige Delinquenz auffällig werden.Einzubeziehen ist weiter, dass sozial benachteiligte Kinder aus verschiedenen Gründen (größere Aufmerksamkeit seitens der Institutionen, geringere Fähigkeiten zur Vermeidung einer Entdeckung) ggf. vermehrt als mit delinquentem Verhalten auffällig registriert werden, so dass sie im Hellfeld der registrierten Kinderdelinquenz überrepräsentiert sein können. <br>


====Die Veränderung der Sozialisationsbedingungen und der Strukturwandel der Kindheitsphase, die Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinderdelinquenz haben====
==Öffentliche Wahrnehmung / Einfluss von Politik und Medien==
Seit den 1990er Jahren ist ein verstärkter Wandel hinsichtlich der Familie, der Freizeit- und Umwelt, den Konsum- und Medieninteressen festzustellen: Immer stärker werdende Berufstätigkeit der Eltern, vielfältige Formen von Familie, verbunden mit einem zunehmenden Verlust elterlicher Kontrolle über die Kinder, sich verändernden und variierenden Erziehungsformen, eine wachsende Zahl an außerfamilialen Sozialisationsinstanzen (Schule, Freunde/ peer- group, Medien usw.), die neben den Eltern Einfluss auf die Sozialisation der Kinder nehmen u.v.m.<br>
Die Problematik der Kinderdelinquenz wird (in der jüngeren Vergangenheit z.B. im Zeitraum des Regierungswechsel in Hamburg von der SPD zur CDU/ Schill-Partei im Jahr 2001 sowie CDU/ Schill-Partei zur CDU im Jahr 2004) z.T. massiv als Wahlkampfthema benutzt, wobei Erkenntnisse z.B. der Psychologie, der Kriminologie oder der Pädagogik kaum einbezogen werden. Anlass für eine starke Medienpräsenz des Themas Kinderdelinquenz bieten auch spektakuläre Einzelfälle (z.B. Amokläufe in Schulen oder ausgeprägte Mobbingvorfälle unter Kindern). Soweit Bezug auf Daten der PKS genommen wird, um einen Anstieg einer "Kinderkriminalität" zu belegen, ist dies ohne die gleichzeitige Darstellung der möglichen Verzerrungsfaktoren dieser Daten ggf. geeignet, in der Öffentlichkeit eine falsche - überzogene - Vorstellung des Ausmaßes delinquenten Verhaltens von Kindern zu erzeugen. Zusammen mit (durch Studien nicht belegten) Behauptungen z.B. zu Persönlichkeitsvariablen bei kindlichen Normverletzern, die ein solches Verhalten quasi bedingen, kann dies zu Tendenzen in der Meinungsbildung führen, den Präventionsgedanken als Reaktion auf delinquentes kindliches Verhalten allgemein zugunsten einer Betonung repressiver Vorgehensweisen zurückzustellen. Da zudem die Altersgrenze eher normativ-politisch als z.B. entwicklungspsychologisch begründet ist und für andere Bereiche gesellschaftlichen Handelns (z.B. eine zivilrechtliche Volljährigkeit) andere - höhere - Altersgrenzen festgelegt sind, wird wiederkehrend über eine Veränderung der Strafmündigkeitsgrenze nach oben oder unten (je nach aktueller Situation und Interessenlage) diskutiert.
Insgesamt ergibt sich durch die veränderten Sozialisationsbedingungen und den Strukturwandel der Kindheitsphase, dass Kinder, besonders die 12-13jährigen,  zunehmend mehr Freiheiten besitzen, die Individualisierungstendenzen zunehmen, die Verselbstständigung altersbezogen früher als bisher einsetzt, neben der Familie und den traditionellen außerfamilialen Sozialisationsinstanzen wird die peer- group immer bedeutender für die Kinder und ihre Sozialisation, durch das Sinken der Normverbindlichkeit steigt die Freiheit der Kinder, sich bezüglich der Verhaltens- und Lebensform frei entscheiden zu können usw. Diese neuen Freiheiten müssen jedoch nicht immer bedeuten, dass die Kinder auch dementsprechend selbstständig und eigenverantwortlich handeln können, denn zum Teil sind die Kinder mit der teilweise frühen Entlassung aus der elterlichen Kontrolle, dem frühen Verfügen über finanzielle Ressourcen und damit verbundenen, von den Medien geförderten, früh einsetzenden Bedürfnissen nach Unabhängigkeit und Konsum völlig überfordert.
 
 
==Zusammenhänge mit anderen Begriffen==
====Die Entstehungsbedingungen von Kinderdelinquenz====
Die Entstehungsbedingungen für Kinderdelinquenz sind vielfältig und niemals nur durch einen Erklärungsansatz auf der gesellschaftlichen Makro- oder der sozial bedingten individuellen Mikroebene erklärbar. Bei Kinderdelinquenz besteht die Schwierigkeit der Vorhersagemöglichkeit der weiteren biographischen Entwicklung des Kindes. Anhaltspunkt zur Vorhersage der Entwicklung des jeweiligen Kindes können auffällige Persönlichkeitsmerkmale des Kindes und bekannte ungünstige Sozialisationsbedingungen sein, wobei v.a. das Zusammenspiel dieser verschiedenen Faktoren bedeutsam ist.
Delinquentes Verhalten von Kindern ist gemäß wissenschaftlichen Erkenntnissen ubiquitär und episodenhaft, unterschiedlich, spontan sowie unüberlegt Deshalb ist m.E. davon auszugehen, dass eine der Entstehungsbedingungen für Kinderdelinquenz das junge Alter ist.
 
====Existierende Möglichkeiten der formellen Sozialkontrolle in Deutschland zur Bekämpfung der Kinderdelinquenz====
Es wird heute häufig in der Öffentlichkeit beklagt (Medien, Politik, z.T. auch Pädagogen), dass nur unzureichende Möglichkeiten der formellen Sozialkontrolle zur Bekämpfung der Kinderdelinquenz existieren würden. Diese Klage ist jedoch unberechtigt:<br>
Eine formelle Sozialkontrolle im Sinne einer strafrechtlichen Verfolgung ist bei Kindern insofern ausgeschlossen, als dass sie gem. § 19 StGB unwiderlegbar schuldunfähig sind. Der Schutz des Kindes vor strafrechtliche- formeller Sozialkontrolle bedeutet jedoch nicht, dass ein Kind nicht unmittelbar und mittelbar als Folge seines delinquenten Handelns mit formellen Reaktionen konfrontiert werden könnte. Die Konfrontation des Kindes mit formellen Reaktionen kann z.B. durch die Ermittlungsarbeit der Polizei, zivilrechtliche Schadensersatzverfahren, kinder- und jugendhilferechtliche Reaktionen, familiengerichtliche Maßnahmen bezüglich eventueller Sorgerechtsentscheidungen und Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen durch schulische Einrichtungen erfolgen.<br>
Neben den Möglichkeiten, das Kind aufgrund von delinquentem Handeln mit formellen Reaktionen zu konfrontieren, gibt es auch die Möglichkeit der formellen Sozialkontrolle der Eltern, wenn die Führsoge- und Erziehungspflicht als verletzt angesehen werden kann, z.B. gemäß § 171 <nowiki>StGB</nowiki> oder gemäß § 12 Abs.2 <nowiki>JÖschG</nowiki>.<br>
Es zeigt sich also, dass in der BRD im Bereich formeller Sozialkontrolle, wenn auch nicht im strafrechtlichen Sinne, umfassend und differenziert auf Kinderdelinquenz reagiert werden kann.
 
====Aktuelle politische und gesellschaftliche Diskussionen zur Kinderdelinquenz====
In der nahen Vergangenheit (insbesondere Zeitraum des Regierungswechsel in Hamburg von der SPD zur CDU/ Schill- Partei im Jahr 2001 sowie CDU/ Schill- Partei zur CDU im Jahr 2004) und der Gegenwart wurde die Problematik von Kinderdelinquenz massiv als Wahlkampfthema benutzt. Die Medien und die CDU/ Schill- Partei thematisierte Kinderdelinquenz öffentlichkeitswirksam, ohne dabei sachliche Argumente aus der Wissenschaft (Fachrichtungen Kriminologie, Pädagogik, Rechtswissenschaften) einzubeziehen. Als Folge dessen ist zu vermuten, dass die [[Kriminalitätsfurcht]] der Hamburger Bevölkerung vor Kinderdelinquenz in einem nicht mit dem tatsächlichen (geringen) Ausmaß der Kinderdelinquenz in Hamburg übereinstimmenden Maße gestiegen ist. Auf diese These, die es noch wissenschaftlich zu überprüfen gilt, deutet u.a. die Wiedereinführung der [[geschlossene Unterbringung|geschlossenen Unterbringung]] von delinquenten Kindern hin, die aus wissenschaftlicher und rechtlicher Perspektive umstritten ist.
 
====Schlußfolgerungen====
Die Ergebnisse bisheriger Datenerhebungen und Untersuchungen zu dem Thema Kinderdelinquenz weisen darauf hin, dass ein erhöhter Präventionsbedarf besteht. Zu empfehlende (kombinierte) Präventionsansätze wären: Die Verbesserung der Zusammenarbeit aller an der Sozialisation Beteiligten, zeitnahe sozialpädagogische Sofortmaßnahmen in Zusammenarbeit mit der Polizei, ein frühzeitiges Eingreifen des Staates aufgrund des Wächteramtes, eine ausgewogene Kinder-, Jugend-, Sozial- und Familienpolitik und eine sachliche Darstellung und Thematisierung der Kinderdelinquenz in der Öffentlichkeit.
 
===Kriminologische Relevanz===
 
Kinderdelinquenz besitzt als frühester Zeitpunkt für mögliches strafrechtlich relevantes abweichendes Verhalten im Leben eines Menschen kriminologische Relevanz.


[[Devianz]], [[Jugendkriminalität]], [[Jugendgewalt]], [[abweichendes Verhalten]], [[Kinderkriminalität]]


===Literatur===
==Literatur==


*Bott, Klaus/Reich, Kerstin/Kerner, Hans-Jürgen: Kriminalitätsvorstellungen von Kindern, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 8-29)
*Brettfeld, Katrin: Umfang, Struktur und Entwicklung der Kinderdelinquenz: Befunde und Aussagekraft der polizeilichen Kriminalstatistik für Deutschland, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 30-52)
*Brettfeld, Katrin: Umfang, Struktur und Entwicklung der Kinderdelinquenz: Befunde und Aussagekraft der polizeilichen Kriminalstatistik für Deutschland, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 30-52)
Drenkhahn, Kirstin: Rechtliche Reaktionsmöglichkeiten auf Kinderdelinquenz im europäischen Vergleich, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 82-93)
*Drenkhahn, Kirstin: Rechtliche Reaktionsmöglichkeiten auf Kinderdelinquenz im europäischen Vergleich, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 82-93)
*Feest, Johannes: Kinderkriminalität In: Kaiser, Günther/Kerner, Hans-Jürgen/Sack, Fritz/Schellhoss, Hartmut (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3.Auflage, 1993 C.F. Müller Juristischer Verlag Heidelberg
*Feest, Johannes: Kinderkriminalität In: Kaiser, Günther/Kerner, Hans-Jürgen/Sack, Fritz/Schellhoss, Hartmut (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3.Auflage, 1993 C.F. Müller Juristischer Verlag Heidelberg (S. 210-214)
*Heßler, Manfred: Institutioneller Umgang mit Kinderdelinquenz am Beispiel von Polizei und Jugendamt - Rechtlicher Rahmen, tatsächliche Praxis und aktuelle Entwicklungen, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 94-119)
*Heßler, Manfred: Institutioneller Umgang mit Kinderdelinquenz am Beispiel von Polizei und Jugendamt - Rechtlicher Rahmen, tatsächliche Praxis und aktuelle Entwicklungen, In: Praxis der Rechtspsychologie 16. Jahrgang, Heft 1/2 Juli 2006 Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Bonn (S. 94-119)
*Holzmann, Alexa: Polizeilicher Umgang mit unter 14-jährigen Tatverdächtigen, Eine kritische Analyse der PDV 382, 2008 Verlag Dr. Kovac, Hamburg
*Holzmann, Alexa: Polizeilicher Umgang mit unter 14-jährigen Tatverdächtigen, Eine kritische Analyse der PDV 382, 2008 Verlag Dr. Kovac, Hamburg
*Plewig, Hans-Joachim: Was braucht der kleine Willy? In: Müller, Siegfried/Peter, Hilmar (Hrsg.): Kinderkriminalität, 1998 Leske + Budrich, Opladen, S. 277-288 (277-285).
*Plewig, Hans-Joachim: Was braucht der kleine Willy? In: Müller, Siegfried/Peter, Hilmar (Hrsg.): Kinderkriminalität, 1998 Leske + Budrich, Opladen (S. 277-288).
*Pongratz, Eckhard L.: Zum Umgang mit kindlichen Auffälligkeiten. Eine Untersuchung zum Dunkelfeld und zur Prävention von Kinderdelinquenz in Grundschulen, 2000 Weißer Ring Verlags-GmbH, Mainz, S. 23f, 45, 48, 66f.
*Pongratz, Eckhard L.: Zum Umgang mit kindlichen Auffälligkeiten. Eine Untersuchung zum Dunkelfeld und zur Prävention von Kinderdelinquenz in Grundschulen, 2000 Weißer Ring Verlags-GmbH, Mainz
*Pongratz, Lieselotte/Jürgensen, Peter: Kinderdelinquenz und kriminelle Karrieren. Eine statistische Nachuntersuchung delinquenter Kinder im Erwachsenenalter, 1990 Pfaffenweiler: Centaurus
*Pongratz, Lieselotte/Jürgensen, Peter: Kinderdelinquenz und kriminelle Karrieren. Eine statistische Nachuntersuchung delinquenter Kinder im Erwachsenenalter, 1990 Centaurus, Pfaffenweiler  
*Reuter, Dirk: Kinderdelinquenz und Sozialkontrolle. Hamburg 2001. S. 1-3, 6-110, 118ff, 123-134, 207- 224, 236- 251, 267, 269-272, 281f.
*Reuter, Dirk: Kinderdelinquenz und Sozialkontrolle, 2001 Verlag Dr. Kovac, Hamburg
*(noch ergänzen)  In: Schmidt-Gödelitz, Axel/Pfeiffer, Christian/Ziegenspeck, Jörg (Hrsg.): Kinder- und Jugendkriminalität in Deutschland: Ursachen, Erscheinungsformen, Gegensteuerung, 1997 Verlag edition erlebnispädagogik, Lüneburg
*Remschmidt, Helmut/Walter, Reinhard (2009) "Kinderdelinquenz". Gesetzesverstöße Strafunmündiger und ihre Folgen. Heidelberg: Springer.
*Weitekamp, Elmar/Meier, Ulrike: Werden unsere Kinder immer krimineller? In: Müller, Siegfried/ Peter, Hilmar (Hrsg.): Kinderkriminalität, 1998 Leske + Budrich, Opladen, S. 83-112 (83-85, 98f, 111).
*Weitekamp, Elmar/Meier, Ulrike: Werden unsere Kinder immer krimineller? In: Müller, Siegfried/ Peter, Hilmar (Hrsg.): Kinderkriminalität, 1998 Leske + Budrich, Opladen (S. 83-112)




Weitere Informationen zum Stichwort Kinderdelinquenz finden Sie im Kriminologie-Lexikon ONLINE unter [http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=K&KL_ID=98 Kinderdelinquenz].
Vgl. auch: Kriminologie-Lexikon ONLINE unter [http://www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=K&KL_ID=98 Kinderdelinquenz].
31.738

Bearbeitungen