Genozid

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Die Entstehung des Begriffs

Die systematische Vernichtung der Armenier durch die Türken zwischen 1915 und 1917 wird häufig als der erste Genozid des 20. Jahrhunderts bezeichnet [1], wenngleich zu diesem Zeitpunkt der Begriff des Genozids noch nicht entwickelt war. Selbst während der juristischen Aufarbeitung des Holocausts [2] in dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess von November 1945 bis April 1949 [3]war der Begriff des Genozids noch kein eigenständiger Anklagepunkt und kein von den Prozeßbeteiligten einvernehmlich verwendeter Tatbestand. Allerdings war der Begriff bereits im Jahre 1944 von Raphael Lemkin in einer Monographie zu Naziverbrechen im besetzten Europa geprägt worden. Dieser hatte schon zu Beginn der 30er Jahre für eine internationale strafrechtliche Regelung für die Ausrottung von Völkern und ethnischen Gruppen plädiert, und zwar sowohl für Täter als auch Gehilfen, welche er dann im Jahre 1944 erstmals als „Genozid„ bezeichnete. Lemkin lieferte damit eine wichtige Vorarbeit für die Arbeit der Generalversammlung der Vereinten Nationen [4], die den Genozid im Jahre 1946 zum internationalen Verbrechen erklärte und mit den Arbeiten für den Entwurf eines Abkommens zum Genozid begann.

Definition(en) des Genozids

Die am 9.12.1948 angenommene und 1950 in Kraft getretetene UN-Völkermord-Konvention [5] definierte schließlich in Artikel II Genozid als “... eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe b)Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;....... e) Gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“

Die Arbeiten an der Völkermordkonvention fanden vor dem Hintergrund der Überzeugung statt, daß es sich bei dem Genozid um ein eigenständiges Verbrechen handelt, das von dem Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit [6]unterschieden werden sollte, da die Auffassung vorherrschte, Verbrechen gegen die Menschlichkeit könnten nur im Zusammenhang mit einem internationalen bewaffnenten Konflikt begangen werden. Bei der juristischen Definition ist neben dem objektiven Tatbestand (actus reus), d.h. der Vernichtung einer der in der Konvention genannten Gruppen, von besonderer Bedeutung das Merkmal der Absicht der ganzen oder teilweisen Zerstörung der Gruppe (mens rea), ohne dessen Erfüllung eine Strafbarkeit wegen Völkermordes ausgeschlossen ist.

Etymologisch verbindet der Begriff das Griechische „Genos“ (Gruppe, (Volks-)stamm) und das Lateinische „concidere“ (töten). Die deutsche Bezeichnung "Völkermord" ist (zumindest juristisch) ungenau und irreführend, da der Tatbestand nicht die Ermordung eines (ganzen) Volkes verlangt.

Neben dieser juristischen Definition sind zahlreiche andere, vornehmlich sozialwissenschaftliche Definitionen des Genozids entwickelt worden, die zum Teil sowohl stark von der juristischen Definition als auch voneinander abweichen. So heben einzelne Definitionen z.B. auf den Aspekt der Hilflosigkeit der Opfer bzw. auf die Begehung des Genozids trotz Ergebens der Opfer ab. So z.B. Charny „Genocide ...ist the mass killing of substantial numbers of human beings, ..., under conditions of the essential defenselessness and helplessness of the victims“. Weitere Definitionen wurden z.B. von Frank Chalk und Kurt Jonassohn, von Helen Fein, Barbara Harff und Ted. R. Gurr sowie von Steven T. Katz entwickelt. Eine übersichtliche Untersuchung und Gegenüberstellung dieser verschiedenen Definitionen findet sich bei David Salach („Modelling Genocide“, s. [7]. Unter Zugrundelegung der oben angeführten (juristischen) Definition werden später auch andere Massenmorde, so u.a. das Massaker an Kurden in Dersim zwischen 1937 und 1938, die Massenmorde des Khmer Rouge Regimes [8] zwischen 1975 und 1979 sowie die Anfal Kampagne gegen irakische Kurden im Jahre 1988 als Genozid eingeordnet (s. Orentlicher, S. 156-157)).

Genozid nach 1945 und dessen Aufarbeitung

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Ruanda

Von April bis Juni 1994 wurden von Angehörigen der Ethnie der Hutu in Ruanda an der Ethnie der Tutsi sowie an nicht kooperierenden Hutu umfangreiche Masssaker verübt, die den Tod von rund 800 000 Menschen (meist mit der Machete oder Schlagwerkzeugen getötet) verursachten. Diese Massaker wurden von internationalen Organisationen (nachträglich) als Genozid bezeichnet und mit der Errichtung eines Tribunals beantwortet.

Nach Ansicht von Juan Carrero (Präsident des Fórum Internacional por la Verdad y la Justicia en el África de los Grandes Lagos) und Jordi Palou-Loverdos (Anwalt der spanischen und ruandischen Opfer sowie des Fórum vor der Audiencia Nacional in Madrid) wurden von 1990 bis 2008 von Angehörigen der Ethnie der Tutsi in Ruanda und in der Republik Kongo einzelne politische Delikte und massenhafte Tötungen begangen, die zum Teil auch die Bezeichnung eines Genozids verdienen und zum Teil als solche aufgrund des Weltrechtsprinzips in Spanien zur Anklage kamen. Gegen 40 Personen mit hohen Ämtern in der ruandischen Regierung erließ Fernando Andreu, Richter an der Audiencia Nacional in Madrid, im Februar 2008 internationale Haftbefehle wegen des Verdachts auf Genozid. Unter den Opfern befanden sich neun Spanier (sechs Missionare und drei Angehörige der Médicos del Mundo). Eines der Opfer, Joaquim Vallmajó, hatte in Briefen an seine Freunde die FPR (Frente Patriótico Ruandés) beschuldigt, eine Kampagne der Desinformation in Gang zu setzen, "para hacer creer que las víctimas son los verdugos y los verdugos son las víctimas". Wenige Tage vor seinem Verschwinden im April 1994 hatte er die Maschinengewehrsalven, Schreie und Explosionen gehört, die das mitternächtliche Massaker an 2.500 Hutu-Bauern im Stadion von Byumba begleiteten. Auch die anderen spanischen Opfer waren unwillkommene Zeugen der Massaker seitens der (heute in Ruanda regierenden) Tutsi-Führungsebene an Hutu-Zivilisten gewesen. Von der spanischen Justiz mit internationalem Haftbefehl gesucht ist auch Paul Kagame, der heutige Präsident von Ruanda: "Los múltiples testimonios son concordantes: sus repetidas órdenes son siempre de screening, código interno que significa eliminación sin distinctión miles de civiles desarmados. Aunque en el dcaso de los tres obispos y diversos sacerdotes y rerligiosas asesinados en Kabgayi junto a una multitud de civiles, usó una variante: "Limpiad esa basura"" (Carrereo 2008). Die FPR strebte die alleinige politische Führungsrolle in Ruanda an und bootete u.a. auch ihre Koalitionspartner MDR, PL und PSD aus. Angesichts ihrer zahlenmäßig minoritären Situation hätte die FPR diese Alleinherrschaft an den Urnen nie erlangen können. Deshalb schritt sie laut Anklageschrift zu den erwähnten Maßnahmen, die mit der faktischen Aufkündigung des Abkommens von Arusha begannen und mittles einer Dynamik von Chaos und Krieg zur Erreichung des Zieles führten - wenn auch auf dem Umweg über den Hutu-Genozid an den Tutsi. Das erste Ziel war die Eliminierung der damaligen Hutu- und der als verräterisch angesehenen Tutsi-Elite im Staat, einschließlich derjenigen der verbündeten Parteien; die Ermordung des Präsidenten Habyarimana als der einzigen Integrationsfigur. Während Hutu im Landesinnern die (von Kagame als Verräter angesehenen) Tutsi ermordeten, schickte man die Truppen fort, um die Hutu gewähren zu lassen und sich der Verräter auf diese Art zu entledigen. Die FPR erreichte ihr Ziel: die Wiederherstellung ihrer (in ihrer eigenen Mythologie) seit alters her bestehenden Herrschaft über Ruanda. Und die Herrschaft über die erheblichen Bodenschätze in benachbarten Zaire, heute (wieder) Kongo, wo man systematisch Coltan, Diamanten und Gold ausbeutet. Die UNO-Reaktion folgt dem Einfluss der USA und Dutzender von multinationalen Mineralienunternehmen und manifestiert ihre Grenzen auch in bezug auf ACNUR, den Organismus, der zum Schutze vor weiteren Gewalttaten eingerichtet worden war. ACNUR wurde gegen sein eigenes Mandat und gegen den Gersony-Bericht genötigt, die Hutu-Flüchtlinge nach Ruanda zurückzuschicken, wo sie häufig verschwanden oder ermordet wurden. Die Chefanklägerin des Ruanda-Tribunals, Carla del Ponte, wurde unmittelbar abgelöst, nachdem sie erklärt hatte, sie wolle zumindest einen der vermutlich 40 mutmaßlichen aktiven Tutsi-Staatsterroristen anklagen. Fernando Andreu hat nun erstmals in der Geschichte nicht die Verbrechen der Verlierer, sondern der Sieger angeklagt - wenn auch nur vor einem staatlichen Gericht in Spanien.


Die Definition der Völkermordkonvention wurde auch die Grundlage der jeweiligen Tatbestände der Statute der internationalen UN-Kriegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien [9] sowie für Ruanda [10] (Artikel 4 Absatz 2 bzw. Artikel 2 Absatz 2), des Internationalen Strafgerichtshofes [11], des (nationalen) Gesetzes zur Errichtung der (hybriden, d.h. gemischten, mit internationalen und nationalen Richtern besetzten) Sonderkammern der Kambodschanischen Gerichte (Extraordinary Chambers of the Cambodian Courts) [12], (Artikel 4) sowie verschiedener weiterer nationaler Vorschriften, die den Tatbestand des Genozids in das jeweils nationale Strafgesetzbuch inkorporierten.

Auch finden einige strafrechtliche Verfahren wegen Genozids z.B. vor dem zwar nationalen, aber mit internationalen Richtern besetzten Staatsgerichtshof von Bosnien-Herzegovina statt [13].


Im Gegensatz zu den o.g. Einrichtungen hat das Sondergericht für Sierra Leone [14] keine Kompetenz zur Verurteilung wegen Genozids, da das Statut aufgrund des fehlenden Nachweises von mit der erforderlichen Vernichtungsabsicht durchgeführten Massentötungen einer indentifizierbaren Gruppe diesen Tatbestand nicht enthält.

Die beiden UN-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien sowie für Ruanda wurden als sogenannte Ad-hoc-Tribunale durch Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta [15] eingerichtet mit der Aufgabe, “die Personen zu verfolgen, die für … im Hoheitsgebiet des ehemaligen Jugoslawien begangenen schweren Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht verantwortlich sind” (Resolution des Sicherheitsrates der VN 827 (1993)[16],bzw. „die Personen zu verfolgen, die für den ... auf dem Territorium von Ruanda begangenen Genozid und andere schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht verantwortlich sind“ (Resolution 955 of 8 November 1994) [17]

Beide Tribunale haben bereits in verschiedenen Verfahren rechtskräftig Verurteilungen wegen Genozids ausgesprochen. Allerdings gibt es eine Problematik der rechtlichen Ahndung des Genozids auf der individuellen Ebene. Das zeigt sich auch an der relativ hohen Zahl von Freisprüchen durch die Kammern, was die Anklage wegen Genozids angeht (so z.B. im Fall Prosecutor vs. Krajsnik, Prosecutor vs. Blagojevic, Prosecutor vs. Jelisic) [18]. Die grundsätzliche Anerkennung eines Sachverhalts als eines Genozids bedeutet also noch nicht unbedingt, dass individuelle Anklagen in dieser Hinsicht zum Erfolg führen. Für Bosnien-Herzegowina hat das Tribunal bezogen auf Srebrenica im Juli 1995 (bestätigt auch vom Internationalen Gerichthof [19] im Urteil im Fall Bosnien-Herzegowina gegen Serbien) das Vorliegen eines Genozids bejaht. Dabei verzichtete das Tribunal allerdings auf eine „Verurteilung“ der serbischen Regierung [20]. Festgestellt wurde das Vorliegen eines Genozids auch im Falle Ruandas [21]. Verurteilungen durch den Internationalen Strafgerichtshof sowie durch die Sonderkammern der Kambodschanischen Gerichte wegen Genozids stehen noch aus. Wahrheits- und Versöhungskommissionen, die verschiedentlich alternativ oder ergänzend zur Strafjustiz als Modell für die Aufarbeitung von in der Vergangenheit begangenen Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden (für eine umfangreiche Zusammenstellung siehe ICTJ [22], beschäftigen sich in der Regel nicht mit der Frage der rechtlichen Qualifizierung dieser Verbrechen als Genozid.

Kriminologie und Genozid

Fehlen einer Kriminologie des Genozids

Bereits eine oberflächliche Sichtung der kriminologischen Literatur bestätigt schnell den Eindruck, daß von einer “Kriminologie des Völkermordes” (noch) nicht gesprochen werden kann. Lediglich vereinzelt (so z.B. Morrison, 2006; Yacoubian, 2005) finden sich Auseinandersetzungen mit dem Thema, die aber mehr oder weniger einhellig zu dem Schluß kommen, die Kriminologie habe sich mit der Frage des Völkermordes nicht eingehend genug bzw. gar nicht beschäftigt. So stellt z.B. auch Welzer (2005) fest, daß über den Holocaust zwar viel geschrieben worden ist, daß aber die wichtigste Frage bis heute nicht beantwortet ist, nämlich warum sogenannte „Durchschnittsmenschen“ imstande waren, massenhaft Menschen zu töten?

Genozid als Erscheinungsform der Makrokriminalität

Der von Herbert Jäger geprägte Begriff der „Makrokriminalität“ umfaßt sogenannte „Großformen des Verbrechens“ mit regelmäßig verheerendem Ausmaß, wobei gemeinsames Merkmal aller makrokriminellen Erscheinungen nicht die außergewöhnliche Schadensdimension eines Verbrechens ist, sondern die Größenordnung des Täterkollektivs. „Makrokriminalität“ sei dann gegeben, „wenn sich die kollektiven Taten als Teilakte gesamtgesellschaftlicher Konflikte und Prozesse darstellen, Staat und Gesellschaft also durch ihre auslösende Bedeutung unmittelbar in die kriminellen Ereignisse involviert sind“ (Jäger, 1995). Entscheidend ist also die Abhängigkeit der individuellen Handlung von den Geschehnissen der Makroebene, etwa von „politischen Ausnahmebedingungen“. Als Teilaspekt der sogenannten „Makrokriminalität“ handelt es sich beim Genozid um eine der „schwersten und folgenreichsten Formen des menschlichen Unrechts“ und es ist damit um so verwunderlicher, daß dieser Bereich (wie übrigens auch andere Phänomene der Makrokriminalität, wie z.B. Kriegsverbrechen, Staatsterrorismus und nukleare Massenvernichtung) aus den kriminologischen Denkkonzepten weitgehend ausgeblendet ist.


Als einen Grund für die Ausklammerung der Makrokriminalität aus den Betrachtungen der Kriminologie vermutet Jäger, daß diese Ausgrenzungen für unser Denken insgesamt und für die rechtlichen und ethischen Bewertungen, die wir vornehmen, symptomatisch sind. Jäger behauptet, daß unsere „Nahraum - Moral“ oder „Nächsten - Ethik“ uns daran hindert, Ereignisse jenseits der unmittelbaren täglichen Sphäre menschlicher Wechselwirkung uneingeschränkt als Kriminalität wahrzunehmen. Herbert Jägers zentrale Hypothese ist, daß dieses normative Vakuum eine der Bedingungen dafür ist, daß es zu solchen Verbrechen kommt, die eine so verheerende Reichweite haben. Eine weitgehende Entkoppelung von Verbrechensbegriff und praktischer Strafrechtsanwendung und insoweit auch von Kriminologie und Strafrecht scheint, nach Jäger, die Voraussetzung eines kriminologischen Interesses an der Makrokriminalität zu sein (Jäger 1989, S. 11-33). Peters argumentiert ganz offen für eine sogenannte „bornierte Kriminologie“, die sich nicht von moralischen Erwägungen leiten lassen dürfe und deren Aufgabe es sei, sich mit den Fragen des herkömmlich als kriminell Definierten zu beschäftigen, und dies sei etwas Spezifisches und „typischerweise sozial ziemlich machtlos“ und schließe somit das Verhalten der „Mächtigen“ aus. (vgl. Peters, Kurzes Plädoyer für eine bornierte Kriminologie).

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß das originäre Forschungsgebiet der Kriminologie die individuelle Kriminalität ist, welche gekennzeichnet ist durch das abweichende Verhalten einzelner Personen (Devianz), wohingegen die schlimmsten Verbrechen in den allermeisten Fällen nicht von abweichenden Einzelkämpfern begangen werden, sondern von Menschen, die in Kollektiven tätig sind und in diesen Kollektiven durchaus konform handeln. Darüber hinaus deuten auch die verschiedenen Definitionen von „Verbrechen“ insgesamt darauf hin, daß zentraler Maßstab für die Bestimmung von kriminellem Verhalten die (innerstaatliche) Gesellschaft ist, womit der Bereich der Makrokriminalität bereits im Ansatz ausgeklammert ist. Schließlich setzt der im innerstaatlichen Kontext regelmäßig verwendete Verbrechensbegriff das Vorliegen von „Schuld“ voraus, und die Übertragung des Schuldbegriffs auf internationale Straftaten ist ebenfalls problematisch, spielen doch hier regelmäßig Fragen des Befehlsnotstandes bzw. andere, durch das System selbst vorgegebene Entschuldigungsgründe eine Rolle (vgl. Ewald 2006).

Neuerdings begründet Morrison (2006) diese fehlende Auseinandersetzung auch mit der Geschichte der Kriminologie selbst, da „criminology was to be the official scholarly discourse on crime and punishment pertaining to actions that occurred within the sphere of the modern state“ und stellt damit die Theorien der Kriminologie selbst in Frage. So könne z.B. die von Gottfredson und Hirschi entwickelte „General Theory of Crime“ nur ihren allgemeingültigen Anspruch wahren, indem sie das Verbrechen des Genozids ausklammert.

Konsequenzen für die Kriminologie als Wissenschaft


 Die Bedeutung dieser Nichtbeachtung für die Kriminologie wird unterschiedlich bewertet. Zum Teil wird nur von "verpassten Chancen" gesprochen (Day/Vandiver, 2000), teilweise wird allerdings die Relevanz der Kriminologie als Wissenschaft selbst in Frage gestellt. So folgert z.B. Wayne Morrison „that in these times where a new imperialism is embraced, a discipline founded on such a politically partial constituted „world of facts“ as mainstream criminology has been can indeed be safely ignored; moreover, without reform it ought to be ignored“ (Morrison, S. 59).

Einen besonders drastischen Vorwurf hat auch Alex Alvarez formuliert, der die Frage aufwirft, ob die Auswirkungen der Nichtbeachtung des Genozids (in bezug auf den Holocaust) nicht mit der Leugnung des Holocausts selbst gleichgestellt werden können: „In some ways, the effect of this academic neglect may be comparable to the damage done by those who deny the Holocaust. While I am by not means suggesting a moral equivalency between those who, for various reasons, omit reference to genocide and those who actively work to mislead and represss truth, I am asserting that both behaviours have somewhat similar results. That is, the failure of social scientists to adequately address the study of genocide contributes to perceptions and attittudes that, through exclusion, minimize the importance and significance of genocide. That is essentially what Holocaust denial is all about.“ (Alvarez, S. 3).

Erste Ansätze einer kriminologischen Auseinandersetzung mit dem Genozid

Wenngleich die durch die Makrokriminalität aufgeworfenen Fragen sicherlich nicht im Kernbereich der Kriminologie behandelt werden, so haben sich doch vereinzelt Vertreter des Faches zu dieser Thematik geäußert und zumindest in Teilen über die bloße Feststellung des Mißstandes hinausgehend einzelne Ansätze für eine Auseinandersetzung der Kriminologie mit der Thematik geliefert. Alex Alvarez hat zum Beispiel die Art und Weise der Rekrutierung von Militärs untersucht, die an der Begehung eines Genozids beteiligt warten. Außerdem hat er auf der Ebene des Einzeltäters auf nachvollziehbare Weise die von Sykes and Matza 1957 für Jugendstraftäter entwickelte „Techniken der Neutralisierung“ (techniques of neutralization) auf die Täter und Mittäter eines Genozids übertragen. Zu diesen Neutralisierungstechniken gehören die folgenden fünf: Das Leugnen der Verwantwortung (denial of responsibility), Leugnen des Schadens (denial of injury), Leugnen des Opfers (denial of victim), Verurteilung der Veurteilenden (condemnation of the condemners,) sowie die Berufung an höhere Loyalitäten (appeal to higher loyalties). George S. Yacoubian entwickelte in diesem Zusammenhang den Begriff der „Catastrophic Criminology“. Hagan, zusammen mit Rymond-Richmond und Parker legte z.B. unter Anwendung kriminologischer Methoden detailliert dar, daß es sich bei dem Konflikt in Darfur im Sudan (entgegen der von den Vereinten Nationen vorgenommenen Einordnung) um einen Genozid handelt. Weiter haben u.a. Christopher R. Friedrichs, Edward Day und Margaret Vandiver, Peter Laufer und John Hagan interessante Ansätze für die Weiterentwicklung der Kriminologie auf diesem Gebiet geliefert. Day und Vandiver zeigten z.B. auf, daß die Theorien, die von einzelnen Genozidforschern zur Erklärung von Verhalten von Regierungen, politischen Führern und gewöhnlichen Bürgern und deren Beitrag zu extremer Gewalt entwickelt worden waren, eine sehr starke Ähnlichkeit aufweisen zu den Kernkonzepten der Kriminologie. Sie folgern letztlich ebenfalls, daß die Kriminolgie Gelegenheiten vepaßt hat, sowohl zur Forschung im Bereich der Genozid-Studien beizutragen als auch damit gleichzeitig ihre eigenen Ansätze weiterzuentwickeln.

Literatur

Alvarez, Alex: Governments, Citizens, and Genocide: A Comparative and Interdisciplinary Approach. Bloomington: Indiana University Press, 2001

Chalk, Frank/Jonassohn, Kurt: The History and Sociology of Genocide, 1990

Charny, Israel W. in: Andreopoulos (ed.): Genocide: Conceptual and Historical Dimensions, 1994

Day,Edward/Vandiver, Margaret: Criminology and genocide studies: Notes on what might have been and what still could be, in: Crime, Law and Social Change, Vol 34, No 1/July 2000, S. 43-59

Ewald, Uwe: Kollektive Massentötungen und die Rede vom aufsteigenden Mythos internationaler Strafjustiz in: KrimJ 1/2006; S. 32-48

Fein, Helen: Genocide: A Sociological Perspective, 1993

Hagan, John/Rymond-Richmond, Wenona/Parker, Patricia: The Criminology of Genocide: Death and Rape of Darfur in: Criminology, August 2005, 43,3, S. 525-561

Harff, Barbara/Gurr, Ted. R.: Toward empirical theory of genocides and politicides in: International Studies Quarterly 37, 3, 1988

Jäger, Herbert: Versuch über Makrokriminalität, in: StV 1988, S. 172 ff

Jäger, Herbert: Makrokriminalität – Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, 1989

Jäger, Herbert: Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts – Kriminalpolitisch- kriminologische Aspekte, in: Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, 1995, S. 325 ff.

Katz, Steven T.: The Holocaust in Historical Perspective, Volume 1, 1994

Lemkin, Raphael, Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposals for Redress, Washington: Carnegie Endowment for World Peace, 1944

Morrison, Wayne: Criminology, Civilisation & The New World Order, New York, 2006

Orentlicher, Diane F., Genocide in: Gutman, Roy/Rieff, David: Crimes of War 1999, S. 153-157

Peters, Helge: Kurzes Plädoyer für eine bornierte Kriminologie in: Behr, R./H.Crmer-Schäfer/Scheerer, Sebastian (Hg.): Kriminalitäts-Geschichten. Ein Lesebuch über Geschäftigkeiten am Rande der Gesellschaft, Hamburg 2006, S. 51-55

Salach, David: Modelling Genocide, http://www.isg-iags.org/documents/modelGenocideCC.pdf

Sykes, G.M., & Matza, D. (1957): Techniques of Neutralization: A Theory of Delinquency. American Sociological Review, 22. S. 664-670

Woolford, Andrew: Making Genocide Unthinkable: Three Guidelines for a Critical Criminology of Genocide in: Critical Criminology, Volume 14, No. 1, März 2006, S. 87-106

Yacoubian, George S.: Genocide, Terrorism, and the Conceptualization of Catastrophic Criminology in: War Crimes, Genocide & Crimes against Humanity, Volume 2 (2006), S. 65-85