Exklusion: Unterschied zwischen den Versionen

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In seiner gesellschaftsbezogenen Verwendung bedeutet der Begriff '''Exklusion''' (lat.: exclusio: Ausschluss; Gegenbegriff lat.: inclusion: Einschließung) soviel wie "sozialer Ausschluss" oder "soziale Ausschließung/Ausgrenzung". Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass jede soziale Schließung für die Nicht-Dazugehörigen einen Entzug, bzw. eine Verweigerung der mit der Mitgliedschaft verbundenen Teilhabechancen bedeutet. Sowohl Exklusion als auch der Konflikt darüber sind integraler Bestandteil menschlicher Gesellschaften. Völlig exklusionsfreie menschliche Gesellschaften sind nicht bekannt. Der zeitgenössische Exklusionsdiskurs in den Wissenschaften betrifft nicht zuletzt die Frage, ob (und ggf. wie) sich die Globalisierung auf Phänomene des sozialen Ausschlusses bzw. der Ausschließung auswirken. Während überwiegend eine dramatische Verschärfung von Exklusionsprozessen konstatiert wird, resultieren der heutige Ausschließungsdikurs und sein "diakonischer" Charakter nach anderer Ansicht ganz im Gegenteil "aus der Tatsache, dass eine durchgehende historische Tendenz in Richtung Inklusionsgleichheit die Sensibilität für Exklusionen erhöht hat" (vgl. Hess 2009).
Der Begriff der '''Exklusion''' (lat.: exclusio: Ausschluss) ist in der Kriminologie gleichbedeutend mit den Begriffen "sozialer Ausschluss" und "soziale Ausgrenzung". Im Prinzip gehört [[soziale Schließung]] - und damit [[soziale Ausschließung]] als deren Kehrseite - zu jeder menschlichen Gesellschaft. Allerdings variieren Formen und Intensitäten der Exklusion in hohem Maße. Der aktuelle Exklusionsdiskurs kritisiert eine dramatische Zunahme von Exklusionsprozessen im Zeitalter der neoliberalen Globalisierung. Allerdings warnt Robert Castel als einer von dessen Begründern inzwischen vor den Fallstricken des Exklusionsdiskurses und schlägt als Alternative den Begriff der desaffiliation (der Ausgliederung, bzw. des Bindungsverlusts) vor. Wieder andere zweifeln an der Zunahme von Exklusionen im langfristigen historischen Vergleich und führen die heftige Exklusionskritik seit den 1980er Jahren eher auf einen erhöhten Inklusionsdruck und eine dementsprechend höhere Sensibilität für Exklusionen zurück.


== Typologie ==
== Typologie ==
In ihren Ursprüngen, Funktionen, Legitimationen und Folgen sind die Phänomene der Exklusion so vielfältig, dass eine Unterscheidung von Grundformen sowohl für die Beschreibung und Analyse als auch für die Bewertung von Exklusionen nützlich sein kann.
Hess (2009) schlägt angesichts der Vielfalt von Exklusionsphänomenen folgende Typologie und Begrifflichkeit vor:


=== Verweigerung vs. Entzug der Zugehörigkeit ===
=== Verweigerung vs. Entzug der Zugehörigkeit ===
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Exklusion kann sich in räumlicher Absonderung der Betroffenen (z.B. Ghetto) niederschlagen.  
Exklusion kann sich in räumlicher Absonderung der Betroffenen (z.B. Ghetto) niederschlagen.  


== Tendenzen ==
== Konflikte ==
Gegen die aus der Entstehung von Herrschaft und der vertikalen Differenzierung von Gesellschaften resultierende Zerstörung ursprünglicher Gleichheit gibt es immer (wieder) Widerstand, der sich auf das Ideal der Gleichheit aller Menschen beruft. Ein solches egalitäres Momentum trieb und treibt zum Beispiel religiöse und politische Revolutionäre an, steht aber auch hinter den großen sozialen Bewegungen (der Arbeiter-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegung).


Die jüngere, stark von Frankreich ("exclusion") und den USA ("underclass") geprägte Diskussion behandelt nicht zuletzt die Frage, ob und aus wessen Sicht die Exkludierten noch eine ökonomisch oder sozial bedeutsame Funktion erfüllen, oder ob diese als gänzlich "Überflüssige" von kompletter Vernachlässigung bedroht sind. Auch wird vielfach angenommen, dass die jüngste Phase der Globalisierung zu einer Verschärfung der Exklusionsphänomene geführt habe. Gelegentlich wird die lebhafte Kritik an aktuellen Exklusionsprozessen jedoch auch ganz im Gegenteil als Ausdruck einer ungebrochenen Inklusionstendenz interpretiert: je stärker der Drang zur All-Inklusion, desto intensiver die Kritik an verbleibenden Ausschlussphänomenen (Hess 2009).
 
== Tendenzen der Exklusion und des Exklusionsdiskurses ==
 
=== Exklusionstendenzen ===
 
Die jüngere, stark von Frankreich ("exclusion") und den USA ("underclass") geprägte Diskussion behandelt nicht zuletzt die Frage, ob und aus wessen Sicht die Exkludierten noch eine ökonomisch oder sozial bedeutsame Funktion erfüllen, oder ob diese als gänzlich "Überflüssige" von kompletter Vernachlässigung bedroht sind. Auch wird vielfach angenommen, dass die jüngste Phase der Globalisierung zu einer Verschärfung der Exklusionsphänomene geführt habe.
 
Dagegen steht die These, dass seit dem 18. Jahrhundert eine (sich jüngst wieder beschleunigende) Tendenz zur Inklusionsgleichheit dominiere, "d.h. eine Tendenz in Richtung zunächst ideologischer, aber mehr und mehr auch faktischer Egalität und selbstverständlich vorausgesetzter Rechte auf Zugehörigkeit" (Hess 2009: 26) - die freilich zur Verteidigung privilegierter Positionen vor allem dann in intensive Exklusionsprozesse umschlagen könne, wenn sich Inklusionsversuche zur Befriedung als untauglich erweisen sollten.
 
=== Exklusionsdiskurs ===
 
Der ältere Exklusionsdiskurs, der an Karl Marx und Max Weber anknüpfte, thematisierte die Exklusion der Arbeiterklasse durch die private Aneignung der Produktionsmittel seitens der Kapitalisten. Für den neueren Exklusionsdiskurs ist das Nicht-Thematisieren dieser Autoren und ihrer Thematik charakteristisch. Seitdem die Arbeiterschaft wegen des "Besitzes" von Arbeitsplätzen eher als privilegiert gilt, ist Ausbeutung kein Thema mehr: "Die wahren Ausgeschlossenen des Ausschließungsdiskurses sind heute die ''underclass'', das 'tote Gewicht' der Gesellschaft, die Ausgegrenzten, Entbehrlichen, Überflüssigen in unserer und die Massen in der unterentwickelten Welt" (Hess 2009).


== Verwandte Begriffe ==
== Verwandte Begriffe ==
Desaffiliation: Robert Castel kritisiert den inflationären Gebrauch des Begriffs der Exklusion. Während der Begriff der Exklusion traditionell einen klaren Schnitt und eine Totalisierung der Nicht-Zugehörigkeit bezeichnet, zieht Castel für die heute so genannten Prozesse den Begriff der desaffiliation, d.h. der Ausgliederung durch den Verlust von Bindungen, vor. Personen fallen z.B. aus dem Arbeitsmarkt aufgrund technologischer Veränderungen heraus, ohne dass die Ausgliederung eine soziale Schließung des Arbeitsmarkts voraussetzt.
Desaffiliation: Robert Castel kritisiert den inflationären Gebrauch des Begriffs der Exklusion. Während der Begriff der Exklusion traditionell einen klaren Schnitt und eine Totalisierung der Nicht-Zugehörigkeit bezeichnet, zieht Castel für die heute so genannten Prozesse den Begriff der desaffiliation, d.h. der Ausgliederung durch den Verlust von Bindungen, vor.


== Weblinks und Literatur ==


== Literatur ==
*Bauman, Zygmunt (2005) Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition ISBN 3-9360-9657-0
*Bauman, Zygmunt (2005) Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition ISBN 3-9360-9657-0
*Bude, Heinz (2008) Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. München.
*Bude, Heinz (2008) Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. München.
*Bude, Heinz, Andreas Willisch, Hrsg. (2006) „Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige“. Hamburg: Hamburger Edition ISBN 978-3-936096-69-9
*Bude, Heinz, Andreas Willisch, Hrsg. (2006) „Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige“. Hamburg: Hamburger Edition ISBN 978-3-936096-69-9
*Castel, Robert (1995) Les pièges de l’exclusion. Lien social et Politiques, Numéro 34, automne 1995, 13-21
*Castel, Robert (2000) Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs. Mittelweg 36, 9.Jg., H3: 11-25.
*Castel, Robert (2000) Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs. Mittelweg 36, 9.Jg., H3: 11-25.
*[https://sociologie.revues.org/1606 Désaffiliation (sociologie. revues)]
*[http://www.philso.uni-augsburg.de/lehrstuehle/soziologie/sozio1/medienverzeichnis/Bosancic_WS_07_08/SU_HO_exklusion.pdf Materialien Uni Augsburg 2007]
*Hess, Henner (2009) Seid umschlungen, Millionen. Das eherne Gesetz der zunehmenden Inklusion. Unv. Manuskript. Heidelberg.
*Hess, Henner (2009) Seid umschlungen, Millionen. Das eherne Gesetz der zunehmenden Inklusion. Unv. Manuskript. Heidelberg.
*[http://www.pedocs.de/volltexte/2010/2626/pdf/Kronauer_Inklusion_Exklusion_historische_begriffliche_Annaeherung_2010_D_A.pdf Kronauer, Martin (2010) Inklusion - Exklusion ...pdf]
*[https://books.google.de/books?id=zuU6N1lD-tYC&pg=PA22&lpg=PA22&dq=castel+fallstricke&source=bl&ots=DwBQMGpvrx&sig=uqGhQE6fiPwRqVFnDlw_owhpoCU&hl=en&sa=X&ved=0ahUKEwjEmtaHxKnJAhVHXSwKHQ_ODhsQ6AEIYjAJ#v=onepage&q=castel%20fallstricke&f=falsehttps://books.google.de/books?id=zuU6N1lD-tYC&pg=PA22&lpg=PA22&dq=castel+fallstricke&source=bl&ots=DwBQMGpvrx&sig=uqGhQE6fiPwRqVFnDlw_owhpoCU&hl=en& Kronauer fasst Castels Kritik und seine Antikritik zusammen in: Kronauer, Inklusion/Exklusion:..., in Atac, 2008, Politik der Inklusion und Exklusion..]
*Kronauer, Martin (2002) Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt am Main/New York.
*Kronauer, Martin (2002) Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt am Main/New York.
*Lenoir, René (1974) Les exclus - Un Français sur dix, Éditions du Seuil, collection Points Actuels, Paris
:"René Lenoir avait d’ailleurs proposé comme titre « L’autre France » et c’est l’éditeur qui a imposé « Les exclus». C’est à tort, du point de vue de l’auteur, que beaucoup d’auteurs anglo-saxons attribuent à René Lenoir une paternité de l’expression «exclusion sociale» (Rouet, p.1).
*Leisering, Lutz (2004) Desillusionierung des modernen Fortschrittglaubens. „Soziale Exklusion“ als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und soziologisches Konzept, in: Schwinn, Thomas (Hrsg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit, Frankfurt am Main: 238-268.
*Leisering, Lutz (2004) Desillusionierung des modernen Fortschrittglaubens. „Soziale Exklusion“ als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und soziologisches Konzept, in: Schwinn, Thomas (Hrsg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit, Frankfurt am Main: 238-268.
*Luhmann, Niklas (1995) Inklusion und Exklusion, in: ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen: 237-264.
*Luhmann, Niklas (1995) Inklusion und Exklusion, in: ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen: 237-264.
*[http://www.zfs-online.org/index.php/zfs/article/viewFile/1199/736 Mohr, Katrin (2009) Stratifizierte Rechte und soziale Exklusion von Migranten im Wohlfahrtsstaat ZfS]
*Rouet, Gilles (2010) La pauvreté et l’exclusion sociale en Europe : concepts et politiques (pdf online)
*Wilson, William Julius (1987). The Truly Disadvantaged: The Inner City, the Underclass, and Public Policy. Chicago, IL: University of Chicago Press.
*Exklusion in Wikipedia deutsch: [[http://de.wikipedia.org/wiki/Exklusion]] (29.12.09).
*Exclusion sociale in Wikipedia frz.:  [[http://fr.wikipedia.org/wiki/Exclusion_sociale]] (29.12.09).
*Social exclusion in Wikpedia engl.: [[http://en.wikipedia.org/wiki/Social_exclusion]] (29.12.09).
== Siehe auch ==


== Weblinks ==
*[[Ausschließung]]
*Exklusion in Wikipedia deutsch: [[http://de.wikipedia.org/wiki/Exklusion]]
*[[Ausschluss]]
*Exclusion sociale in Wikipedia frz.:  [[http://fr.wikipedia.org/wiki/Exclusion_sociale]]
*[https://fr.wikipedia.org/wiki/Exclusion_sociale Exclusion sociale]
*[[Inklusion]]
*[[Soziale Schließung]]
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