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Verfasser: Udo Hansen (Kriminologie MA, 1. Semester)
== Definition ==


Gliederung:


1. Definition
Überwiegend wird vertreten, daß geschlossene Unterbringung zunächst einmal ein geschlossenes Heim oder Anstalt oder eine geschlossene Abteilung eines Heimes voraussetzt. Die bei einer Unterbringung in diesen Einrichtungen resultierende Freiheitsentziehung ist zu definieren als Aufenthaltsbestimmung ohne oder gegen den Willen des Minderjährigen in einer Form, daß die Betroffenen auf einem bestimmten eingegrenzten Raum festgehalten werden, ihr Aufenthalt ständig überwacht und die Aufnahme von Kontakten mit Personen außerhalb des Raumes durch Sicherungsmaßnahmen verhindert wird. [[Freiheitsentzug]] beinhaltet somit - verkürzt gesagt - den angeordneten Ausschluß der Bewegungsfreiheit eines Kindes oder Jugendlichen entgegen oder ohne dessen Willen.
2. Geschichte
3. Recht
4. Kritik
5. Aktuelles
6. Literatur


1. Definition
Freiheitsbeschränkung und damit kein [[Freiheitsentzug]] liegt vor, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit zur Sicherung eines pädagogischen Prozesses altersgemäß für kürzere Zeit, d. h. maximal für wenige Stunden, ausgeschlossen wird. Daher beinhalten die stationäre Betreuung in einer Einrichtung der Erziehungshilfe mit den daraus resultierenden Grenzsetzungen ebenso wenig einen [[Freiheitsentzug]] wie Maßnahmen, die begrenzte Ausgangszeiten verordnen. Darüber hinaus liegt Freiheitsbeschränkung und kein [[Freiheitsentzug]] vor, wenn das Verlassen eines Gebäudes aus Gründen das allgemeinen Schutzes erschwert wird (z.B. nächtliches Verschließen der Haustür).


Überwiegend wird vertreten, daß geschlossene Unterbringung zunächst einmal ein geschlossenes Heim oder Anstalt oder eine geschlossene Abteilung eines Heimes voraussetzt. Die bei einer Unterbringung in diesen Einrichtungen resultierende Freiheitsentziehung ist zu definieren als Aufenthaltsbestimmung ohne oder gegen den Willen des Minderjährigen in einer Form, daß die Betroffenen auf einem bestimmten eingegrenzten Raum festgehalten werden, ihr Aufenthalt ständig überwacht und die Aufnahme von Kontakten mit Personen außerhalb des Raumes durch Sicherungsmaßnahmen verhindert wird. Freiheitsentzug beinhaltet somit - verkürzt gesagt - den angeordneten Ausschluß der Bewegungsfreiheit eines Kindes oder Jugendlichen entgegen oder ohne dessen Willen.
Als Alternativen zur "geschlossenen Heimunterbringung" sind primär präventiv zu verstehende Angebote nach dem KJHG (§§ 11 - 17) zu nennen. Danach handelt es sich um Angebote zur Förderung der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit, des erzieherischen Kinder - und Jugendschutzes und der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie. Das neue baden-württembergische Ausführungsgesetz zum KJHG von 1996 formuliert es in § 9a so: "Ziel der Jugendhilfe ist es, durch Stärkung des differenzierten außerstationären Hilfeangebots, wie Erziehungsberatung, Sozialpädagogische Familienhilfe, Tagesgruppen, Vollzeitpflege und Maßnahmen der Suchtprophylaxe, stationäre Unterbringungen auf das fachlich Erforderliche zu begrenzen."


Freiheitsbeschränkung und damit kein Freiheitsentzug liegt vor, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit zur Sicherung eines pädagogischen Prozesses altersgamäß für kürzere Zeit, d. h. maximal für wenige Stunden, ausgeschlossen wird. Daher beinhalten die stationäre Betreuung in einer Einrichtung der Erziehungshilfe mit den daraus resultierenden Grenzsetzungen ebenso wenig einen Freiheitsentzug wie Maßnahmen, die begrenzte Ausgangszeiten verordnen. Darüber hinaus liegt Freiheitsbeschränkung und kein Freiheitsentzug vor, wenn das Verlassen eines Gebäudes aus Gründen das allgemeinen Schutzes erschwert wird (z.B. nächtliches Verschließen der Haustür).
== Geschichte ==


Als Alternativen zur "geschlossenen Heimunterbringung" sind primär präventiv zu verstehende Angebote nach dem KJHG (§§ 11 - 17) zu nennen. Danach handelt es sich um Angebote zur Förderung der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit, des erzieherischen Kinder - und Jugendschutzes und der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie. Das neue baden - württembergische Ausführungsgesetz zum KJHG von 1996 formuliert es in § 9a so: "Ziel der Jugendhilfe ist es, durch Stärkung des differenzierten außerstationären Hilfeangebots, wie Erziehungsberatung, Sozialpädagogische Familienhilfe, Tagesgruppen, Vollzeitpflege und Maßnahmen der Suchtprophylaxe, stationäre Unterbringungen auf das fachlich Erforderliche zu begrenzen."
2. Geschichte


Während Kinder im deutschen Kaiserreich seit 1871 nicht vor Vollendung des 12. Lebensjahres strafrechtlich belangt werden konnten, gab es für sie dennoch das Risiko der Anstaltserziehung ohne Begrenzung. Ferner wurde als Erziehung in den Anstalten in der Regel auch die abschreckende körperliche Züchtigung praktiziert. Für manche kamen bis zu zehn, für andere sogar noch mehr Jahre Unterbringungszeiten in Frage; für viele war eine Entlassung erst mit dem 20. Lebensjahr möglich. Innerhalb von Reformbemühungen in Verbindung mit dem deutschen Jugendstrafrecht kam es zu einer Ausweitung der Straffreiheit für Kinder im Alter von 12 bis 13 Jahren.
Während Kinder im deutschen Kaiserreich seit 1871 nicht vor Vollendung des 12. Lebensjahres strafrechtlich belangt werden konnten, gab es für sie dennoch das Risiko der Anstaltserziehung ohne Begrenzung. Ferner wurde als Erziehung in den Anstalten in der Regel auch die abschreckende körperliche Züchtigung praktiziert. Für manche kamen bis zu zehn, für andere sogar noch mehr Jahre Unterbringungszeiten in Frage; für viele war eine Entlassung erst mit dem 20. Lebensjahr möglich. Innerhalb von Reformbemühungen in Verbindung mit dem deutschen Jugendstrafrecht kam es zu einer Ausweitung der Straffreiheit für Kinder im Alter von 12 bis 13 Jahren.
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Die sich daran anschließende Debatte, verbunden mit dem Ruf nach einer Umgestaltung der Jugendwohlfahrt, mündete in den 70er Jahren in eine breite Diskussion um ein neues Jugendhilferecht. Als die Bundesregierung 1978 in ihrem Entwurf eines Sozialgesetzbuches (SGB) die "geschlossene Unterbringung" doch wieder aufgenommen hatte, wurde erneut eine heftige, kontrovers geführte Auseinandersetzung über die Abschaffung der "geschlossenen Unterbringung" entfacht. Jedenfalls führte dies dazu, daß diese repressive Form der Heimunterbringung so nicht in das 1990 verabschiedete SGB VIII 8 (KJHG) eingearbeite wurde.
Die sich daran anschließende Debatte, verbunden mit dem Ruf nach einer Umgestaltung der Jugendwohlfahrt, mündete in den 70er Jahren in eine breite Diskussion um ein neues Jugendhilferecht. Als die Bundesregierung 1978 in ihrem Entwurf eines Sozialgesetzbuches (SGB) die "geschlossene Unterbringung" doch wieder aufgenommen hatte, wurde erneut eine heftige, kontrovers geführte Auseinandersetzung über die Abschaffung der "geschlossenen Unterbringung" entfacht. Jedenfalls führte dies dazu, daß diese repressive Form der Heimunterbringung so nicht in das 1990 verabschiedete SGB VIII 8 (KJHG) eingearbeite wurde.


10 Jahre später fand im Zuge konservativer Jugendpolitik eine "roll - back" - Bewegung statt, so daß die geschlossenen Heime nicht nur ein Thema in der öffentlichen und fachlichen Diskussion bildeten, sondern in einigen Bundesländern - wie z.B. Hamburg - längst wieder Realität geworden sind. War die "geschlossene Unterbringung" 1980 in Hamburg und 1995 in Schleswig - Holstein unter dem Schlagwort "Menschen statt Mauern" abgeschafft worden, so prägte der Lübecker leitende Oberstaatsanwalt Heinrich Wille im November 2001 den neuen Ansatz: "Mauern und Menschen".
10 Jahre später fand im Zuge konservativer Jugendpolitik eine "roll - back" - Bewegung statt, so daß die geschlossenen Heime nicht nur ein Thema in der öffentlichen und fachlichen Diskussion bildeten, sondern in einigen Bundesländern - wie z.B. Hamburg - längst wieder Realität geworden sind. War die "geschlossene Unterbringung" 1980 in Hamburg und 1995 in Schleswig-Holstein unter dem Schlagwort "Menschen statt Mauern" abgeschafft worden, so prägte der Lübecker leitende Oberstaatsanwalt Heinrich Wille im November 2001 den neuen Ansatz: "Mauern und Menschen".


3. Recht
== Recht ==


In allen drei Kerngebieten unseres Rechtssystems gibt es Vorschriften, die eine Freiheitsentziehung bei Minderjährigen regeln. Sie stammen folglich aus dem Zivilrecht, dem Öffentlichen Recht und dem Strafrecht. Kurz behandelt wird auch Internationales Recht.
In allen drei Kerngebieten unseres Rechtssystems gibt es Vorschriften, die eine [[Freiheitsentziehung]] bei Minderjährigen regeln. Sie stammen folglich aus dem Zivilrecht, dem Öffentlichen Recht und dem Strafrecht. Kurz behandelt wird auch Internationales Recht.


Da es sich bei der geschlossenen Unterbringung von Kindern und Jugendlichen um eine Freiheitsentziehung handelt, muß das Familiengericht nach § 1631b BGB dies auf Antrag der Personensorgeberechtigten genehmigen. Die Orientierung am Kindeswohl und der Genehmigungsvorbehalt durch das Familiengericht machen deutlich, daß die geschlossene Unterbringung als letzte Möglichkeit gewertet muß. Nur die akute Gefährdung des Kindeswohls kompensiert diesen Genehmigungsvorbehalt. Die familiengerichtliche Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.
Da es sich bei der geschlossenen Unterbringung von Kindern und Jugendlichen um eine Freiheitsentziehung handelt, muß das Familiengericht nach § 1631b BGB dies auf Antrag der Personensorgeberechtigten genehmigen. Die Orientierung am Kindeswohl und der Genehmigungsvorbehalt durch das Familiengericht machen deutlich, daß die geschlossene Unterbringung als letzte Möglichkeit gewertet muß. Nur die akute Gefährdung des Kindeswohls kompensiert diesen Genehmigungsvorbehalt. Die familiengerichtliche Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.
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Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verbietet zwar freiheitsentziehende Maßnahmen nicht ausdrücklich, stellt aber in Artikel 37 für die geschlossene Unterbringung entscheidende Regeln auf. Artikel 37 betont, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strikt zu beachten ist. Demzufolge ist jede Form des Freiheitsentzuges bei einem Kind bis 18 Jahren nur als ultima ratio zu verhängen. Das Kind ist seinem Entwicklungsstand entsprechend zu behandeln, seine Würde ist zu achten und darf unter keinen Umständen verletzt werden. Das Recht auf Anfechtung der stationären Maßnahme ist zu gewährleisten und ein Rechtsbeistand zu stellen.
Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verbietet zwar freiheitsentziehende Maßnahmen nicht ausdrücklich, stellt aber in Artikel 37 für die geschlossene Unterbringung entscheidende Regeln auf. Artikel 37 betont, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz strikt zu beachten ist. Demzufolge ist jede Form des Freiheitsentzuges bei einem Kind bis 18 Jahren nur als ultima ratio zu verhängen. Das Kind ist seinem Entwicklungsstand entsprechend zu behandeln, seine Würde ist zu achten und darf unter keinen Umständen verletzt werden. Das Recht auf Anfechtung der stationären Maßnahme ist zu gewährleisten und ein Rechtsbeistand zu stellen.


4. Kritik
 
== Kritik ==
 


Im folgenden skizziere ich wesentliche Argumente, die gegen oder für eine geschlossene Heimunterbringung regelmäßig vorgetragen werden. Diese sind in erster Linie aus erziehungswissenschaftlicher, psychologischer und soziologischer Perspektive entwickelt.
Im folgenden skizziere ich wesentliche Argumente, die gegen oder für eine geschlossene Heimunterbringung regelmäßig vorgetragen werden. Diese sind in erster Linie aus erziehungswissenschaftlicher, psychologischer und soziologischer Perspektive entwickelt.
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(§1 SGB VIII). Folglich gehe es dabei weder um den Zweck der Strafe noch um Sühne oder Abschreckung.
(§1 SGB VIII). Folglich gehe es dabei weder um den Zweck der Strafe noch um Sühne oder Abschreckung.


Einrichtungen der geschlossenen Unterbringung wiesen alle Merkmale einer totalen Institution auf. Dazu gehören die Häufung schwieriger Problemlagen, die Herausbildung eines subkulturellen Normen - und Wertesystems, häufig wechselnde Bezugspersonen, reduzierte soziale Betätigungs - und Lernmöglichkeiten, hoher Anpassungsdruck und die Verursachung individueller Krisen durch die gegenüber der Institution empfundene Ohnmacht.  
Einrichtungen der geschlossenen Unterbringung wiesen alle Merkmale einer totalen Institution auf. Dazu gehören die Häufung schwieriger Problemlagen, die Herausbildung eines subkulturellen Normen - und Wertesystems, häufig wechselnde Bezugspersonen, reduzierte soziale Betätigungs- und Lernmöglichkeiten, hoher Anpassungsdruck und die Verursachung individueller Krisen durch die gegenüber der Institution empfundene Ohnmacht.  


Darüber hinaus beklagen Ausbilder wie Auszubildende, Lehrende und Lernende sowie Praktiker die unzureichende Ausbildung und Qualifizierung von Erziehern und Pädagogen für den Bereich der geschlossenen Heimunterbringung. Inhalte der Heimerziehung und Erziehungshilfen scheinen weitgehend eher randständig behandelt zu werden, so daß Erzieher und Pädagogen häufig auf die Aufgabe der Erziehung verhaltensauffälliger oder massiv gestörter Kinder und Jugendlicher in Einrichtungen der Erziehungshilfe ungenügend vorbereitet sind. Vereinzelt berücksichtigen zwar einige Bildungseinrichtungen dieses Ausbildungsdefizit und modifizieren die Inhalte ihres Curriculums entsprechend; doch ist der Mangel an qualifizierten Fachkräften der (geschlossenen) Heimerziehung unübersehbar.
Darüber hinaus beklagen Ausbilder wie Auszubildende, Lehrende und Lernende sowie Praktiker die unzureichende Ausbildung und Qualifizierung von Erziehern und Pädagogen für den Bereich der geschlossenen Heimunterbringung. Inhalte der Heimerziehung und Erziehungshilfen scheinen weitgehend eher randständig behandelt zu werden, so daß Erzieher und Pädagogen häufig auf die Aufgabe der Erziehung verhaltensauffälliger oder massiv gestörter Kinder und Jugendlicher in Einrichtungen der Erziehungshilfe ungenügend vorbereitet sind. Vereinzelt berücksichtigen zwar einige Bildungseinrichtungen dieses Ausbildungsdefizit und modifizieren die Inhalte ihres Curriculums entsprechend; doch ist der Mangel an qualifizierten Fachkräften der (geschlossenen) Heimerziehung unübersehbar.


Schließlich behindere der Einschluß soziale Intergration und effektive, die Komplexität des Lebens berücksichtigende, Problemlösungen. Sozialisation sei nämlich zunächst ein aus dem jeweiligen Sozialraum gebundener Prozeß. Ferner fehle dem Konzept der "geschlossenen Unterbringung" eine gesicherte empirische Basis. Alltagstheorien sind schließlich kein Ersatz für Evaluation. Darüber hinaus sei ein mechanistisches Verständnis von Erziehung, das den Zögling zu einem Objekt degradiert, als überholt anzusehen. Erziehungsziele zu erreichen erfordere Zeit und wirklichkeitsgetreue Bedingungen. Tatsächlich gehe es den Befürwortern geschlossener Unterbringung, sei es bewußt oder unbewußt, um Strafe, sie etikettierten es bloß als Erziehung oder Hilfe.
Schließlich behindere der Einschluß soziale Integration und effektive, die Komplexität des Lebens berücksichtigende, Problemlösungen. Sozialisation sei nämlich zunächst ein aus dem jeweiligen Sozialraum gebundener Prozeß. Ferner fehle dem Konzept der "geschlossenen Unterbringung" eine gesicherte empirische Basis. Alltagstheorien sind schließlich kein Ersatz für Evaluation. Darüber hinaus sei ein mechanistisches Verständnis von Erziehung, das den Zögling zu einem Objekt degradiert, als überholt anzusehen. Erziehungsziele zu erreichen erfordere Zeit und wirklichkeitsgetreue Bedingungen. Tatsächlich gehe es den Befürwortern geschlossener Unterbringung, sei es bewußt oder unbewußt, um Strafe, sie etikettierten es bloß als Erziehung oder Hilfe.


Außerdem sollte sich die Jugendhilfe zu der Erkenntnis durchringen, daß die Ursachen für viele Schwierigkeiten außerhalb des unmittelbaren Einflußbereiches der Sozialpädagogik liegen. In der heutigen komplexen Welt gebe es nämlich keine Patentrezepte zur Lebensbewältigung, die hinter verschlossenen Mauern lediglich angewendet werden wollen. Die zunehmend zu beobachtenden Schwierigkeiten, das Leben in Zeiten der Globalisierung zu meistern, seien zwangsläufig mit der Entwicklung dieser Gesellschaft verknüpft und zeigten immer wieder die Grenzen der Integration und die Gefahren der Ausgrenzung auf.  
Außerdem sollte sich die Jugendhilfe zu der Erkenntnis durchringen, daß die Ursachen für viele Schwierigkeiten außerhalb des unmittelbaren Einflußbereiches der Sozialpädagogik liegen. In der heutigen komplexen Welt gebe es nämlich keine Patentrezepte zur Lebensbewältigung, die hinter verschlossenen Mauern lediglich angewendet werden wollen. Die zunehmend zu beobachtenden Schwierigkeiten, das Leben in Zeiten der Globalisierung zu meistern, seien zwangsläufig mit der Entwicklung dieser Gesellschaft verknüpft und zeigten immer wieder die Grenzen der Integration und die Gefahren der Ausgrenzung auf.  
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Das vielleicht aussagekräftigste Argument gegen die geschlossene Heimunterbringung ist sowohl pädagogischer als auch ethischer Natur und geht von der unumstößlichen Prämisse aus, daß Erziehung nur in Freiheit möglich sei. Erziehung müsse nämlich Freiwilligkeit und Vertrauen voraussetzen; denn nur so könne ein auf einer positiven menschlichen Beziehung basierender Interaktionsprozeß gelingen. Dieses Verständnis von Erziehung gründet auf dem Humanismus, der Aufklärung und der Reformpädagogik und wendet sich naturgemäß strikt gegen einen reduktionistischen Erziehungsbegriff, der sich im wesentlichen an Bestrafung, Zwang und Unterordnung orientiert.
Das vielleicht aussagekräftigste Argument gegen die geschlossene Heimunterbringung ist sowohl pädagogischer als auch ethischer Natur und geht von der unumstößlichen Prämisse aus, daß Erziehung nur in Freiheit möglich sei. Erziehung müsse nämlich Freiwilligkeit und Vertrauen voraussetzen; denn nur so könne ein auf einer positiven menschlichen Beziehung basierender Interaktionsprozeß gelingen. Dieses Verständnis von Erziehung gründet auf dem Humanismus, der Aufklärung und der Reformpädagogik und wendet sich naturgemäß strikt gegen einen reduktionistischen Erziehungsbegriff, der sich im wesentlichen an Bestrafung, Zwang und Unterordnung orientiert.


5. Aktuelles
== Aktuelles ==
 


Exemplarisch mögen die beiden folgenden Beispiele aus der Praxis die Herausforderungen veranschaulichen, mit denen die "geschlossene Heimunterbringung" immer wieder zu tun hat. Bei dem sog. "Rodalben - Fall" geht es um den gewaltsamen Tod der Erzieherin Christina K. im Jugendheim "Mühlkopf" im rheinland - pfälzischen Rodalben. In der Nacht zum 21. November 2003 war die 26jährige von drei jugendlichen Heiminsassen überwältigt und erstochen worden. Die Urteile des Landgerichtes Zweibrücken, wonach zwei der Angeklagten zu jeweils acht Jahren und einer zu fünf Jahren Jugendstrafe verurteilt wurden, bestätigte der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofes im Revisionsverfahren. Folglich sind die Urteile seit dem 10. März und dem 26. April 2005 rechtskräftig.
Exemplarisch mögen die beiden folgenden Beispiele aus der Praxis die Herausforderungen veranschaulichen, mit denen die "geschlossene Heimunterbringung" immer wieder zu tun hat. Bei dem sog. "Rodalben - Fall" geht es um den gewaltsamen Tod der Erzieherin Christina K. im Jugendheim "Mühlkopf" im rheinland - pfälzischen Rodalben. In der Nacht zum 21. November 2003 war die 26jährige von drei jugendlichen Heiminsassen überwältigt und erstochen worden. Die Urteile des Landgerichtes Zweibrücken, wonach zwei der Angeklagten zu jeweils acht Jahren und einer zu fünf Jahren Jugendstrafe verurteilt wurden, bestätigte der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofes im Revisionsverfahren. Folglich sind die Urteile seit dem 10. März und dem 26. April 2005 rechtskräftig.
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An dieser Stelle soll zwar keineswegs versucht werden, das Phänomen der Gewalt zu erlären oder zu rechtfertigen, weil es dafür zu vielschichtig ist; doch ist darauf hinzuweisen, daß die Auseinandersetzung und Problematisierung derartiger gewalttätiger Exzesse wie im Jugendheim "Mühlkopf" in Rodalben und auch der Entweichungen und Fluchtversuche in der Feuerbergstraße zunehmend einseitig unter dem Aspekt von Sicherheitsvorkehrungen geschieht. Demzufolge reduziert sich die Frage nach geeigneten Präventionsmaßnahmen darauf, ob die Mauern hoch genug und die Fenster und Türen fest verschlossen seien. Nach psychischen Ursachen, die in der Tiefe der Seele eines Kindes oder Jugendlichen verborgen sind, zu fragen, ist wohl nicht mehr zeitgemäß. Viele Heiminsassen sind seit Beginn ihres Lebens mindestens vernachlässigt, mit Liebesentzug bedacht oder gar mißhandelt worden. Führt eine geschlosene Unterbringung zu weiteren Erfahrungen von Ausgrenzung, Schuld, Mißachtung und Gewalt, so kann auch nicht erwartet werden, daß die Zöglinge ihren Bezugspersonen mit Achtung, Verständnis, Vertrauen und Respekt gegenübertreten.
An dieser Stelle soll zwar keineswegs versucht werden, das Phänomen der Gewalt zu erlären oder zu rechtfertigen, weil es dafür zu vielschichtig ist; doch ist darauf hinzuweisen, daß die Auseinandersetzung und Problematisierung derartiger gewalttätiger Exzesse wie im Jugendheim "Mühlkopf" in Rodalben und auch der Entweichungen und Fluchtversuche in der Feuerbergstraße zunehmend einseitig unter dem Aspekt von Sicherheitsvorkehrungen geschieht. Demzufolge reduziert sich die Frage nach geeigneten Präventionsmaßnahmen darauf, ob die Mauern hoch genug und die Fenster und Türen fest verschlossen seien. Nach psychischen Ursachen, die in der Tiefe der Seele eines Kindes oder Jugendlichen verborgen sind, zu fragen, ist wohl nicht mehr zeitgemäß. Viele Heiminsassen sind seit Beginn ihres Lebens mindestens vernachlässigt, mit Liebesentzug bedacht oder gar mißhandelt worden. Führt eine geschlosene Unterbringung zu weiteren Erfahrungen von Ausgrenzung, Schuld, Mißachtung und Gewalt, so kann auch nicht erwartet werden, daß die Zöglinge ihren Bezugspersonen mit Achtung, Verständnis, Vertrauen und Respekt gegenübertreten.


Kurz vor Fertigstellung dieses Artikels erfuhr ich zufällig am 20.03.2006 in der Sendung Kulturjournal auf NIII von der Gründung eines Vereins ehemaliger Heimkinder und dem Erscheinen eines neuen Buches mit dem Titel "Schläge im Namen des Herrn" von Peter Wensierski, welches das Thema der "geschlossenen Heimunterbringung" aus der Perspektive der Heimzöglinge, insbesondere der 50er und 60er Jahre, beleuchtet, dokumentiert und analysiert.  
Kurz vor Fertigstellung dieses Artikels erfuhr ich zufällig am 20.03.2006 in der Sendung Kulturjournal auf N3 von der Gründung eines Vereins ehemaliger Heimkinder und dem Erscheinen eines neuen Buches mit dem Titel "Schläge im Namen des Herrn" von Peter Wensierski, welches das Thema der "geschlossenen Heimunterbringung" aus der Perspektive der Heimzöglinge, insbesondere der 50er und 60er Jahre, beleuchtet, dokumentiert und analysiert.  


6. Literatur
== Literatur ==


Arbeitsgruppe "Geschlossene Unterbringung": Argumente gegen geschlossene Unterbringung in Heimen der Jugendhilfe. 2. Aufl. Frankfurt a. M. (IGFH) 1997.
*Arbeitsgruppe "Geschlossene Unterbringung": Argumente gegen geschlossene Unterbringung in Heimen der Jugendhilfe. 2. Aufl. Frankfurt a. M. (IGFH) 1997.


Günder, Richard: Praxis und Methoden der Heimerziehung. Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe. 2., erw. und akt. Aufl. Freiburg i. Br. 2003.
*Günder, Richard: Praxis und Methoden der Heimerziehung. Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe. 2., erw. und akt. Aufl. Freiburg i. Br. 2003.


Kupffer, H. (Hrsg.); Martin, K.-R. (Hrsg.): Einführung in Theorie und Praxis der Heimerziehung. 6., erw. Aufl. Wiebelsheim 2000.
*Kupffer, H. (Hrsg.); Martin, K.-R. (Hrsg.): Einführung in Theorie und Praxis der Heimerziehung. 6., erw. Aufl. Wiebelsheim 2000.


Münder, J. u.a.: Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder und Jugendhilfe. 4., vollst. überarb. Aufl. Weinheim, Berlin, Basel 2003.
*Münder, J. u.a.: Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder und Jugendhilfe. 4., vollst. überarb. Aufl. Weinheim, Berlin, Basel 2003.


Planungsgruppe Petra: Was leistet Heimerziehung? Ergebnisse einer empirischen Studie. Frankfurt a. M. (IGFH) 1988.
*Planungsgruppe Petra: Was leistet Heimerziehung? Ergebnisse einer empirischen Studie. Frankfurt a. M. (IGFH) 1988.


Post, Wolfgang: Erziehung im Heim. Perspektiven der Heimerziehung im System der Jugendhilfe. 2., überarb. Aufl. Weinheim und München 2002.
*Post, Wolfgang: Erziehung im Heim. Perspektiven der Heimerziehung im System der Jugendhilfe. 2., überarb. Aufl. Weinheim und München 2002.


Wolf, Klaus (Hrsg.): Entwicklungen in der Heimerziehung. Münster 1995.
*Wolf, Klaus (Hrsg.): Entwicklungen in der Heimerziehung. Münster 1995.


v. Wolffersdorff, C.: Geschlossene Unterbringung in Heimen. Kapitulation der Jugendhilfe? 2., akt. und erw. Aufl. Weinheim und München 1996.
*v. Wolffersdorff, C.: Geschlossene Unterbringung in Heimen. Kapitulation der Jugendhilfe? 2., akt. und erw. Aufl. Weinheim und München 1996.
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