Bindungstheorie

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John C. Bowlby (1907-1990), eigentlich aus der Psychoanalyse kommend, entwickelte aus Erkenntnissen seiner klinischen Arbeit in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Theorie der Bindung. Diese Theorie wurde in der Folge von einen großen Zahl an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter verfolgt; die bekanntesten sind aus der ersten Zeit Mary Ainsworth und Mary Main; in Deutschland waren Klaus und Karin Grossmann Schüler von Bowlby.

Die Bindungstheorie besagt, dass Menschen - aber nicht nur Menschen, sondern auch viele Säugetiere - ein verhaltensbiologisch begründetes Bindungssystem besitzen, das bei Gefahr aktiviert wird. Gefahr kann z.B. eine akute Verletzung sein, Angst vor etwas und insbesondere auch die Trennung von einer als vital bedeutsam erlebten Versorgungsperson. Besonders kleine Kinder sind auf eine zuverlässig verfügbare Versorgungsperson angewiesen, um ihr so aktiviertes System wieder zu beruhigen. An eine solche zuverlässig verfügbare Versorgungsperson entwickelt das Kind - auf Grundlage komplexer Interaktionsstrukturen mit zahlreichen sich wechselseitig verstärkenden Signalen schon in der frühen Säuglingszeit - eine sogenannte Bindung. Bindungspersonen werden so in der Regel Mutter und Vater, öfter aber auch Erzieherin, Tagesmutter o.ä. Man nimmt an, dass ein Kind mehrere, aber nicht sehr viele Bindungspersonen haben kann; ob es eine Hierarchie von Bindungspersonen gibt, wird in der Literatur unterschiedlich diskutiert.

Eine Person wird dann vom Kind als zuverlässige Bindungsperson erlebt, wenn sie feinfühlig und prompt auf kindliche Bedürfnisse reagiert: Das bedeutet sowohl, zuverlässig zur Stelle zu sein, wenn das Bindungssystem aktiviert ist, als auch dem Kind Freiraum zu Exploration und Entwicklung zu lassen, wenn keine Gefahr besteht (sogenannter "circle of security"). Je nachdem, wie gut die Bindungsperson diesen - individuell unterschiedlich ausgeprägten - Entwicklungsbedürfnissen gerecht wird, kann sich die Bindung zwischen Kind und Versorgungsperson auch unterschiedlich gestalten: Unterschieden werden bei Kindern sichere und unsichere (unsicher-vermeidend oder unsicher-ambivalent) Bindungen sowie gestörte Bindungen (Brisch unterscheidet sieben Formen gestörter Bindung). Diagnostiziert werden zusätzlich Desorganisationsmuster von Bindung, die selbst nicht als Bindungsrepräsentation angesehen werden.

Die Bindungstheorie ist durch verschiedene, speziell zu ihrer Überprüfung entwickelte Diagnosemethoden ("Fremde Situation", Geschichtenergänzungsverfahren, Bindungsinterview für Zehnjährige, Child Attachment Interview, Adult Attachment Interview u.a.) in verschiedenen Kulturen und zum Teil in Längsschnittstudien (eine der längsten die noch laufende Bielefelder Längsschnittstudie von Grossmann & Grossmann) untersucht worden. Es haben sich fast überall ähnliche Verteilungen gefunden: 50-60& aller untersuchten Kinder weisen eine Repräsentation sicherer Bindung auf, etwa 30-40% sind unsicher-vermeidend und etwa 10-20% unsicher-ambivalent (das Desorganisationsmuster wurde ggf. jeweils zusätzlich codiert). Die Erforschung von Bindungsrepräsentationen ist relativ aufwändig: die genannten Verfahren müssen alle individuell mit Probanden durchgeführt werden und erfordern zudem ein ausgiebiges Training der Testdurchführenden.

Es gibt sowohl aus Richtung der Bindungstheorie empirische Befunde, die auf die Kriminologie verweisen können, als auch umgekehrt aus der Kriminologie Theorien, die auf die Bindungstheorie verweisen:

Auf Seiten der Bindungstheorie sind es Ergebnisse der Längsschnittstudien und hier besonders die Ergebnisse zu den Bindungsstörungen: Kinder mit Bindungsstörungen haben u.a. ein erhöhtes Risiko (weiterer) behandlungsbedürftiger Verhaltensauffälligkeiten (auch: erhöhte Aggressivität), eine schlechtere Altersgruppeneinbindung und geringere Chancen auf einen erfolgreichen Schulabschluss als Altersgleiche mit sicherer Bindung. Sie weisen eine Reihe auch körperlich nachweisbarer Besonderheiten auf (z.B. veränderte Stresshormonausschüttungen); ihre Copingstrategien in belastenden Situationen sind weniger flexibel und weniger angepasst. Die Hypothese liegt nahe, dass diese Kinder in kritischen Lebenssituationen leichter Verhalten entwickeln könnten, das als kriminell bezeichnet wird. Während demgegenüber die sichere Bindung jedenfalls als Ressource eines Kindes bei der Bewältigung kritischer Lebensereignisse gewertet werden kann, ist das Risikopotential der unsicheren Bindungsrepräsentationen nicht eindeutig.

Auf Seiten der Kriminologie arbeiten Theorien mit der Annahme, dass Bindung in der Lage sei, ein Individuum von kriminellem Handeln abzuhalten (Hirschis "social bonds", zu denen er auch "attachment" rechnet). Hirschi und Gottfredson gehen in ihrer General Theory of Crime davon aus, dass vor allem "parenting" geeignet sei, die "criminology" des Kindes so einzudämmen, dass es zu keinem kriminellen Verhalten kommt. Auch hier lässt sich annehmen, dass Operationalisierungen des "parenting"-Begriffs nicht ohne Aspekte elterlichen Bindungsverhaltens auskommen können.


Literatur: Brisch, Karl-Heinz: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart 1999 Brisch, Karl-Heinz / Hellbrügge, Theodor (Hrsg.): Bindung und Trauma. Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Stuttgart 2003 Gloger-Tippelt, Gabriele: Bindung im Erwachsenenalter. Ein Handbuch für Forschung und Praxis. Bern 2001