Gefängnisdemokratie: Unterschied zwischen den Versionen

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''Gefängnisdemokratie'' ist die Regelung der Angelegenheiten der Gefangenen - etwa im Bereich der Arbeit, der Aus- und Fortbildung, der Finanzen, der Küche und der Haushaltsführung, der Instandsetzungsarbeiten usw. - durch die Gefangenen, die sich ihrerseits in Wahlen und Abstimmungen demokratisch organisieren. Eine Grenze der Demokratie im Gefängnis stellt der Freiheitsentzug selbst dar: über den Aufenthalt im Gefängnis und über die Entlassung befindet nicht die Gemeinschaft der Gefangenen, sondern das Justizsystem.
'''Gefängnisdemokratie''' ist die Regelung der Angelegenheiten der Gefangenen - etwa im Bereich der Arbeit, der Aus- und Fortbildung, der Finanzen, der Küche und der Haushaltsführung, der Instandsetzungsarbeiten, der Disziplin usw. - durch die Gefangenen, die sich in Wahlen und Abstimmungen demokratisch organisieren.
 
Eine Schrumpfform der Gefängnisdemokratie in Deutschland ist die Gefangenenmitverantwortung (GMV). Sie hat deutlich geringere Ansprüche als die Gefängnisdemokratie, vermag aber auch diese nicht zu erfüllen.  


Denkbar ist, dass Demokratie in einer totalen Institution ein Widerspruch in sich ist, eine contradictio in adjecto, ein Oxymoron.
Zweck der Gefängnisdemokratie ist "nicht die Herstellung guter Gefangener, sondern guter Bürger“ (Thomas M. Osborne). Das beginnt durch die Übernahme von Verantwortung: die Gefangenen entdecken ganz neue Aspekte ihrer Persönlichkeit; sie können Wachtmeister oder Abgeordnete sein und Gesetze zu machen oder sie durchsetzen - und all dies hat Einfluss auf ihre Persönlichkeit und plötzlich sind sie keine kriminelle Gemeinschaft mehr, sondern eine Gemeinschaft ehemaliger Krimineller und gegenwärtiger Häftlinge, die als unabhängige Bürgergemeinschaft innerhalb eines besonderen und festgelegten Raums auftritt. Sie sind zwar von schattenwerfenden Mauern umgeben, genießen innerhalb derselben aber eine relative Freiheit und Gleichheit.


Die Grenze der Demokratie im Gefängnis stellt der Freiheitsentzug selbst dar: über den Aufenthalt im Gefängnis und über die Entlassung befindet nicht die Gemeinschaft der Gefangenen, sondern das Justizsystem.
 
== Gefängnisdemokratie bei Frank Tannenbaum ==


== Ruf nach "Gefängnisdemokratie" ==
Frank Tannenbaum verbrachte 1914 ein Jahr im New Yorker Gefängnis Blackwell's Island, ließ sich später noch einmal freiwillig in Sing Sing einsperren und besuchte darüber hinaus rund 70 Anstalten überall in den USA. In seinem Buch ''Wall Shadows'' (1922) beschrieb er einerseits die Unzulänglichkeiten der Haftbedingungen, denen er selbst ausgesetzt war, und andererseits die Ansätze zu einer ''prison democracy'', wie er sie vor allem in Sing Sing unter dem Anstaltsleiter Osborne erlebt hatte.
 
Vor allem sei den Gefangenen mehr Respekt entgegenzubringen und Verantwortung zu überlassen. Sie sollten sich selbst organisieren und die Interna der Anstalt selbst organisieren. Dabei sehen sich Langstrafer als die natürlichen Hüter der Ordnung: „we are the responsible party“.
=== Gefängnisdemokratie bei Frank Tannenbaum ===
 
Frank Tannenbaum verbrachte 1914 ein Jahr im New Yorker Gefängnis Blackwell's Island. Er hatte eine Gruppe von rund 200 arbeitslosen und hungrigen Männern auf der Lower West Side von Manhattan in Kirchen geführt, wo sie um Nahrung und Unterkunft nachsuchten und von einer Kirchengemeinde angezeigt wurden.


Nach seiner Haft besuchte er mit einem Stipendium einer wohlhabenden New Yorker Philanthropin eine Hochschule und schrieb dann rund sieben Jahre nach seiner eigenen Hafterfahrung das Buch Wall Shadows, in dem er seine Erfahrungen mit dem Gefängnissystem beschrieb.
Tannenbaum beschreibt die Begeisterung der Gefangenen. Ein Berufsdieb, der nie Arbeiter gewesen war, wollte nach seiner Entlassung Arbeiterführer werden, weil er eines begriffen habe: „democratic self-government is the cure for all our troubles, and I am going to preach it when I get out“.


Besonders lag ihm die Integration der aus der Haft Entlassenen, die Erarbeitung von Resozialisierungsmöglichkeiten und eine Anpassung der Lebensbedingungen in der Haft an diejenigen in der Freiheit am Herzen.  
Es geht bei der Gefängnisdemokratie um die Erneuerung des Systems: diese soll auf eine methodische und friedliche Art verlaufen. In einer Demokratie finden Debatten statt. Diese Art von Kommunikation verläuft nach festen Regeln und dient einer eventuellen Abstimmung. Es kann sich dabei um Sachfragen oder auch Personalfragen handeln.


Dazu gehörte für ihn, dass den Häftlingen ein Großteil an Macht zur Behandlung ihrer eigenen Angelegenheiten übertragen wird, einschließlich der hochwichtigen Frage der Haftdisziplin.
Man bewirbt sich um ein Amt in der Verwaltung, man errichtet zum Beispiel ein Schulsystem oder man ist - wie ein Viertel der Insassen von Sing Sing zur Zeit von Osborne - Mitglied in einem der vielen Komitees (für Hygiene, für Bildung, für die Reform der Verfassung). Und/oder man hört Vorlesungen, belegt Kurse, sieht Filme oder hilft im Unterricht mit.  


Diesen Vorgang bezeichnete er als Gefängnisdemokratie.
In mancher Hinsicht sind die Bedingungen im Gefängnis vielleicht sogar günstiger für Demokratie als „draußen“: die Gruppe besteht aus Gleichen, die Gruppe ist klein und die Interessen der Mitglieder sind so eng miteinander verknüpft, dass die Handlungen eines jeden Mitglieds direkten Einfluss auf das Wohlergehen aller anderen haben.


Ziel der Gefängnisdisziplin sollte "nicht die Herstellung guter Gefangener, sondern guter Bürger sein“ (Thomas M. Osborne).
Die Aufgabe besteht in der Errichtung einer „sich selbst regierenden Gemeinschaft“, die sich finanziell selbst trägt, die eine demokratische Arbeitsorganisation und die Absolvierung einer Ausbildung oder Fortbildung ermöglicht, aber auch die Stabilisierung der Kontakte zu Familien und Freunden „draußen“.


Der Inhalt von Wall Shadows:
=== Der Inhalt von Wall Shadows ===


*Was ist ein Gefängnis? (Das größte Labor für Psychologie; Notbehelf; Spiegel der Gesellschaft; Krankheit; gleichmacher)
*Was ist ein Gefängnis? (Das größte Labor für Psychologie; Notbehelf; Spiegel der Gesellschaft; Krankheit; gleichmacher)
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*Selbstverwaltung als geistiges Wachstum
*Selbstverwaltung als geistiges Wachstum


== Widerspruch zwischen Gefängnis und Demokratie ?==
== Verhältnis von Gefängnis und Demokratie ==
Denkbar ist, dass Demokratie in einer totalen Institution ein Widerspruch in sich ist, eine contradictio in adjecto, ein Oxymoron.


== Gefangenenmitverwaltung ==
== Gefangenenmitverwaltung ==


Eine Schrumpfform der Gefängnisdemokratie in Deutschland ist die Gefangenenmitverantwortung (GMV). Sie hat deutlich geringere Ansprüche als die Gefängnisdemokratie, vermag aber auch diese nicht zu erfüllen.


== Zitate ==
== Zitate ==
*"We must destroy the prison, root and branch. That will not solve our problem, but it will be a good beginning." (Wall Shadows, S. 141).
*"We must destroy the prison, root and branch. That will not solve our problem, but it will be a good beginning" (Wall Shadows, S. 141).


== Literatur ==
== Literatur ==
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*[http://www.amazon.de/tannenbaum-frank-wall-shadows-Fremdsprachige-B%C3%BCcher/s?ie=UTF8&keywords=tannenbaum%20frank%20wall%20shadows&page=1&rh=n%3A52044011%2Ck%3Atannenbaum%20frank%20wall%20shadows Tannenbaum, Frank (2012) Wall Shadows. A Study in American Prisons. Ulan Press (Nabu Press: 2010)].
*[http://www.amazon.de/tannenbaum-frank-wall-shadows-Fremdsprachige-B%C3%BCcher/s?ie=UTF8&keywords=tannenbaum%20frank%20wall%20shadows&page=1&rh=n%3A52044011%2Ck%3Atannenbaum%20frank%20wall%20shadows Tannenbaum, Frank (2012) Wall Shadows. A Study in American Prisons. Ulan Press (Nabu Press: 2010)].


*Murton, Tom (1973) Shared Decision-Making in Prison Management: a Survey of Demonstrations Involving the Inmate in Participatory Government. In: Michele G. Hermann/Marilyn G.Haft (Hrsg.) Prisoners' Rights Sourcebook. Theory, Litigation, Practice. New York 1973: 543-573(mit Phyllis Jo Baunach).
*Murton, Tom (1973) Shared Decision-Making in Prison Management: a Survey of Demonstrations Involving the Inmate in Participatory Government. In: Michele G. Hermann/Marilyn G.Haft (Hrsg.) Prisoners' Rights Sourcebook. Theory, Litigation, Practice. New York 1973: 543-573 (mit Phyllis Jo Baunach).


*Nix, Christoph (1990) Die Vereinigungsfreiheit im Strafvollzug. Gießen: Focus Verlag 1990.
*Nix, Christoph (1990) Die Vereinigungsfreiheit im Strafvollzug. Gießen: Focus Verlag 1990.
== Siehe auch ==
*[[Frank Tannenbaum]]
31.738

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