Giorgio Agamben: Unterschied zwischen den Versionen

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Der weltbekannte italienische Philosoph '''Giorgio Agamben''' (* 22. April 1942 in Rom) befasst sich - aufbauend auf, bzw. inspiriert von [[Walter Benjamin]], Martin Heidegger, Carl Schmitt, Hannah Arendt, Michel Foucault sowie italienischen Neomarxisten - mit Staat und Souveränität, der Gewalt im Recht, den Räumen der Rechtlosigkeit, der Figur des Flüchtlings sowie mit der häufig unterschätzten Rolle der Polizei ("Souveräne Polizei"). Er sensibilisiert für die Problematik jener "Zwischenreiche von Leben und Tod" (Agamben), in denen der Einzelne als absolut rechtloses Wesen ("homo sacer") jede Bestimmungsmöglichkeit über sein Leben verliert. Seiner eher apokalyptisch anmutenden Gegenwartsdiagnose setzt er selbst als Idee für eine mögliche künftige Form des Zusammenlebens die von Arendt inspirierte "kommende Gemeinschaft" entgegen.
Der weltbekannte italienische Philosoph '''Giorgio Agamben''' (* 22. April 1942 in Rom) befasst sich - aufbauend auf, bzw. inspiriert von [[Walter Benjamin]], Martin Heidegger, Carl Schmitt, Hannah Arendt, Michel Foucault sowie italienischen Neomarxisten - mit Staat und Souveränität, der Gewalt im Recht, den Räumen der Rechtlosigkeit, der Figur des Flüchtlings sowie mit der häufig unterschätzten Rolle der Polizei ("Souveräne Polizei"). Er sensibilisiert für die Problematik jener "Zwischenreiche von Leben und Tod" (Agamben), in denen der Einzelne als absolut rechtloses Wesen ("homo sacer") jede Bestimmungsmöglichkeit über sein Leben verliert.
 
Zu Agambens u.a. von Hannah Arendt beeinflussten sozialtheoretischen Leitideen gehört die "kommende Gemeinschaft" (coming community) - ein Hoffnungsschimmer in einer ansonsten sehr deprimierenden Gesamtdiagnostik, in der die souveräne [[Macht]] den Ausnahmezustand herstellt, der das Recht suspendiert und dem Menschen damit die Bestimmungsmacht über das eigene Leben nimmt. Das qualifizierte menschliche Leben (bios) wird auf "blosses Leben" oder das "nackte Leben" (zoe) reduziert. Agamben identifiziert den Ausnahmezustand mit der Entscheidungsmacht über Leben und Tod. Im Ausnahmezustand sind es die Machthaber, die ueber zoe und bios entscheiden. Was dem auf zoe reduzierten Individuum bleibt, ist die Manifestation von Dissens oder Widerstand allein mittels seines Körpers (z.B. Hungerstreik, Suizid, Angriff auf Bewacher).


Agamben arbeitet gerne mit Begriffspaaren, die eine Beziehung "inklusiver Exklusivität" bezeichnen: "zoé und bios, souveräne Macht und homo sacer sind die grundlegenden Elemente eines politischen Raumes, der auf der souveränen Ausnahme basiert, die, so Agamben, in den westlichen Demokratien zur Regel geworden ist. Sie alle sind Grenzfiguren, die durch eine Bewegung des einschließenden Ausschlusses den politischen Raum definieren: Der homo sacer (und sein nacktes Leben: zoé) - für KriminologInnen: vgl. auch den Homo necans von Walter Burkert [[http://www.kriminologie.uni-hamburg.de/wiki/index.php/Homo_necans]] - ist die untere Grenze jenes Raumes, von dem der Souverän (und sein politisch qualifiziertes Leben: bios) die obere Grenze. Sowohl der Souverän als auch der homo sacer befinden sich auf den Grenzen des politischen Raumes, in den sie durch ihre Exklusion inkludiert sind. Dem homo sacer als Figur des römischen Rechts und seinem tötbaren, aber nicht opferbaren Leben, entspricht das Leben des Souveräns, der seinerseits vom Recht ausgenommen ist, obgleich er es begründet. Das Paradigma für diese exklusive Inklusion findet Agamben im Ausnahmezustand, dessen Bestimmung er an Carl Schmitts Figur des Souveräns als demjenigen der von Außen über den Ausnahmezustand entscheidet, sowie in Benjamins Verständnis der zur Regel gewordenen Ausnahme orientiert" (Muhle 2007: 35 f.).
Agamben arbeitet gerne mit Begriffspaaren, die eine Beziehung "inklusiver Exklusivität" bezeichnen: "zoé und bios, souveräne Macht und homo sacer sind die grundlegenden Elemente eines politischen Raumes, der auf der souveränen Ausnahme basiert, die, so Agamben, in den westlichen Demokratien zur Regel geworden ist. Sie alle sind Grenzfiguren, die durch eine Bewegung des einschließenden Ausschlusses den politischen Raum definieren: Der homo sacer (und sein nacktes Leben: zoé) - für KriminologInnen: vgl. auch den Homo necans von Walter Burkert [[http://www.kriminologie.uni-hamburg.de/wiki/index.php/Homo_necans]] - ist die untere Grenze jenes Raumes, von dem der Souverän (und sein politisch qualifiziertes Leben: bios) die obere Grenze. Sowohl der Souverän als auch der homo sacer befinden sich auf den Grenzen des politischen Raumes, in den sie durch ihre Exklusion inkludiert sind. Dem homo sacer als Figur des römischen Rechts und seinem tötbaren, aber nicht opferbaren Leben, entspricht das Leben des Souveräns, der seinerseits vom Recht ausgenommen ist, obgleich er es begründet. Das Paradigma für diese exklusive Inklusion findet Agamben im Ausnahmezustand, dessen Bestimmung er an Carl Schmitts Figur des Souveräns als demjenigen der von Außen über den Ausnahmezustand entscheidet, sowie in Benjamins Verständnis der zur Regel gewordenen Ausnahme orientiert" (Muhle 2007: 35 f.).
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Er war von 1986-1992 Programmdirektor am Collège International de Philosophie in Paris, lehrte in Macerata und Verona, wurde 2003 Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti della IUAV in Venedig und ist Professor für Philosophie an der European Graduate School in Saas-Fee in der Schweiz. Gastprofessuren nahm er in den USA, Düsseldorf und Köln wahr. Eine Professur an der New York University lehnte er 2003 aus politischen Gründen ab.   
Er war von 1986-1992 Programmdirektor am Collège International de Philosophie in Paris, lehrte in Macerata und Verona, wurde 2003 Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti della IUAV in Venedig und ist Professor für Philosophie an der European Graduate School in Saas-Fee in der Schweiz. Gastprofessuren nahm er in den USA, Düsseldorf und Köln wahr. Eine Professur an der New York University lehnte er 2003 aus politischen Gründen ab.   


Zu Agambens u.a. von Hannah Arendt beeinflussten sozialtheoretischen Leitideen gehört die "kommende Gemeinschaft" (coming community) - ein Hoffnungsschimmer in einer ansonsten sehr deprimierenden Gesamtdiagnostik, in der die souveräne [[Macht]] den Ausnahmezustand herstellt, der das Recht suspendiert und dem Menschen damit die Bestimmungsmacht über das eigene Leben nimmt. Das qualifizierte menschliche Leben (bios) wird auf "blosses Leben" oder das "nackte Leben" (zoe) reduziert. Agamben identifiziert den Ausnahmezustand mit der Entscheidungsmacht über Leben und Tod. Im Ausnahmezustand sind es die Machthaber, die ueber zoe und bios entscheiden. Was dem auf zoe reduzierten Individuum bleibt, ist die Manifestation von Dissens oder Widerstand allein mittels seines Körpers (z.B. Hungerstreik, Suizid, Angriff auf Bewacher).


==Homo Sacer==
==Schlüsselbegriffe==


===Homo Sacer===
In dieser Trilogie (Einaudi 1995ff.) - einer Art Kulturgeschichte der Ein- und Ausschliessung - wendet sich Agamben gegen das idyllische Bild von der Globalisierung als "global village". Statt eines "Dorfes" sieht er eher eine Welt voller "Lager", in denen rechtlose Menschen auf ihre physische Existenz reduziert sind. Er postuliert eine rechtlich verfasste Spaltung der Identität in ein vergesellschaftetes Wesen (zoon politikon) und das „bloße Leben“ (Il potere sovrano e la nuda vita), die er auf Aristoteles' folgenreiche Unterscheidung zwischen „bios“ und „zoé“ in der Nikomachischen Ethik zurückführt (die Griechen kannten zwei Begriffe für Leben: zoé für die einfache Tatsache des Lebens und bios für die den Einzelnen oder eine Gruppe eigene Form oder Art zu leben). Unter Bezug auf Arendt („Wir Flüchtlinge“) und Foucault entwickelt er eine Philosophie von rechtsfreien Räumen und der Reduzierung von Menschen auf ihr „nacktes Leben“ (als Beispiel dienen ihm vor allem die nationalsozialistischen Konzentrationslager). Demnach streben die Mächtigen seit der Antike nicht nur die Kontrolle der Individuen als gesellschaftliche Wesen an, sondern auch die Vereinnahmung ihres biologischen Lebens. Die Folge ist eine latente, für ständig wachsende Teile der Weltbevölkerung auch offene, staatsrechtlich erzwungene Spaltung der Existenz in Mensch und Zugehörigkeit. Wie vor ihm Walter Benjamin, Jacob Taubes und Jacques Derrida erkennt Agamben ihre konsequenteste Ausformung in der Freund-Feind-Dichotomie im "Begriff des Politischen" von Carl Schmitt.
In dieser Trilogie (Einaudi 1995ff.) - einer Art Kulturgeschichte der Ein- und Ausschliessung - wendet sich Agamben gegen das idyllische Bild von der Globalisierung als "global village". Statt eines "Dorfes" sieht er eher eine Welt voller "Lager", in denen rechtlose Menschen auf ihre physische Existenz reduziert sind. Er postuliert eine rechtlich verfasste Spaltung der Identität in ein vergesellschaftetes Wesen (zoon politikon) und das „bloße Leben“ (Il potere sovrano e la nuda vita), die er auf Aristoteles' folgenreiche Unterscheidung zwischen „bios“ und „zoé“ in der Nikomachischen Ethik zurückführt (die Griechen kannten zwei Begriffe für Leben: zoé für die einfache Tatsache des Lebens und bios für die den Einzelnen oder eine Gruppe eigene Form oder Art zu leben). Unter Bezug auf Arendt („Wir Flüchtlinge“) und Foucault entwickelt er eine Philosophie von rechtsfreien Räumen und der Reduzierung von Menschen auf ihr „nacktes Leben“ (als Beispiel dienen ihm vor allem die nationalsozialistischen Konzentrationslager). Demnach streben die Mächtigen seit der Antike nicht nur die Kontrolle der Individuen als gesellschaftliche Wesen an, sondern auch die Vereinnahmung ihres biologischen Lebens. Die Folge ist eine latente, für ständig wachsende Teile der Weltbevölkerung auch offene, staatsrechtlich erzwungene Spaltung der Existenz in Mensch und Zugehörigkeit. Wie vor ihm Walter Benjamin, Jacob Taubes und Jacques Derrida erkennt Agamben ihre konsequenteste Ausformung in der Freund-Feind-Dichotomie im "Begriff des Politischen" von Carl Schmitt.


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Die Macht des Rechts, die Trennung zwischen "politischen Wesen" (Buergern) und "blossen Wesen" (Koerpern) vorzunehmen, hat es von der Antike bis zur Moderne gegeben, von - im Wortsinne - Aristoteles bis Auschwitz. Nach Aristoteles ist der Mensch ein Tier, das zunaechst einmal nur lebt (zen), aber das mit einem Potential zum guten Leben auf die Welt kommt (eu zen), das es mittels der Politik erlangen kann. Blosses Leben ist in dieser antiken Auffassung von Politik dasjenige Leben, das mittels der Politik in das "gute Leben" transformiert werden kann und soll. Blosses Leben ist dasjenige, das von den hoeheren Zielen der Gemeinschaft ausgeschlossen ist, aber es ist genau so eingeschlossen, dass es in diese gute Leben transformiert werden kann. Souveränität ist also von der Antike an als Ausnahmezustand konzipiert. Biomacht, die das nackte Leben der Buerger in ihre politischen Kalkulationen aufnimmt, kann heute markanter sein, hat aber von Anbeginn der westlichen souveränen Staaten in dieser Struktur der Aus-Nahme existiert.
Die Macht des Rechts, die Trennung zwischen "politischen Wesen" (Buergern) und "blossen Wesen" (Koerpern) vorzunehmen, hat es von der Antike bis zur Moderne gegeben, von - im Wortsinne - Aristoteles bis Auschwitz. Nach Aristoteles ist der Mensch ein Tier, das zunaechst einmal nur lebt (zen), aber das mit einem Potential zum guten Leben auf die Welt kommt (eu zen), das es mittels der Politik erlangen kann. Blosses Leben ist in dieser antiken Auffassung von Politik dasjenige Leben, das mittels der Politik in das "gute Leben" transformiert werden kann und soll. Blosses Leben ist dasjenige, das von den hoeheren Zielen der Gemeinschaft ausgeschlossen ist, aber es ist genau so eingeschlossen, dass es in diese gute Leben transformiert werden kann. Souveränität ist also von der Antike an als Ausnahmezustand konzipiert. Biomacht, die das nackte Leben der Buerger in ihre politischen Kalkulationen aufnimmt, kann heute markanter sein, hat aber von Anbeginn der westlichen souveränen Staaten in dieser Struktur der Aus-Nahme existiert.


== Ausnahmezustand==
=== Ausnahmezustand===


Das Buch kreist um Carl Schmitts Begriff des Ausnahmezustands und unterzieht ihn einer Kritik, die sich u.a. aus einer Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Konzepts im Roemischen justitium und in der auctoritas speist. Es geht um den Machtzuwachs der Regierung in Krisenzeiten zu Lasten der Buerger- und Menschenrechte und um die Auswirkungen solcher Prozesse auf das Individuum im Hinblick auf bios und zoe.
Das Buch kreist um Carl Schmitts Begriff des Ausnahmezustands und unterzieht ihn einer Kritik, die sich u.a. aus einer Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Konzepts im Roemischen justitium und in der auctoritas speist. Es geht um den Machtzuwachs der Regierung in Krisenzeiten zu Lasten der Buerger- und Menschenrechte und um die Auswirkungen solcher Prozesse auf das Individuum im Hinblick auf bios und zoe.
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Dierk Spreen (2008,a,b) stellt Agambens Thesen vom Ausnahmezustand seine Ansicht von den normalitätsbegleitenden und -garantierenden Sicherheitskriegen entgegen. Agambens Behauptung, dass es der Politik darum gehe, einen permanenten Ausnahmezustand herzustellen, "handelt es sich wohl eher um einen moralisierenden Nazi-Vergleich in Nadelstreifen." Eine bessere Situationsbeschreibung, so Spreen, sei diejenige eines globalen Sicherheitsdispositivs. Globale Sicherheit ist der neue politische Ordnungsrahmen, "der das 'Und-so-weiter' der alltäglichen Angelegenheiten in der Zivilgesellschaft ermöglicht und sich dabei auch kriegerischer Mittel und der Differenzierung zwischen Freunden und Feinden b edient. Der gesellschaftliche Wertehorizont dieses Formwandels ist allerdings ein ziviler und postheroischer."
Dierk Spreen (2008,a,b) stellt Agambens Thesen vom Ausnahmezustand seine Ansicht von den normalitätsbegleitenden und -garantierenden Sicherheitskriegen entgegen. Agambens Behauptung, dass es der Politik darum gehe, einen permanenten Ausnahmezustand herzustellen, "handelt es sich wohl eher um einen moralisierenden Nazi-Vergleich in Nadelstreifen." Eine bessere Situationsbeschreibung, so Spreen, sei diejenige eines globalen Sicherheitsdispositivs. Globale Sicherheit ist der neue politische Ordnungsrahmen, "der das 'Und-so-weiter' der alltäglichen Angelegenheiten in der Zivilgesellschaft ermöglicht und sich dabei auch kriegerischer Mittel und der Differenzierung zwischen Freunden und Feinden b edient. Der gesellschaftliche Wertehorizont dieses Formwandels ist allerdings ein ziviler und postheroischer."


== Jenseits der Menschenrechte ==
=== Jenseits der Menschenrechte ===
In der heutigen Zeit, gekennzeichnet durch den unweigerlichen Niedergang des Nationalstaats und die Zerrüttung der traditionellen rechtlich-politischen Kategorien, ist nicht mehr der Staatsbürger, sondern "der Flüchtling vielleicht die in unserer Zeit einzig denkbare Figur des Volkes" - und "die einzige Kategorie, die uns heute Einsicht in die Formen und Grenzen einer künftigen politischen Gemeinschaft gewährt" (2001: 23 f.). Die politische Philosophie muss deshalb möglicherweise alle bisherigen Grundbegriffe aufgeben und ihr Denken von dieser einzigen Figur aus, dem Flüchtling, neu aufbauen, wenn sie den bevorstehenden Aufgaben gewachsen sein will.
In der heutigen Zeit, gekennzeichnet durch den unweigerlichen Niedergang des Nationalstaats und die Zerrüttung der traditionellen rechtlich-politischen Kategorien, ist nicht mehr der Staatsbürger, sondern "der Flüchtling vielleicht die in unserer Zeit einzig denkbare Figur des Volkes" - und "die einzige Kategorie, die uns heute Einsicht in die Formen und Grenzen einer künftigen politischen Gemeinschaft gewährt" (2001: 23 f.). Die politische Philosophie muss deshalb möglicherweise alle bisherigen Grundbegriffe aufgeben und ihr Denken von dieser einzigen Figur aus, dem Flüchtling, neu aufbauen, wenn sie den bevorstehenden Aufgaben gewachsen sein will.


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