Franz Exner: Unterschied zwischen den Versionen

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Bereits Exners Definition der „Kriminalsoziologie im engeren Sinne“ kann für die damalige Zeit als durchaus innovativ angesehen werden: Er betrachtete die Kriminalsoziologie als eine wertfreie Tatsachenwissenschaft. Ihre Aufgabe sei es, das Verbrechen als eine gesellschaftliche Erscheinung zu beschreiben und in seiner  gesellschaflichen Bedingtheit zu erklären. [11] Diese Herangehensweise entsprach zwar dem Paradigma einer [[Ätiologie|ätiologischen]] (verursachungsgemäßen) Kriminologie. Vor Franz Exner hatte jedoch noch kein deutschsprachiger Kriminologe eine ähnliche, sich rein auf die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität beziehende Definition der Kriminalsoziologie dargelegt. Franz von Liszt beispielsweise, der das Verbrechen ebenfalls bereits als eine "gesellschaftliche Erscheinung" bezeichnete, hatte unter Kriminalsoziologie noch eine Art Oberdisziplin unter Einschluß der Kriminalanthroplogie verstanden. Auch die Wertfreiheit der Disziplin war keineswegs unumstritten. So betrachtete es [[Wilhelm Sauer]] als die Aufgabe der KS, zu einer Ethisierung des Strafrechts beizutragen; sie sei eine "nicht für, sondern gegen den Verbrecher" eintretende, mithin ausdrücklich nicht wertfreie, Wissenschaft.
Bereits Exners Definition der „Kriminalsoziologie im engeren Sinne“ kann für die damalige Zeit als durchaus innovativ angesehen werden: Er betrachtete die Kriminalsoziologie als eine wertfreie Tatsachenwissenschaft. Ihre Aufgabe sei es, das Verbrechen als eine gesellschaftliche Erscheinung zu beschreiben und in seiner  gesellschaflichen Bedingtheit zu erklären. [11] Diese Herangehensweise entsprach zwar dem Paradigma einer [[Ätiologie|ätiologischen]] (verursachungsgemäßen) Kriminologie. Vor Franz Exner hatte jedoch noch kein deutschsprachiger Kriminologe eine ähnliche, sich rein auf die gesellschaftlichen Ursachen der Kriminalität beziehende Definition der Kriminalsoziologie dargelegt. Franz von Liszt beispielsweise, der das Verbrechen ebenfalls bereits als eine "gesellschaftliche Erscheinung" bezeichnete, hatte unter Kriminalsoziologie noch eine Art Oberdisziplin unter Einschluß der Kriminalanthroplogie verstanden. Auch die Wertfreiheit der Disziplin war keineswegs unumstritten. So betrachtete es [[Wilhelm Sauer]] als die Aufgabe der KS, zu einer Ethisierung des Strafrechts beizutragen; sie sei eine "nicht für, sondern gegen den Verbrecher" eintretende, mithin ausdrücklich nicht wertfreie, Wissenschaft.


Endgültig über den von Franz von Liszt gezogenen Rahmen hinaus begab sich Exner sodann mit der „Kriminalsoziologie im weiteren Sinne“. Diese (Sub-)Disziplin sollte zusätzlich auch die gesellschaftlichen und staatlichen Bezüge des Phänomens Kriminalität untersuchen. Der „Soziologie der Verbrechensverfolgung“ fiel hierbei die Aufgabe einer empirischen Erforschung des Kriminaljustizsystems und der in ihm tätigen Personen (Richter, Staatsanwälte usw.) zu. Seine Studie über die "Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte" (1931) kann in diesem Zusammenhang auch als ein früher Beitrag zur kriminologischen [[Justizforschung]] angesehen werden. Aufgrund einer Analyse justizstatistischen Materials der Jahre 1880-1927 stellt Exner in dieser Studie für den Untersuchungszeitraum beträchtliche Veränderungen der verhängten Strafen und ein Auseinanderklaffen des gestzlichen und des richterlichen Strafmaßes fest. Die Unterschiede zwischen gesetzlicher und richterlicher Beurteilungsweise führt Exner darauf zurück, daß die richterliche Betrachtung im Gegensatz zur gesetzlichen moralisierend im Sinne einer Ethik des "alltäglichen Lebens sei". Anknüpfend an eine Ausdrucksweise Max Webers resümmiert Exner, das richterliche Handeln sei im wesentlichen "traditional nicht rational". 
Endgültig über den von Franz von Liszt gezogenen Rahmen hinaus begab sich Exner sodann mit der „Kriminalsoziologie im weiteren Sinne“. Intendiert war damit eine teilweise Abwendung des kriminalsoziologischen Untersuchungsprogramms von "Täter" hin zu einer  Beschäftigung mit den gesellschaftlichen und staatlichen Bezügen des Phänomens Kriminalität. Die Instanzen der sozialen Kontrolle und "die Gesellschaft" sollten gleichberechtigt mit dem Handeln "der Kriminellen" als kriminologische Objekte analysiert werden.  


Darüber hinaus sollte eine „Soziologie der Verbrechensauffassung“ herausarbeiten, wie die „Gesellschaft“ das Verbrechen definiert und auf kriminelle Handlungen reagiert, um diese Betrachtungsweise der staatlichen Herangehensweise wissenschaftlich gegenüberstellen zu können.[12]
Der „Soziologie der Verbrechensverfolgung“ fiel hierbei die Aufgabe einer empirischen Erforschung des Kriminaljustizsystems und der in ihm tätigen Personen (Richter, Staatsanwälte usw.) zu. Seine Studie über die "Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte" (1931) kann in diesem Zusammenhang auch als ein früher Beitrag zur kriminologischen [[Justizforschung]] angesehen werden. Aufgrund einer Analyse justizstatistischen Materials der Jahre 1880-1927 stellt Exner in dieser Studie für den Untersuchungszeitraum beträchtliche Veränderungen der verhängten Strafen und ein Auseinanderklaffen des gestzlichen und des richterlichen Strafmaßes fest. Die Unterschiede zwischen gesetzlicher und richterlicher Beurteilungsweise führt Exner darauf zurück, daß die richterliche Betrachtung im Gegensatz zur gesetzlichen moralisierend im Sinne einer Ethik des "alltäglichen Lebens sei". Anknüpfend an eine Ausdrucksweise Max Webers resümmiert Exner, das richterliche Handeln sei im wesentlichen "traditional, nicht rational". 


Indem Exner der Kriminalsoziologie bereits 1931 ein solch weites Forschungsgebiet eröffnete, nahm er wichtige Forderungen der sich im deutschsprachigen Raum erst in den 1960er Jahren formierenden „[[Kritische Kriminologie|Kritischen Kriminologie]]“ und des [[Labelling Approach]] vorweg. Richard Wetzell zog daher den Schluss, dass Exner sich bereits damals der „teilweisen sozialen Konstruktion des Phänomens Kriminalität“ bewusst gewesen sein müsse.[13] Dieser Auffassung ist jedoch entgegenzuhalten, daß Exner auch weiterhin an einer kriminalpolitisch praktischen Anwendung seiner Forschungsergebnisse interessiert blieb. Die Kriminalsoziologie blieb für Exner Zeit seines Lebens eine - wenn auch weitgehend autonome - "Hilfswissenschaft des Strafrechts". Kritische Absichten sind somit auch Exners "weitem Verständnis von Kriminalsoziologie" nicht zu unterstellen.
Darüber hinaus sollte eine „Soziologie der Verbrechensauffassung“ herausarbeiten, wie die „Gesellschaft“ das Verbrechen definiert und auf kriminelle Handlungen reagiert, um diese Betrachtungsweise der staatlichen Herangehensweise wissenschaftlich gegenüberstellen zu können.[12] Exner hatte dies in ersten Ansätzen bereits in seinem Aufsatz "Gesellschaftliche und Staatliche Strafjustiz" aus dem Jahre 1919 getan. Er war damals zu dem Ergebnis gekommen, daß sich die gesellschaftliche und die staatliche Beurteilung bestimmter Verbrechen (vor allem, aber nicht nur im Hinblick auf politische Delikte und Fahrlässigkeitstaten) teilweise erheblich voneinander unterschieden. Im Gegensatz zum Staat tendiere "die Gesellschaft" zu einer moralisiereden Vergeltungsjustiz. Sie achte viel mehr auf - für den staatlichen Strafanspruch mehr oder weniger gleichgültige - Details der inneren Einstellung zur Tat und stehe den politischen Verbrechern sogar teilweise wohlwollend gegenüber.   
 
Indem Exner der Kriminalsoziologie bereits 1931 ein solch weites Forschungsgebiet eröffnete, nahm er wichtige Teilforderungen der sich im deutschsprachigen Raum erst in den 1960er Jahren formierenden „[[Kritische Kriminologie|Kritischen Kriminologie]]“ und des [[Labelling Approach]] vorweg. Richard Wetzell zog daher den Schluss, dass Exner sich bereits damals der „teilweisen sozialen Konstruktion des Phänomens Kriminalität“ bewusst gewesen sein müsse.[13] Dieser Auffassung ist jedoch entgegenzuhalten, daß Exner auch weiterhin an einer kriminalpolitisch praktischen Anwendung seiner Forschungsergebnisse interessiert blieb. Die Kriminalsoziologie blieb für Exner Zeit seines Lebens eine - wenn auch weitgehend autonome - "Hilfswissenschaft des Strafrechts". Kritische Absichten sind somit auch Exners "weitem Verständnis von Kriminalsoziologie" nicht zu unterstellen.


Während der Herrschaft des Nationalsozialismus griff Exner auf diese weitreichenden Fragestellungen nicht mehr zurück. Die kriminalsoziologischen Kapitel seines 1939 erschienen Hauptwerkes „Kriminalbiologie“ beschränkten sich auf die ätiologischen Fragestellungen der „Kriminalsoziologie im engeren Sinne“. Zudem entdifferenzierte Exner seinen kriminalsoziologischen Ansatz, indem er den Terminus "gesellschaftliche Bedingtheit" fallenließ und durch den schwammigeren Ausdruck "umweltliche Bedingtheit" ersetzte. Sämtliche innovatorischen Komponenten seiner Kriminalsoziologie gingen auf diese Weise wieder verloren.
Während der Herrschaft des Nationalsozialismus griff Exner auf diese weitreichenden Fragestellungen nicht mehr zurück. Die kriminalsoziologischen Kapitel seines 1939 erschienen Hauptwerkes „Kriminalbiologie“ beschränkten sich auf die ätiologischen Fragestellungen der „Kriminalsoziologie im engeren Sinne“. Zudem entdifferenzierte Exner seinen kriminalsoziologischen Ansatz, indem er den Terminus "gesellschaftliche Bedingtheit" fallenließ und durch den schwammigeren Ausdruck "umweltliche Bedingtheit" ersetzte. Sämtliche innovatorischen Komponenten seiner Kriminalsoziologie gingen auf diese Weise wieder verloren.
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