Beccaria-Falle: Unterschied zwischen den Versionen

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So plädierte z.B. Cesare Beccaria (1764) für die Abschaffung der Todesstrafe nicht mit dem Argument von deren Inhumanität, sondern unter Hinweis dafuf, dass die Ersetzung der Todesstrafe durch lebenslange »Strafknechtschaft« geeignet sei, die Qualen des Täters bedeutend zu verlängern und so eine erheblich größere Abschreckungswirkung zu entfalten.  
So plädierte z.B. Cesare Beccaria (1764) für die Abschaffung der Todesstrafe nicht mit dem Argument von deren Inhumanität, sondern unter Hinweis dafuf, dass die Ersetzung der Todesstrafe durch lebenslange »Strafknechtschaft« geeignet sei, die Qualen des Täters bedeutend zu verlängern und so eine erheblich größere Abschreckungswirkung zu entfalten.  


Um eine Falle handelt es sich, weil man das humanitäre Anliegen dadurch vernichtet, dass man es übergeordneten sozialen Zwecken unterordnet, hier dem Gedanken der Generalprävention.
Um eine "Falle" handelt es sich, weil man das humanitäre Anliegen dadurch vernichtet, dass man es übergeordneten sozialen Zwecken unterordnet, hier dem Gedanken der Generalprävention.





Version vom 26. Januar 2009, 13:10 Uhr

Der Ausdruck "Beccaria-Falle" - geprägt von Peter Strasser (1984: 190 ff.) - bezeichnet die unglückliche Situation, in die man bei dem Versuch gerät, einen humanen Umgang mit Straftätern (z.B. den Verzicht auf die Todesstrafe) mit Nützlichkeitsargumenten zu begründen. Strasser schreibt:

"Das Argument, zu dem man Zuflucht nimmt, lautet: Die Humanisierung des Strafvollzugs diene in erster Linie nicht dem Rechtsbrecher selbst, sondern der Gesellschaft. Dadurch jedoch wird die Solidarität konditionalisiert, was bedeutet, sie wird in Wahrheit gar nicht in Anspruch genommen. Menschliche Solidarität heißt nämlich, sich auch dann noch menschlich gegenüber dem Delinquenten zu verhalten, wenn sich mit Bezug auf den Gesellschaftsschutz daraus keine Vorteile mehr ergeben." (1)

So plädierte z.B. Cesare Beccaria (1764) für die Abschaffung der Todesstrafe nicht mit dem Argument von deren Inhumanität, sondern unter Hinweis dafuf, dass die Ersetzung der Todesstrafe durch lebenslange »Strafknechtschaft« geeignet sei, die Qualen des Täters bedeutend zu verlängern und so eine erheblich größere Abschreckungswirkung zu entfalten.

Um eine "Falle" handelt es sich, weil man das humanitäre Anliegen dadurch vernichtet, dass man es übergeordneten sozialen Zwecken unterordnet, hier dem Gedanken der Generalprävention.


Man kann sagen, dass ein größer Teil des reformerischen Diskurses, ob in der Kriminalpolitik oder in der Psychiatrie, der Beccaria-Falle nicht entgeht. Schon Cesare Lombroso, der als Begründer der modernen Kriminologie gilt, hatte kurzerhand festgestellt, »dass, wenn wir die Verantwortlichkeit einer Gruppe von Verbrechern mindern, wir damit ihr Schicksal keineswegs mildern, sondern erschweren wollen, indem wir auf ihre lebenslange Detention [Abschließung] dringen« (1894, S. XXV). Ähnlich argumentieren dann auch die Psychoanalytiker, sobald sie unter Rechtfertigungsdruck geraten. So etwa beklagen Franz Alexander und Hugo Staub in ihrem viel beachteten Buch Der Verbrecher und seine Richter, dass der Psychologe leicht in den Verdacht gerate, dem Verbrecher helfen zu wollen. Des halb wollen sie gleich eingangs beweisen, »dass das psychologische Verständnis des Kriminellen nicht in erster Reihe den Kriminellen hilft, sondern dem Interesse der Gemeinschaft dient« (1929, S. 7). Erst viel später, nämlich Anfang der 1970er Jahre, wird Tilmann Moser mit seiner Kampfschrift Repressive Kriminalpsychiatrie versuchen, den Zuwendungsüberschuss, der in aller menschlichen Solidarität enthalten ist, unter direkter Bezugnahme auf den asozialen Menschen zu rechtfertigen. Da Moser jedoch kein christlich, sondern ein freudianisch inspirierter Autor ist, bleibt ihm nichts übrig, als das Wesen der Caritas in quasi therapeutischen Begriffen zu formulieren. Fazit: Schwere Abweichung ist Symptom einer seelischen Erkrankung, die keine Ausschließung rechtfertigt.

Meine These ist dreigliedrig und lautet: (a) In der modernen säkularen Gesellschart, deren Ethik vom Christentum sowohl geprägt, als auch um strikte Autonomie bemüht ist, gewinnt das Postulat der menschlichen Solidarität besondere Bedeutung: Im Umgang mit sozialen Randgruppen, Kranken und Außenseitern wird Solidarität institutionalisiert und verrechtlicht. (b) Gleichzeitig jedoch stehen die neuen Institutionen und Rechtsverhältnisse, die einen humanen Umgang mit dem abweichenden Individuum ermöglichen sollen, unter dem Druck, ihre angestrebte Humanität auf dem Wege des sozialen Nutzens rechtfertigen zu müssen. (c) Wollen sie indessen die Nutzenbindung der Humanität (und damit die Beccaria-Falle) vermeiden, müssen sie sich bemühen, eine säkulare Begründung dafür zu liefern, warum menschliche Solidarität nicht an Bedingungen sozialer Effektivität geknüpft werden darf. Und der Kernsatz der säkularen, nicht nutzenorientierten Begründung wird stets lauten: Der abweichende Mensch ist ein Mensch wie du und ich. In der psychoanalytischen Lesart bedeutet dieser Satz, dass der Asoziale ein Mensch wie du und ich ist, weil wir alle mehr oder weniger asozial sind. Jeder von uns könnte demnach unter bestimmten Bedingungen zu einem Dieb, Mörder, Frauenschänder oder politischen Verbrecher werden, so wie jeder von uns eine Grippe bekommen kann. Das Menschenmögliche ist uns allen möglich. Dazu gehört auch die Krankheit. Der Kranke ist immer noch einer von uns. Und so lautet der Grundsatz der therapeutischen Kriminologie, dass der Asoziale kein geborener Verbrecher ist. Er ist konstitutionell nicht einer, der nicht zu uns gehört. Vielmehr ist er einer, der das Pech hatte, als Kind unter den Einfluss psychopathologischer Faktoren zu geraten, woraus sich im Laufe der Zeit, verstärkt durch ungünstige Umweltbedingungen, kriminelle Neigungen entwickelten. Deshalb kämpft die therapeutische Kriminologie gegen die traditionelle Lehre vom kriminellen Psychopathen. Letztere postulierte, dass die Psychopathie angeboren und nicht behandelbar sei; gleichzeitig bestand die Gerichtspsychiatrie auf der Zurechnungsfähigkeit des Psychopathen. Man durfte ihn bestrafen, ja sogar den härtesten Kriminalstrafen überantworten. Die therapeutische Kriminologie versucht, dieses Bild als archaisch zu desavouieren. Und in der Tat: Im Psychopathen der forensischen Medizin treffen wir auf ein Wesen, das durch einen Makel der Geburt nicht zu uns gehört; dennoch ist es ein legitimes Objekt unseres Rachebedürfnisses. Demgegenüber ist die Gestalt des Psychopathen, wie sie von der therapeutischen Kriminologie entworfen wird, ein legitimes Objekt menschlicher Solidarität. Denn diese Gestalt ist krank, weil sie das Opfer familiärer und sozialer Gewalten wurde, und ihre Krankheit ist, obwohl widerständig gegen Interventionen, im Prinzip behandelbar (vgl. dazu ausführlich Strasser 1984, S. 127 ff.). Die wichtigste soziologische Strategie zum Nachweis der These, dass der abweichende Mensch ein Mensch wie du und ich sei, bestand in dem Versuch, die folgende Annahme zu belegen: Asozialität wird weniger durch eine genuin asoziale Persönlichkeit verursacht als dadurch, dass bestimmte Personen von ihrer Umgebung als »asozial« etikettiert werden."

Einzelnachweise

(1)*Strasser, Peter (2001) Das Ende der Solidarität. Bemerkungen zum Umgang mit Außenseitern um die Jahrtausendwende. Recht & Psychiatrie Heft 2: 63-69. http://www.forensik-herne.de/html/literatur/strap01a.html#oben


Literatur

  • Strasser, Peter (2001) Das Ende der Solidarität. Bemerkungen zum Umgang mit Außenseitern um die Jahrtausendwende. Recht & Psychiatrie Heft 2: 63-69.
  • Strasser, Peter (1984) Verbrechermenschen. Frankfurt/New York: Campus.