Broken Windows

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Einleitung

Unter dem Schlagwort „Broken Windows“ haben die us-amerikanischen Sozialforscher James Q. Wilson und George L. Kelling im Jahre 1982 das eingängige Bild der zerbrochenen Fensterscheibe geprägt, die sofort repariert werden müsse, um weitere Zerstörung und in der Folge den Niedergang von Stadtvierteln und schwere Kriminalität zu verhindern. In einer Art ursächlicher Abfolge seien Unordnung und Kriminalität in einer community unentwirrbar miteinander verknüpft. Auf der Grundlage dieser These wurde das New Yorker Polizeimodell „Zero Tolerance“ entwickelt. Es sieht unter anderem vor, aus Gründen der Kriminalprävention frühzeitig und rigoros auch gegen Bagatellkriminalität und kleinste Ordnungsverstöße vorzugehen.


Geschichte

Zimbardos Versuch

1969 unternahm der Psychologe Philip G. Zimbardo folgendes Experiment: Er stellte versuchsweise zwei Autos ab, eines in der Bronx in New York City, das andere in Palo Alto, einer eher beschaulichen Kleinstadt Kaliforniens. Er schraubte die Nummernschilder ab, öffnete die Motorhauben und beobachtete, was geschah. In der Bronx machte sich am helllichten Tag schon nach zehn Minuten eine Familie –Mutter, Vater und 8-jähriger Sohn- über das Auto her. Binnen sechsundzwanzig Stunden war es durch weitere Personen völlig ausgeschlachtet worden und wurde anschließend weiter demoliert. Innerhalb von drei Tagen war das Fahrzeug nur noch eine zerschlagene Masse Metalls, in und auf der Passanten ihren Müll abluden. Demgegenüber stand der Wagen in Palo Alto auch nach einer Woche noch unberührt da. Als es zu regnen begann, schloss sogar ein Passant die Motorhaube. Daraufhin schlugen Zimbardo und seine Mitarbeiter mit einem Vorschlaghammer eine Scheibe ein. Dies hatte zur Folge, dass kurz darauf Passanten die Zerstörer anfeuerten und mitmachten. In der folgenden Nacht schlugen junge Männer weiter auf den Wagen ein, so dass er schließlich zerstört auf dem Dach lag.

Kelling und Wilsons Broken-Windows-Theorie

Kelling und Wilson veröffentlichten im Jahr 1982 in der Zeitschrift „The Atlantic Monthly“ die „Broken-Windows-Theory“. Bei der Darstellung griffen sie auf den Versuch Zimbardos zurück und führten ihn als experimentellen Beleg für Richtigkeit ihrer Argumentation an. Nach Wilson und Kelling bewirken sechs Faktoren den Niedergang einer Gemeinde und das Ansteigen der Kriminalität. Es sind dies (1.) der physische Verfall der Umgebung, (2.) das Auftreten fremder und ungebetener Personen mit einem unerwünschten Verhalten und (3.) Furcht der Bürger vor Kriminalität, insbesondere Gewaltkriminalität. Physischer Verfall lockt ungebetene Personen an, für die die Zeichen des Verfalls signalisieren, dass eine Kontrolle ihres Verhaltens in dieser Gegend nicht stattfindet oder zumindest eingeschränkt ist. Das Auftreten der Personen bewirkt Furcht bei den Bürgern, die sich (4.) zurückziehen und so eine tatsächliche Reduktion der Kontrolle verursachen. Diese verminderte Kontrolle erleichtert (5.) die Begehung von Straftaten. Der Anstieg der Kriminalität erhöht (6.) die Verbrechensfurcht und begünstigt weiter den Rückzug der „anständigen“ Bürger. Die Bevölkerung in einer bestimmten Gegend wird dadurch weiter ersetzt und zwar zu Ungunsten einer sozial stabilen Nachbarschaft.


Nach Kelling und Wilson sind Unordnung und Kriminalität einer Gemeinde ursächlich miteinander verknüpft. Ein zerbrochenes Fenster in einem Gebäude, das nicht repariert wird, zieht innerhalb kurzer Zeit die Zerstörung weiterer Fenster nach sich. Die gilt sowohl für gehobene Nachbarschaftsgegenden als auch für heruntergekommene. Ein nicht wieder in Stand gesetztes Fenster ist ein Zeichen dafür, dass an diesem Ort niemand daran Anstoß nimmt. Folge solch sorglosen Verhaltens ist jedoch ist nicht nur die vergleichsweise harmlose Zerstörung von Fensterscheiben, sondern im Ergebnis der Einzug von Schwerkriminalität.

Innerhalb dieser Theorie gibt es mehrere Rückkopplungseffekte zwischen bestimmten Aspekten. Diese machen deutlich, dass die Zunahme von Zeichen physischens Verfalls innerhalb eines Viertels dort zu einem stetigen Anstieg von abweichendem Verhalten und Kriminalität führt.

Ein fataler, sich selbst verstärkender Rückkopplungseffekt besteht zum Beispiel zwischen abweichendem Verhalten bzw. Kriminalität, Kriminalitätsfurcht, Rückzug der Bevölkerung und informeller Kontrolle. Hierbei führt eine Zunahme von abweichendem bzw. kriminellem Verhalten zu einer Zunahme der Kriminalitätsfurcht, die wiederun den Rückzug der "anständigen" Bevölkerung verstärkt, was wiederum dazu führt, dass das Ausmaß der informellen Kontrolle sinkt und dadurch die Kriminalität wiederum ansteigt. M.a.W. "explodiert" die Kriminalität in diesem Viertel immer mehr, weil sich die Bevölkerung aus Furcht in den Wohnungen zurückzieht, dann aus dem Viertel fortzieht und stattdessen Mindheiten aller Art -Drogenabhängige, "Aussteiger", sozial Schwache- zuziehen.

Ein weiterer Rückkopplungseffekt ist darin zu sehen, dass eine sinkende informelle soziale Kontrolle durch die Bewohner einer Viertels zum Anstieg des physischen Verfalls eines Viertels führt, was wiederum die Kriminalität verstärkt.

Wilson und Kelling gehören im Hinblick auf ihre theoretische Ausrichtung zu den sog. "new realists", die davon ausgehen, dass die Entdeckungs- und Sanktionswahrscheinlichkeit sowie die Sanktionskosten einen Einfluss auf abweichendes Verhalten haben. Um abweichendes und kriminelles Verhalten zu reduzieren, müssen demzufolge durch entsprechendes Handeln der Polizei Entdeckungs- und Sanktionswahrscheinlichkeit sowie die Sanktionskosten erhöht werden. Erklärtes Ziel eines kriminalpolitischen Programms und der polizeilichen Praxis muss es sein, ein soziales Klima zu erzeugen, in dem Ordnung und Normvertrauen wieder hergestellt sind und sich niemand mehr unsicher fühlt. Als geeignete polizeiliche Maßnahme wird beispielsweise der Ersatz motorisierter Polizisten durch Fußstreifen angeführt. So kann innerhalb einer Gemeinde für Ordnung gesorgt werden. Personen, die das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung beeinträchtigen, können direkt in die Schranken verwiesen werden. Hierzu gehören nicht nur kriminelle oder gewalttätige Personen, sondern auch solche mit schlechtem Ruf, lärmender Aufdringlich- oder Unberechenbarkeit wie Bettler, Betrunkene, Süchtige, randalierende Jugendliche, Prostituierte, Herumhängende und psychische Kranke.

Brattons Zero-Tolerance-Modell

Im Jahr 1994 berief sich der Polizeichef von New York, William Bratton, unter dem damaligen republikanischen Bürgermeister Rudolph Giuliani auf die Theorie der Broken Windows. Die von ihm entwickelte Polizeistrategie bestand aus einer rigorosen "Null Toleranz" gegenüber den vielen kleinen Belästigungen und Vergehen in der Öffentlichkeit durch das Absenken der polizeilichen Eingriffsschwelle gegenüber diesem Verhalten.

Dies geschah vor dem Hintergrund einer exorbitant hohen Kriminalitätsrate, einer weit über dem amerikanischen Durchschnitt liegenden Mord- und Totschlagsrate und –u. a.- der Häufung alltäglicher Normübertritte und einer zunehmenden Vermüllung und Verschmutzung es öffentlichen Raumes sowie der U-Bahn. Das Programm führte zu einem umfassenden Aktionsplan, der erklärtermaßen darauf abzielte, den öffentlichen Raum zurückzuerobern und das in der Unwirtlichkeit der Stadt verloren gegangene Gefühl von Sicherheit wieder herzustellen. So wurde zunächst die Polizei personell aufgestockt und die Beförderung leistungsabhängig gestaltet. Die Polizei führte häufige Fußpatrouillen durch und schritt hierbei konsequent gegen einzelne Verhaltensauffälligkeiten ein. Trinken in der Öffentlichkeit wurde ebenso unterbunden oder eingeschränkt wie das Ansprechen von Personen an Bushaltestellen; Fremde, die keinen Aufenthaltsgrund nachweisen konnten, hatten das Gebiet sofort zu verlassen. In das Visier dieser Strategie gerieten so alle Arten realer oder symbolischer Regelverletzungen wie Schwarzfahren, Vandalismus, öffentliches Urinieren, Lärmbelästigungen, aggressives gegebenenfalls auch sonstiges Betteln, öffentlicher Rauschgiftkonsum, Graffiti, unverlangtes Scheibenwischen an Kraftfahrzeugen, das Schlafen auf Bänken oder in Hauseingängen. Eine große Zahl an cleaners entfernten regelmäßig Graffiti von den U-Bahn-Waggons; danach fuhren stets Bewacher mit.

Auswirkungen des New Yorker Polizeimodells

Die Kriminalitätsrate in New York ging unter Bratton tatsächlich zurück, insbesondere sank die Zahl der Gewaltverbrechen. Die Anzahl zum Beispiel der Raubüberfälle sank um 64 %, die der gesamten Straftaten um 75%. Die Polizei konnte sich zudem in vormals gemiedene Stadtteile vorwagen. Die völlig heruntergekommene U-Bahn war im Großen und Ganzen ein sicheres und wieder benutzbares Verkehrsmittel geworden. Auch der Central Park konnte wieder gefahrloser aufgesucht werden. Schattenseiten dieses Konzepts waren indes eine Vielzahl skandalöser Übergriffe durch Polizeibeamte. Unter anderem wurden abgelegene Winkel durch unbefugtes Betreten gesichert. Schwarzfahrer wurden demonstrativ und medienwirksam in Handfesseln abführt.


Bedeutung und Tragweite des Konzepts

Die Maßnahmen des Zero-Tolerance-Konzepts erscheinen nicht neu. Sie kommen eher wie eine Neuauflage bekannter Law-und-Order-Forderungen daher. So wird tatsächlich auch bei hiesigen aktuellen Debatten über neue Konzepte in der Sicherheitspolitik angesichts steigender Kriminalitätszahlen -je nach politischer Ausrichtung- immer wieder überlegt, nach dem Vorbild der New Yorker Polizei gegenüber Regelverstößen unabhängig von ihrem Schweregrad weniger Toleranz zu zeigen als bisher und und jede Unordnung im öffentlichen Raum abzustellen.

Kritische Stimmen in der Literatur

Gegen solche Bestrebungen wurden in der einschlägigen Literatur zumeist kritische Beiträge veröffentlicht. Vielfach findet sich der Hinweis, dass es keinen empirischen Beleg für die Theorie der Broken Windows gebe; das Zimbardo -Experiment sei jedenfalls nicht repräsentativ. Auch berücksichtige bisher keine deutsche Studie neben individuellen Prädikatoren auch sozialräumliche Kontextvariablen im Rahmen einer Mehrebenenanalyse.


Laue (1999, S. 280 f.) weist überdies darauf hin, dass Zimbardo selbst aus seinem Experiment weitaus diffenziertere Schlussfolgerungen gezogen habe als Kelling und Willson dies getan hätten. Nach Zimbardo reichten die releaser cues, also die Hinweise, dass das Auto von seinem Besitzer aufgegeben worden sei, für Palo Alto im Gegensatz zu New York nicht aus, um Passanten zu Plünderungen und Vandalismus zu motivieren. Notwendig zur Initiierung solcher Vandalismusakte sei an erster Stelle ein Klima der Anonymität und erst an zweiter Stelle releaser cues. Wo -wie in Palo Alto- ein Klima der Anonymität nicht herrsche, seien weitaus deutlichere releaser cues notwendig. Wichtiger sei aber, dass die auslösende Anonymität geschaffen werde, etwa durch eine große Menschenmenge oder den Schutz der Nacht.

Außerdem gehe die Broken-Windows-Theorie davon aus, dass nach Zerstörung eines Teils weitere Teile, also etwa alle Autos in einer Straße, zerstört würden. Das Zimbardo-Experiment habe aber lediglich gezeigt, dass nur das eine, offenbar verlassene Auto zerstört worden sei und eben nicht auch noch ein benachbartes Fahrzeug (S. 282).


Laue (1999, S. 278) und Volkmann (1999, S. 226) merken an, dass das Konzept der Broken Windows auf die Behandlung von Symptomen setze und dadurch eine Veränderung des Zustandes der Gemeinschaft erwarte. Das Neue hierin bestehe nicht so sehr darin, gegen Unordnung vorzugehen. Bemerkenswert sei vielmehr einerseits die Konsequenz, mit der dies gerade auch bei kleineren Regelverletzungen geschehe und andererseits der Gesamtzusammenhang, in den dieses Durchgreifen eingebunden werde: Wer gegen das Schwarzfahren vorgeht, verhindert damit zuletzt auch Raubüberfälle.


Volkmann (1999, S. 227 f.), Hess (2004, S. 89 ff.) und Walter (1998, S. 357 f.) erläutern, dass in den USA bereits seit 1993 sinkende Kriminalitätszahlen verzeichnet worden seien. Es handele sich also um ein nationales Phänomen, das nicht unbedingt auf die damalige örtliche Sicherheitpolitik zurückzuführen sei. Man müsse hier bezüglich New York auch Alternativerklärungen überprüfen. Genannt werden z.B. demographische Veränderungen, Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, Veränderungen auf dem Drogenmarkt, eine hohe Einsperrungsrate, private Sicherungsmaßnahmen und die Reform eines zuvor korrupten und verwahrlosten Polizeiapparats.


Was die Debatte in Deutschland anbelangt, nach dem Vorbild der Zero Tolerance vorzugehen, um den Anfängen zu wehren, vertritt Kühne (2002, S. 20 f.) die Ansicht, dass es dessen nicht bedürfe. Es genüge vielmehr, sich auf das gute, alte Legalitätsprinzip zu berufen. Zudem verkenne eine solche Diskussion, dass die Verfahrenswirklichkeit seit jeher vom Opportunitätsprinzip regiert werde. Würden die Staatsanwaltschaften nicht rund 60% aller Verfahren einstellen, wäre die Justiz im Strafrechtsbereich schon längst zusammengebrochen. Schließlich müsse man bei derartigen Debatten auch immer im Auge haben, dass in New York selbst nach dem Rückgang der Kriminalitätszahlen Zustände bestünden, die bei uns als überaus besorgniserregend angesehen würden. Selbst nach Halbierung der Rate der Tötungsdelikte in New York sei diese immer noch 15-fach höher als der entsprechende deutsche Wert.

Literatur

  • Hess, Henner: Broken Windows, ZStW 116, 66-110.
  • Jung, Heike: Kriminalsoziologie, 2005.
  • Kühne, Hans-Heiner: Gegenstand und Reichweite von Präventionskonzepten, DRiZ 2002, 18-27.
  • Kunz, Karl-Ludwig: Kriminologie, 4. Auflage, 2004.
  • Laue, Christian: Anmerkung zu Broken Windows, MSchrKrim 1999, 277-290.
  • Linssen, Ruth und Pfeiffer, Hartmut: Strategieüberlegungen zu Kriminalprävention und Medienarbeit, Kriminalistik 2006, 659-664.
  • Lüdemann, Christian: Benachteiligte Wohngebiete, lokales Sozialkapital und "Disorder", MSchrKrim 2005, 240-256.
  • Volkmann, Uwe: Broken Windows, Zero Tolerance und das deutsche Ordnungsrecht, NVwZ 1999, 225-232.
  • Walter, Michael: "New York" und "Broken Windows": Zeit zum Umdenken im Jugendstrafrecht?, DRiZ 1998, 354-360.
  • Wilson, James und Kelling, George: Broken Windows, KJ 1996, 121-137.

Weblinks