Geschlossene Unterbringung (Heimerziehung)

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Version vom 26. November 2005, 08:34 Uhr von Christian (Diskussion | Beiträge)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Verfasserin: Juleka Schulte Ostermann

Eine neue pdf-Version (81 Seiten) dieses Artikels steht zum Download bereit.

Definition

Im Zusammenhang mit der Diskussion um delinquente Kinder, v.a. der 12-13jährige sog. Mehrfach- und Intensivtätern, wird auch immer wieder die Forderung einer formellen Sozialkontrolle mittels geschlossener Unterbringung aufgeworfen. Die gesetzliche Grundlage stellen dafür § 1631 b BGB i.V.m. §§ 42, 43 KJHG dar. Der Begriff „geschlossene Unterbringung“ ist gesetzlich nicht eindeutig bestimmt, die jeweiligen Ziele der geschlossenen Unterbringung bestimmt jede Einrichtung für sich selber. Ein Konsens besteht lediglich darüber, dass ein Entweichen der Kinder und Jugendlichen durch bauliche Eingrenzungs- und Abschließvorrichtungen verhindert werden soll:

„Eine geschlossene Unterbringung ist dadurch gekennzeichnet, dass besondere Eingrenzungs- und Abschließungsvorrichtungen oder andere Sicherungsmaßnahmen vorhanden sind, um ein Entweichen, also ein unerlaubtes Verlassen des abgeschlossenen oder gesicherten Bereiches zu erschweren oder zu verhindern und die Anwesenheit des Jugendlichen für notwendige pädagogisch- therapeutische Arbeit mit ihm sicherzustellen“. (V. Wolffersdorff, Sprau- Kuhlen 1990, S. 22)

Begriffsgeschichte

Die Fürsorgeerziehung als älteste Variante öffentlicher Ersatzerziehung basiert auf der im StGB von 1871 vorgesehene Zwangserziehung, die 1922 in das RJWG Eingang fand (§ 64 ff.). Sie stellte, neben den Maßnahmen gemäß § 1666 BGB von 1896 den stärksten staatlichen Eingriff in die Erziehungsgewalt der Eltern und die Rechte des Kindes dar und wurde, sowohl von der Öffentlichkeit als auch von den Betroffenen, als stigmatisierend empfunden. Die Unterbringung von Kindern und Jugendliche in der Fürsorgeerziehung gemäß § 71 Abs. 1 JWG bedeutete erlaubte Eingriffe in die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), die Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) und in die Elternrechte (Art. 6 Abs. 3 GG). Gemäß Art. 104 Abs. 2 GG durfte und darf nur ein Richter (früher: ""VormundschaftsrichterIn"", heute: FamilienrichterIn gemäß §§ 70 ff. FGG) darüber entscheiden, ob und wie lange einem Kind/ Jugendlichen die Freiheit entzogen wird. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das im RJWG 1922 verankerte „persönliche Recht jedes Kindes auf Erziehung“ nach 1933 in das „Recht des Staates auf Erziehung der Jugend“ umgewandelt. Eine Gefährdung oder Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen wurde mit Hilfe der Fürsorgeerziehung gemäß der nationalsozialistischen Grundsätze der „erbbiologischen Auslese“ zu verhindern versucht. Es wurden die Kinder und Jugendlichen- sortiert nach den Kriterien „erbgesund, erziehbar und gemeinschaftsfähig“- in halb- oder geschlossenen Erziehungsheimen, geschlossene Erziehungsanstalten oder geschlossenen Bewahrungsanstalten untergebracht. Reformbestrebungen nach dem Ende des Nationalsozialismus erfolgten in der Jugendwohlfahrt und Führsorgeerziehung nur sehr langsam. In Deutschland wurde die traditionelle Heimerziehung der geschlossenen Unterbringung durch die so genannte „Heimreform“ von 1970 weitgehend abgeschafft. Die gesetzlich mögliche Fürsorgeerziehung wurde erst 1990 mit der Verabschiedung des SGB VIII (KJHG) endgültig abgeschafft. Der Staat hat jedoch auch heute noch ein staatliches Wächteramt zur Wahrung des Kindeswohls. Die Jugendämter verstehen sich aber nicht mehr als obrigkeitsstaatliche Eingriffsinstanz, sondern als Anbieter von Hilfen zu Wahrung des Kindeswohls (SGB VIII/ KJHG = Leistungs- und Hilferecht) Dennoch existiert nach wie vor die Möglichkeit einer freiheitsentziehenden Unterbringung von Kindern und Jugendlichen. Die gesetzliche Grundlage hierfür stellen § 1631 b BGB i.V.m. §§ 42, 43 KJHG dar: „Das Jugendamt ist verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert. Freiheitsentziehende Maßnahmen sind dabei nur zulässig, wenn und soweit sie erforderlich sind, um eine Gefahr für Leib oder Leben des Kindes oder des Jugendlichen oder eine Gefahr für Leib oder Leben Dritter abzuwenden. Die Freiheitsentziehung ist ohne gerichtliche Entscheidung spätestens mit Ablauf des Tages nach ihrem Beginn zu beenden.“ (§ 42 KJHG)

Es stellt sich die Frage, ob die geschlossene Heimunterbringung von Kindern dem generalpräventiven Zweck, d.h. dem Schutzes der Allgemeinheit vor den delinquenten Kindern, dienen darf. Denn der Wortlaut des §42 KJHG spricht nur von einer Verpflichtung gegenüber dem Kind, nicht gegenüber der Allgemeinheit und ob sich ein solcher Schutz überhaupt realisieren lässt. Zu Bedenken ist diesbezüglich, dass delinquente und schwererziehbare Kinder z.T. sogar häufiger aus geschlossenen Heimen entweichen, als aus nicht geschlossenen (was auch damit zusammenhängen kann, dass diese Kinder besonders problembelastet und heimerfahren sind). Festzustellen ist des weiteren, dass diese den geschlossenen Heimen entlaufenen Kinder innerhalb des Zeitraumes außerhalb der geschlossenen Anstalt i.d. Mehrheit keine weiteren delinquenten Handlungen begehen. Eine geschlossene Unterbringung von delinquenten Kindern zur Verwahrung und zum Schutz der Allgemeinheit erscheint zudem bezüglich der verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Verhältnismäßigkeit fragwürdig. Eine Antwort darauf, wann eine geschlossene Heimunterbringung eine geeignete, erforderliche und zweckmäßige Maßnahme darstellt, kann nicht gegeben werden- zum Zweck der Prävention von Kinderdelinquenz erscheint diese Maßnahme jedoch kaum verhältnismäßig. Insgesamt zeigt sich also, dass das generalpräventive Argument des Schutzes der Allgemeinheit vor den delinquenten Kindern nur schwer bzw. m. E. gar nicht zu rechtfertigen ist.
Weitere Gründe, die gegen die geschlossene Unterbringung sprechen, sind folgende: In Deutschland wurde die traditionelle Heimerziehung der geschlossenen Unterbringung durch die sog. „Heimreform“ 1970 weitgehend abgeschafft. Es erscheint fraglich, warum die negativen Erfahrungen bezogen auf die (pädagogisch- therapeutische) Wirksamkeit der geschlossenen Heimunterbringung, die zu der weitgehenden Abschaffung derselben in den 1970er Jahren geführt hat, sich bei einer erneuten Einführung der geschlossenen Unterbringung nicht wiederholen sollten.
Ein weiteres Argument gegen die geschlossene Unterbringung sind die damit verbundenen Kosten (ca. 250 Euro pro Kind und Tag), die unverhältnismäßig hoch erscheinen.
Ein anderes Problem ist, dass insbesondere eine Mehrfach- und Intensivdelinquenz durch die geschlossene Unterbringung der hiervon betroffener Kinder und Jugendliche behoben werden soll. Es erscheint jedoch sehr schwierig, Kriterien aufzustellen, mittels derer man erkennen kann, ob aufgrund bestehender Mehrfach- und Intensivdelinquenz eine spätere kriminelle Karriere wahrscheinlich erscheint. Insgesamt wird gemäß existierender wissenschaftlicher Untersuchungen davon ausgegangen, dass ein statistischer Zusammenhang zwischen Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität nicht belegt werden kann. Relativ sicher ist lediglich, dass eine gestörte Sozialisation auch die Störung des Sozialverhaltens bedingen kann und dass die Gefahr einer sich verfestigenden Kinderdelinquenz bis hin zu einer späteren kriminellen Karriere im Erwachsenenleben umso größer wird, je mehr Sozialbereiche durch Störungen betroffen sind. Solche gestörten Sozialisationsmerkmale sind jedoch nur bei wenigen Kindern eindeutig erkenn- und belegbar- bei den meisten Kindern ist eine Zukunftsprognose nicht möglich.

Insgesamt erscheint eine geschlossene Heimunterbringung nur unter sehr engen Grenzen zur Wahrung oder Wiederherstellung des Kindeswohles angebracht, wenn eine intensiv- therapeutische Betreuung bei extremen Problemlagen des Kindes erforderlich erscheint. Dabei muss die Jugendhilfe, im Gegensatz zur Justiz, den sozialpädagogischen Handlungsstandards entsprechen. Die geschlossene Unterbringung darf nicht dazu missbraucht werden, an Stelle fehlender und notwendig zu entwickelnder Alternativen im Umgang mit delinquenten Kindern eingesetzt zu werden, insbesondere da ein gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass freiheitentziehende Zwangsmittel i.d.R. mehr schaden als helfen. Insofern erscheint gerade eine geringe Anzahl an geschlossenen Heimplätzen effektiv, da dadurch eine sorgfältige Einzellfallprüfung erforderlich wird und verhindert wird, dass durch eine Vielzahl an Plätzen ein künstlicher Bedarf an denselben geschaffen wird, der den Erforderlichkeiten/ effektiven Fallzahlen für eine geschlossenen Unterbringung in der Realität gar nicht entspricht. Es gilt zu verhindern, dass mit der geschlossene Unterbringung, unter Umgehung der strafrechtlichen Voraussetzungen, der Jugendhilfe auferlegt wird, einen Strafersatz für schwererziehbare delinquente Kinder zu schaffen, durch die eine weitere Normübertretung derselben verhindert werden soll. Trotz dieser aufgeführten Warnungen und bestehenden Bedenken gegen eine geschlossene Heimunterbringung sind mittlerweile in einzelnen Bundesländer der BRD geschlossene Heimunterbringungen wieder eingeführt worden, so dass man sich nicht des Eindruckes verwehren kann, dass generalpräventive Forderungen bezüglich des Umgangs mit delinquenten Kindern über die „Hintertür“ der formellen Maßnahmen des Familien- sowie Kinder- und Jugendhilferecht durchgesetzt worden sind, nachdem die Forderung einer Herabsetzung der Strafmündigkeit nicht durchsetzbar waren.
Eine sich von der bisher geschilderten zu unterscheidende Variante der geschlossenen Unterbringung ist die gemäß §§ 71, 72 JGG: Das Jugendgericht darf, bis ein Urteil rechtskräftig wird, gem. § 71 JGG eine vorläufige Erziehung des vom Urteil betroffenen Jugendlichen anordnen. Oder aber das Jugendgericht kann anregen, dass Leistungen nach dem KJHG/ SGB VIII gewährt werden. Auch eine einstweilige Unterbringung des Jugendlichen in ein geeignetes Heim der Jugendhilfe kann angeordnet werden, damit der Betroffene keiner weiteren Entwicklungsgefährdung ausgesetzt wird, z.B. durch erneute Straffälligkeit. Es ist nicht möglich, mit dieser einstweiligen Unterbringung Bedingungen zu verbinden. Denn die Regelungen und Richtlinien, die für die Einrichtung der Jugendhilfe verbindlich sind, bleiben maßgebend. Eine einstweilige Unterbringung des Jugendlichen in ein geschlossenes Heim der Jugendhilfe kann vom Jugendgericht gem. § 72 JGG auch angeordnet werden, um U-Haft zu vermeiden. Diese Möglichkeit ergibt sich daraus, dass U-Haft bei Jugendlichen nur erlaubt ist, wenn deren Zweck nicht über andere Maßnahmen oder eine vorläufige Anordnungen zur Erziehung bewirkt werden kann.

Zusammenhänge mit anderen Begriffen

Kinderdelinquenz, Kinderkriminalität, Mehrfachtäter, Intensivtäter, Jugendkriminalität, abweichendes Verhalten, Prävention, Sanktionen

Zusammenhänge mit der Realität

In der nahen Vergangenheit (insbesondere Zeitraum des Regierungswechsel in Hamburg von der SPD zur CDU/ Schill- Partei sowie CDU/ Schill- Partei zur CDU) und der Gegenwart wurde die Problematik von Kinder- und Jugenddelinquenz speziell in Hamburg massiv als Wahlkampfthema benutzt. Die Medien und die CDU/ Schill- Partei thematisierte Kinder- und Jugenddelinquenz öffentlichkeitswirksam, ohne dabei sachliche Argumente aus der Wissenschaft (Fachrichtungen Kriminologie, Pädagogik, Rechtswissenschaften) einzubeziehen und zu berücksichtigen. Eine Folge der dramatisierenden Darstellung von Kinderdelinquenz in der Hamburger Medienlandschaft und Politik ist u.a. die Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung von delinquenten Kindern, die aus wissenschaftlicher und rechtlicher Perspektive umstritten ist (Vgl. auch: http://der-jugendrichter.de/html/geschlossene_heime.html)

Kriminologische Relevanz

Kriminologie setzt sich im weitesten Sinn auf wissenschaftlicher Ebene mit Kriminalität als Form abweichenden Verhaltens und der Bekämpfung/ Prävention derselben auseinander. Insofern besitzt gerade die Debatte um die geschlossene Unterbringung als eine Form der Kriminalprävention kriminologische Relevanz.

Literatur

  • Hubert, Harry „Geschlossene Unterbringung als pädagogisches Konzept?“ Internetadresse http://www.jugendhilfe-netz.de/download/thema/oktober02H5/geschl1.doc.
  • Reuter, Dirk Kinderdelinquenz und Sozialkontrolle Hamburg 2001
  • Wolffersdorf-Ehlert, Christian; Sprau-Kuhlen u.a. „Geschlossene Unterbringung im Heimen. Kapitulationen der Jugendhilfe?“ Weinheim, München 1990.