Diversion

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Begriff

Diversion
[lat.] "diversus" Angriff von der Seite, Ablenkung
[eng.] "diversion" Kurswechsel, Umleitung

Mit "Diversion" werden kriminalpolitische Strategien und Tendenzen bezeichnet, die die "Ablenkung", "Umlenkung" oder "Wegführung" des Täters vom System formeller Sozialkontrolle bezwecken, nachdem eine strafrechtliche Normverletzung amtlich festgestellt wurde. Diversion zielt auf die Bewältigung der Kriminalität, insbesondere der Jugend- und Bagatellkriminalität, außerhalb der Justiz und der justiziellen Instanzen. Es geht weiterhin um die Ablenkung bestimmter Rechtsfälle von förmlichen Verfahren und die Zuführung der Betroffenen in Alternativprogramme der informellen Sozialkontrolle. (Kaiser, 1978)

International maßgeblich ist die Definition des japanischen Strafrechtslehrers Hirano. Er versteht unter Diversion "jede Abweichung von dem normalen Strafverfahren vor der gerichtlichen Schuldfeststellung, die zur Teilnahme des Verdächtigen in einem nicht- strafrechtlichen Programm führt, dessen Zweck nicht in der Bestrafung des Verbrechers sondern in seiner Resozialisierung oder in der Lösung des Konflikts, aus dem die Straftat entstanden ist, besteht". (Hirano, 1981)

historische Entwicklung

In dem 1967 veröffentlichten Schlussbericht der vom amerikanischen Präsidenten eingesetzten "Commission on Law Enforcement and Administration of Justice“ wurde die Bezeichnung "Diversion" zu einem grundlegenden Begriff und in die kriminalpolitische Diskussion eingeführt.

Seitdem entfachte sie eine internationale Bewegung, hinter der sich unterschiedliche Strategien verbergen, die weltweit Beachtung gefunden haben. Der Diversionsgedanke ist nicht ausschließlich einer Theorie verpflchtet, obwohl ein wesentlicher Beitrag zu seiner Verbreitung vom Labeling- Ansatz ausging.

Diversion im Ausland

Diversion in den USA

Diversion muß unter Berücksichtigung ihrer besonderen Entstehungsgeschichte in den USA verstanden werden. Kennzeichnend sind vor allem die Sanktionierung sogenannter "status offenders" und die weitreichenden Kompetenzen der Polizei zur Verfahrenseinstellung.

In den USA entstanden vier verschiedene Diversionsebenen:

  • Diversion im vorstaatlichen Bereich durch Nichtanzeige und Wiedervergesellschaftung des Strafrechts ("neighbourhood justice")
  • Diversion durch die Polizei, bei der die Ablenkung bereits in der ersten Kontrollinstanz erfolgt. Diese Form von Diversion beruht auf den besonderen Handlungsspielräumen der Polizei in der angloamerikanischen Justizpraxis ("police diversion")
  • Diversion durch die Staatsanwaltschaft, als Einstellung ("diversion to nothing") oder bedingte Aussetzung der Strafverfolgung unter bestimmten Auflagen
  • Diversion durch den Richter, die oft im Vorfeld des förmlichen Hauptverfahrens entwickelt wird ("court-based diversion")

Diversion wurde zur Lösungsstrategie unterschiedlicher personenbezogener und systembezogener Probleme. So ist beispielsweise die Entlastung der amerikanischen Justiz ein Grund für die starke Ausbreitung von Diversionsprogrammen in den 70er Jahren.

Inzwischen wird die Diversion in ihrem Ursprungsland als Randphänomen bezeichnet. Dafür verantwortlich ist das Aufkommen neoklassischer Tendenzen in der amerikanischen Strafrechtslehre und Kriminalpolitik. Auch die restriktive Finanzpolitik der Reagan- Administration in den 80er Jahren sorgte für die Schließung vieler lokaler Diversionsprogramme wegen Streichung von Bundesmitteln.

Im Zeitpunkt des Rückganges der Diversionspolitik in den USA wuchs die internationale Beachtung und Anerkennung verschiedener Diversionsstrategien. Heute richtet sich die überwiegende Zahl der internationalen Diversionsprogramme auf die Bekämpfung der Bagatell- und Jugendkriminalität.

Diversion in Österreich

In Österreich fand 1999 eine Strafprozessnovelle statt und dabei wurde ein umfassendes Diversionsprogramm in das Strafrecht integriert. Neben der Strafverfolgung in einem förmlichen Verfahren und neben Schuldspruch und Sanktion traten abgestufte alternative Reaktionen und Interventionen, so genannten "Diversionsmaßnahmen". Die StPO-Novelle 1999 zielte darauf ab, unterschiedlichen Erfordernissen und kriminalpolitischen Erwartungen Rechnung zu tragen.


Kritische Einwände

Die Diversionsbewegung hat in den letzten Jahren eine wachsende Kritik erfahren. Folgende Einwände werden gegen die Diversionsbestrebungen erhoben:

  • rechtsstaatlich-liberale Einwände:

Die Gestaltung des Vor- und Hauptverfahrens und die Sanktionsmittel im Rahmen von Diversionsprogrammen beinhalten die Gefahr einer Einschränkung rechtsstaatlicher Garantien, weil sie sich von der traditionellen Justizförmigkeit des Strafverfahrens lösen und eine Durchbrechung des strafprozessualen Legalitätsprinzips voraussetzen. Es besteht ein grundsätzlicher Zielkonflikt zwischen informeller Erledigung und rechtsstaatlichen Garantien und Sicherungen. Dabei liegen folgende Befürchtungen zugrunde:

  • Die prozessualen Rechte des Beschuldigten und die Garantien des Strafverfahrens werden verkürzt.
Im Jugendstrafrecht ist beispielsweise das Geständnis des Jugendlichen - Voraussetzung für die Einstellung des Verfahrens nach §§ 45 Abs. 3, 47 Abs.1 Nr. 3 JGG – hinsichtlich seiner Beweiskraft fragwürdig. Denkbar ist beispielsweise, dass der Beschuldigte eine von ihm nicht begangene Tat gesteht und ein Diversionsverfahren auf sich nimmt, um ein sonst kompliziertes und bedrohliches Strafverfahren zu vermeiden.
Die Frage nach Schuld oder Unschuld tritt in den Hintergrund, wenn das eigentliche Ziel in der Vermeidung eines Gerichtsverfahren gesehen wird.
Die hohen Quoten der Einstellungen nach §§ 153, 153a StPO deuten daraufhin, dass in Zweifelsfällen zur Vermeidung eines sonst gebotenen Freispruchs die Einstellungsmöglichkeiten des § 153 StPO angewendet werden.
  • problematische Verhältnismäßigkeit zwischen Tat und Rechtsfolge
Eine Diversionsmaßnahme sollte den Täter nicht mehr belasten als eine hypothetische strafrechtliche Reaktion. (Blau, 1985)
Reaktionen der Diversionspolitik können dem Täter jedoch mehr Einbußen als traditionelle Sanktionen bringen. Vor allem bei Auflagen und Weisungen zu gemeinnützigen Arbeitsleistungen sind die Verhältnismäßigkeit und die Zumutbarkeit nicht immer gewahrt. Es besteht die Gefahr einer Sanktionsausweitung und Mehrbelastung durch die Diversionsprogramme.
  • Rechtstaatlich–verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Kompetenzverlagerung des Staatsanwaltes
Es wird kritisiert, dass die Kriminalitätskontrolle durch Diversionsstrategien unerlaubt vom Richter auf die Staatsanwaltschaft übertragen wird. Die Sanktionskompetenz steht dem Richter zu. Mit Blick auf das Gewaltenteilungsprinzip sind Kompetenzverlagerungen auf Staatsanwaltschaft oder gar auf Jugendamt und Polizei rechtswidrig.
Ankläger und Urteilender dürfen nicht in einer Person vereinigt sein. Auch die Frage der Kontrolle und der Rechtsanwendung bei den Opportunitätsentscheidungen der Staatsanwaltschaft wird kritisch betrachtet. Durch Auslegung der Kriterien der "geringen Schuld" und des Nichtvorliegens des "öffentlichen Interesses" an der Strafverfolgung hat sich der Beurteilungsspielraum der Staatsanwaltschaft erheblich vergrößert.
  • Gefahr einer schichtenspezifischen Ungleichbehandlung
Die Ermächtigung zu Opportunitätsentscheidungen setzt eine Durchbrechung des strafprozessualen Legalitätsprinzips voraus. Die Gefahr einer willkürlichen, missbräuchlichen oder ungleichen Anwendung des Gesetzes, ist nicht auszuschließen. Auch die Frage der Kontrolle staatsanwaltlicher Opportunität und der gleichmäßigen Rechtsanwendung stellt sich. Der Grund für diese Befürchtungen liegt zum einen in den unterschiedlichen Diversionsrichtlinien der einzelnen Bundesländer, zum anderen in den regional verschiedenen Diversionsangeboten.
Weiterhin spricht man bei der Anwendung der §§ 153, 153a StPO von der Gefahr des „Freikaufens“, das die wohlhabenden sozialen Schichten und damit die besser verdienenden Straftäter – im weißen Kragen – begünstigt.


  • sozialwissenschaftliche Einwände

Eine weitere Befürchtung kontraproduktiver Effekte von Diversionsstrategien liegt in der Gefahr der sogenannten Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle, auch „net- widening effect“ genannt. Verschiedene US- amerikanische Evaluationsstudien über unerwünschte Nebenfolgen von Diversion ergaben, dass Diversionsprogramme die Betroffenen stärker als eine förmliche Aburteilung stigmatisieren können. (Blau, 1987) Darüberhinaus führt Diversion häufig zu einer Ausweitung sozialer Kontrolle und einer qualitativen Intensivierung des strafrechtlichen Zugriffs. Mit pädagogischer Intention werden neue Maßnahmen angeboten, die die Justiz verhängen kann. Tatverdächtige, für die anderenfalls keine Reaktionsmöglichkeiten vorhanden gewesen wären, können sanktioniert werden. Diversionsprojekte haben nur dort ihre Berechtigung, wo sie nachweislich an die Stelle schwerwiegender Eingriffe in das Leben der Bestraften treten und keine Sanktionsverschärfung an anderer Stelle zur Folge haben.


  • konservative oder „neo-klassizistische“ Einwände

Zu den Einwänden der "neo- konservativen" Kreise gehört, dass sie Diversion, insbesondere das schlichte, ohne weitere Interventionen erfolgende Einstellungsverfahren, eine Schwächung der Generalprävention mit sich bringt. Dadurch ist die Rechtstreue der Bevölkerung, der Rechtsgüterschutz, die Rechtssicherheit und die Verdeutlichung der Norm in Gefahr.

Literatur

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http://www.fh-merseburg.de/~hfischer/Publikationen/Ladendiebstahl.htm

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