Autoritärer Staat: Unterschied zwischen den Versionen

 
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Siehe auch [[Integraler Staat]] und vor allem [[Doppelstaat]]
Über den Autoritären Staat schreibt Max Horkheimer:
Die Richtung auf den autoritären Staat war den radikalen Parteien in der bürgerlichen Ära seit jeher vorgezeichnet. In der französischen Revolution erscheint die spätere Geschichte zusammengedrängt. Robespierre hatte die Autorität im Wohlfahrtsausschuß zentralisiert, [[das Parlament zur Registrierkammer von Gesetzen herabgedrückt]]. Er hatte die Funktionen der Verwaltung und Beherrschung in der jakobinischen Parteileitung vereinigt. Der Staat regulierte die Wirtschaft. Die Volksgemeinschaft durchsetzte alle Lebensformen mit Brüderlichkeit und Denunziation. Der Reichtum war fast in die Illegalität gedrängt. Auch Robespierre und die Seinen planten, den inneren Feind zu enteignen, der wohl dirigierte Volkszorn gehörte zur politischen Maschinerie. Die französische Revolution war der Tendenz nach totalitär. Ihr Kampf gegen die Kirche entsprang nicht der Antipathie gegen die Religion, sondern der Forderung, daß auch sie der patriotischen Ordnung sich einzugliedern und zu dienen habe. Die Kulte der Vernunft und des höchsten Wesens sind wegen der Renitenz des Klerus verbreitet worden. Der »Sansculotte Jesus« kündet den nordischen Christus an. Unter den Jakobinern kam der Staatskapitalismus über die blutigen Anfänge nicht hinaus. [4] Aber der Thermidor hat nicht seine Notwendigkeit beseitigt. Sie meldet sich in den Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts stets wieder an. In Frankreich haben die konsequent liberalen Regierungen immer nur ein kurzes Leben geführt. Um der etatistischen Tendenzen von unten Herr zu werden, müßte die Bourgeoisie rasch den Bonapartismus von oben rufen. Der Regierung Louis Blancs ist es nicht besser ergangen als dem Directoire. Und seitdem in der Junischlacht einmal die Nationalwerkstätten und das Recht auf Arbeit nur durch die Entfesselung der Generäle zu unterdrücken waren, hat sich die Marktwirtschaft als immer reaktionärer erwiesen. Setzte [[Rousseaus Einsicht, daß die großen Unterschiede des Eigentums dem Prinzip der Nation zuwiderliefen]], schon seinen Schüler Robespierre in [[Gegensatz zum Liberalismus]], so ließ sich das spätere Wachstum der kapitalistischen Vermögen mit dem allgemeinen Interesse nur noch im nationalökonomischen Kolleg zusammenbringen. Unter den Bedingungen der großen Industrie ging dann der Kampf darum, wer das Erbe der Konkurrenzgesellschaft antritt. Die hellsichtigen Lenker des Staates erfuhren nicht weniger als die Massen hinter den extremen Parteien, Arbeiter und ruinierte Kleinbürger, daß sie erledigt war. Die dunkle Beziehung von Lassalle, dem Begründer der deutschen sozialistischen Massenpartei, und Bismarck, dem Vater des deutschen Staatskapitalismus war symbolisch. Beide steuerten zur staatlichen Kontrolle hin. Regierungen und oppositionelle Parteibürokratien von rechts und links wurden je nach ihrer Stellung im Gesellschaftsprozeß [[auf irgend eine Form des autoritären Staats]] verwiesen. [[Für die Individuen freilich ist es entscheidend, welche Gestalt er schließlich annimmt. Arbeitslose, Rentner, Geschäftsleute, Intellektuelle erwarten Leben oder Tod, je nachdem ob Reformismus, Bolschewismus oder Faschismus siegt]].
Die Richtung auf den autoritären Staat war den radikalen Parteien in der bürgerlichen Ära seit jeher vorgezeichnet. In der französischen Revolution erscheint die spätere Geschichte zusammengedrängt. Robespierre hatte die Autorität im Wohlfahrtsausschuß zentralisiert, [[das Parlament zur Registrierkammer von Gesetzen herabgedrückt]]. Er hatte die Funktionen der Verwaltung und Beherrschung in der jakobinischen Parteileitung vereinigt. Der Staat regulierte die Wirtschaft. Die Volksgemeinschaft durchsetzte alle Lebensformen mit Brüderlichkeit und Denunziation. Der Reichtum war fast in die Illegalität gedrängt. Auch Robespierre und die Seinen planten, den inneren Feind zu enteignen, der wohl dirigierte Volkszorn gehörte zur politischen Maschinerie. Die französische Revolution war der Tendenz nach totalitär. Ihr Kampf gegen die Kirche entsprang nicht der Antipathie gegen die Religion, sondern der Forderung, daß auch sie der patriotischen Ordnung sich einzugliedern und zu dienen habe. Die Kulte der Vernunft und des höchsten Wesens sind wegen der Renitenz des Klerus verbreitet worden. Der »Sansculotte Jesus« kündet den nordischen Christus an. Unter den Jakobinern kam der Staatskapitalismus über die blutigen Anfänge nicht hinaus. [4] Aber der Thermidor hat nicht seine Notwendigkeit beseitigt. Sie meldet sich in den Revolutionen des neunzehnten Jahrhunderts stets wieder an. In Frankreich haben die konsequent liberalen Regierungen immer nur ein kurzes Leben geführt. Um der etatistischen Tendenzen von unten Herr zu werden, müßte die Bourgeoisie rasch den Bonapartismus von oben rufen. Der Regierung Louis Blancs ist es nicht besser ergangen als dem Directoire. Und seitdem in der Junischlacht einmal die Nationalwerkstätten und das Recht auf Arbeit nur durch die Entfesselung der Generäle zu unterdrücken waren, hat sich die Marktwirtschaft als immer reaktionärer erwiesen. Setzte [[Rousseaus Einsicht, daß die großen Unterschiede des Eigentums dem Prinzip der Nation zuwiderliefen]], schon seinen Schüler Robespierre in [[Gegensatz zum Liberalismus]], so ließ sich das spätere Wachstum der kapitalistischen Vermögen mit dem allgemeinen Interesse nur noch im nationalökonomischen Kolleg zusammenbringen. Unter den Bedingungen der großen Industrie ging dann der Kampf darum, wer das Erbe der Konkurrenzgesellschaft antritt. Die hellsichtigen Lenker des Staates erfuhren nicht weniger als die Massen hinter den extremen Parteien, Arbeiter und ruinierte Kleinbürger, daß sie erledigt war. Die dunkle Beziehung von Lassalle, dem Begründer der deutschen sozialistischen Massenpartei, und Bismarck, dem Vater des deutschen Staatskapitalismus war symbolisch. Beide steuerten zur staatlichen Kontrolle hin. Regierungen und oppositionelle Parteibürokratien von rechts und links wurden je nach ihrer Stellung im Gesellschaftsprozeß [[auf irgend eine Form des autoritären Staats]] verwiesen. [[Für die Individuen freilich ist es entscheidend, welche Gestalt er schließlich annimmt. Arbeitslose, Rentner, Geschäftsleute, Intellektuelle erwarten Leben oder Tod, je nachdem ob Reformismus, Bolschewismus oder Faschismus siegt]].


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Die Möglichkeit heute ist nicht geringer als die Verzweiflung. Der Staatskapitalismus als jüngste Phase hat mehr Kräfte in sich, die wirtschaftlich zurückgebliebenen Territorien der Erde zu organisieren, als die vorhergehende, deren maßgebende Repräsentanten ihre verminderte Kraft und Initiative zur Schau stellen. Sie werden von der Angst bestimmt, ihre profitable soziale Stellung zu verlieren. Sie wollten gerne alles tun, um sich die Hilfe des zukünftigen Faschismus nicht auf die Dauer zu verscherzen. In ihm erscheint ihnen die regenerierte Gestalt der Herrschaft, sie ahnen die Kraft, die bei ihnen am Versiegen ist. Der seit Jahrhunderten akkumulierte Reichtum und die ihm zugehörige diplomatische Erfahrung wird darauf verwandt, daß die legitimen Beherrscher Europas seine Vereinigung selbst kontrollieren und den integralen Etatismus noch einmal draußen halten. Sowohl durch solche Rückfälle wie durch Versuche, wirkliche Freiheit herzustellen, kann die Ära des autoritären Staats unterbrochen werden. Diese Versuche, die ihrem Wesen nach keine Bürokratie dulden, können nur von den Vereinzelten kommen. Vereinzelt sind alle. Die verdrossene Sehnsucht der atomisierten Massen und der bewußte Wille der Illegalen weist in dieselbe Richtung. Genau so weit wie ihre Unbeirrbarkeit ging auch in früheren Revolutionen der kollektive Widerstand, der Rest war Gefolgschaft. Es führt eine Linie von den linken Gegnern des Etatismus Robespierres zum Komplott der Gleichen unter dem Directoire. Solange die Partei noch eine Gruppe, ihren antiautoritären Zielen noch nicht entfremdet ist, solange die Solidarität nicht durch Gehorsam ersetzt wird, solange sie die Diktatur des Proletariats noch nicht mit der Herrschaft der gerissensten Parteitaktiker verwechselt, wird ihre Generallinie von eben den Abweichungen bestimmt, von denen sie als herrschende Clique sich freilich rasch zu säubern weiß. Solange die Avantgarde ohne periodische Säuberungsaktionen zu handeln vermag, lebt mit ihr die Hoffnung auf den klassenlosen Zustand. Die zwei Phasen, in denen nach dem Wortlaut der Tradition er sich verwirklichen soll, haben mit der Ideologie, die heute der Verewigung des integralen Etatismus dient, nur wenig zu tun. Weil die unbegrenzte Menge der Konsum- und Luxusmittel noch als ein Traum erscheint, soll die Herrschaft, die bestimmt war, in der ersten Phase abzusterben, sich versteifen dürfen. Gesichert durch schlechte Ernten und Wohnungsnot verkündet man, die Regierung der Geheimpolizei werde verschwinden, wenn das Schlaraffenland verwirklicht sei. Engels ist dagegen ein Utopist, er setzt die Vergesellschaftung und das Ende der Herrschaft in eins: »Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft - ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in die gesellschaftlichen Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein.« [8] Er hat nicht daran geglaubt, daß die unbegrenzte Steigerung der materiellen Produktion die Voraussetzung einer menschlichen Gesellschaft und die klassenlose Demokratie erst dann erreichbar sei, wenn die ganze Erde vollends mit Radios und Traktoren bevölkert ist. Die Praxis hat die Theorie zwar nicht widerlegt, aber interpretiert. Eingeschlafen sind die Feinde der Staatsgewalt, nur nicht von selbst. Mit jedem Stück erfüllter Planung sollte ursprünglich ein Stück Repression überflüssig werden. Statt dessen hat sich in der Kontrolle der Pläne immer mehr Repression auskristallisiert. Ob die Produktionssteigerung den Sozialismus verwirklicht oder liquidiert, kann nicht abstrakt entschieden werden.
Die Möglichkeit heute ist nicht geringer als die Verzweiflung. Der Staatskapitalismus als jüngste Phase hat mehr Kräfte in sich, die wirtschaftlich zurückgebliebenen Territorien der Erde zu organisieren, als die vorhergehende, deren maßgebende Repräsentanten ihre verminderte Kraft und Initiative zur Schau stellen. Sie werden von der Angst bestimmt, ihre profitable soziale Stellung zu verlieren. Sie wollten gerne alles tun, um sich die Hilfe des zukünftigen Faschismus nicht auf die Dauer zu verscherzen. In ihm erscheint ihnen die regenerierte Gestalt der Herrschaft, sie ahnen die Kraft, die bei ihnen am Versiegen ist. Der seit Jahrhunderten akkumulierte Reichtum und die ihm zugehörige diplomatische Erfahrung wird darauf verwandt, daß die legitimen Beherrscher Europas seine Vereinigung selbst kontrollieren und den integralen Etatismus noch einmal draußen halten. Sowohl durch solche Rückfälle wie durch Versuche, wirkliche Freiheit herzustellen, kann die Ära des autoritären Staats unterbrochen werden. Diese Versuche, die ihrem Wesen nach keine Bürokratie dulden, können nur von den Vereinzelten kommen. Vereinzelt sind alle. Die verdrossene Sehnsucht der atomisierten Massen und der bewußte Wille der Illegalen weist in dieselbe Richtung. Genau so weit wie ihre Unbeirrbarkeit ging auch in früheren Revolutionen der kollektive Widerstand, der Rest war Gefolgschaft. Es führt eine Linie von den linken Gegnern des Etatismus Robespierres zum Komplott der Gleichen unter dem Directoire. Solange die Partei noch eine Gruppe, ihren antiautoritären Zielen noch nicht entfremdet ist, solange die Solidarität nicht durch Gehorsam ersetzt wird, solange sie die Diktatur des Proletariats noch nicht mit der Herrschaft der gerissensten Parteitaktiker verwechselt, wird ihre Generallinie von eben den Abweichungen bestimmt, von denen sie als herrschende Clique sich freilich rasch zu säubern weiß. Solange die Avantgarde ohne periodische Säuberungsaktionen zu handeln vermag, lebt mit ihr die Hoffnung auf den klassenlosen Zustand. Die zwei Phasen, in denen nach dem Wortlaut der Tradition er sich verwirklichen soll, haben mit der Ideologie, die heute der Verewigung des integralen Etatismus dient, nur wenig zu tun. Weil die unbegrenzte Menge der Konsum- und Luxusmittel noch als ein Traum erscheint, soll die Herrschaft, die bestimmt war, in der ersten Phase abzusterben, sich versteifen dürfen. Gesichert durch schlechte Ernten und Wohnungsnot verkündet man, die Regierung der Geheimpolizei werde verschwinden, wenn das Schlaraffenland verwirklicht sei. Engels ist dagegen ein Utopist, er setzt die Vergesellschaftung und das Ende der Herrschaft in eins: »Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft - ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in die gesellschaftlichen Verhältnisse wird auf einem Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein.« [8] Er hat nicht daran geglaubt, daß die unbegrenzte Steigerung der materiellen Produktion die Voraussetzung einer menschlichen Gesellschaft und die klassenlose Demokratie erst dann erreichbar sei, wenn die ganze Erde vollends mit Radios und Traktoren bevölkert ist. Die Praxis hat die Theorie zwar nicht widerlegt, aber interpretiert. Eingeschlafen sind die Feinde der Staatsgewalt, nur nicht von selbst. Mit jedem Stück erfüllter Planung sollte ursprünglich ein Stück Repression überflüssig werden. Statt dessen hat sich in der Kontrolle der Pläne immer mehr Repression auskristallisiert. Ob die Produktionssteigerung den Sozialismus verwirklicht oder liquidiert, kann nicht abstrakt entschieden werden.


Das Entsetzen in der Erwartung einer autoritären Weltperiode verhindert nicht den Widerstand. Die Ausübung von Verwaltungsfunktionen durch eine Klasse oder Partei kann nach der Abschaffung jedes Privilegs durch Formen einer klassenlosen Demokratie ersetzt werden, die vor der Erhöhung von administrativen zu Machtpositionen behüten können. Wenn ehemals die Bourgeoisie ihre Regierungen durch das Eigentum bei der Stange hielt, wird in einer neuen Gesellschaft die Verwaltung nur durch unnachgiebige Selbständigkeit der Nichtdelegierten davon abzuhalten sein, in Herrschaft umzuschlagen. Die Gefolgschaften bilden schon heute für den autoritären Staat keine geringere Gefahr als die freien Arbeiter für den Liberalismus. Bankerott ist der Glaube daran, daß man etwas hinter sich hat. Ihm huldigen auch nicht wenige Marxisten. Ohne das Gefühl, mit einer großen Partei, einem allverehrten Führer, der Weltgeschichte oder wenigstens der unfehlbaren Theorie zu sein, funktionierte ihr Sozialismus nicht. Die Hingabe an marschierende Massen, die beseligte Einordnung in die Kollektivität, der ganze Philistertraum, den Nietzsches Verachtung getroffen hat, feiert bei den autoritären Jugendverbänden fröhliche Auferstehung. Die Revolution, die ein Beruf war wie die Wissenschaft, hat ins Gefängnis oder nach Sibirien geführt. Seit dem Sieg aber winkt auch eine Laufbahn, wenn nirgendwo sonst, dann wenigstens in den Parteihierarchien. Es gibt nicht bloß Professoren sondern auch Revolutionäre von Prominenz. Der publizistische Betrieb assimiliert die Revolution, indem er ihre Spitzen in die Liste der großen Namen aufnimmt. Der Vereinzelte aber, der von keiner Macht berufen und gedeckt ist, hat auch keinen Ruhm zu erwarten. Dennoch ist er eine Macht, weil alle vereinzelt sind. Sie haben keine Waffe als das Wort. Je mehr es von den Barbaren drinnen und den Kulturfreunden draußen verschachert wird, um so mehr kommt es doch wieder zu Ehren. Die ohnmächtige Äußerung im totalitären Staat ist bedrohlicher als die eindrucksvollste Parteikundgebung unter Wilhelm II. Daß die deutschen Geistigen nicht lange brauchen, um mit der fremden Sprache umzuspringen wie mit der eigenen, sobald diese ihnen die zahlenden Leser sperrt, rührt daher, daß ihnen Sprache immer schon mehr im Kampf ums Dasein als zum Ausdruck der Wahrheit diente. Im Verrat der Sprache an den Verkehr aber kündigt ihr Ernst sich aufs neue an. Es ist, als fürchteten sie, die deutsche Sprache könne sie am Ende doch weiter treiben, als ihnen mit ihrer tolerierten Existenz und den berechtigten Ansprüchen der Mäzenaten vereinbar dünkt. Die Aufklärer hatten viel weniger zu riskieren. Ihre Opposition harmonierte mit den Interessen der Bourgeoisie, die damals schon keine geringe Macht besaß. Voltaire und die Enzyklopädisten hatten ihre Beschützer. Jenseits jener Harmonie erst tat kein Minister mehr mit. Jean Meslier mußte zeit seines Lebens schweigen, und der Marquis hat das seine in Gefängnissen verbracht. Wenn aber das Wort ein Funke werden kann, so hat es heute noch nichts in Brand gesteckt. Es hat überhaupt nicht den Sinn von Propaganda und kaum den des Aufrufs. Es trachtet auszusagen, was alle wissen und zu wissen sich verbieten, es will nicht durch versierte Aufdeckung von Zusammenhängen imponieren, die nur die Mächtigen wissen. Der stellungslose Politiker der Massenpartei aber, dessen rhetorisches Pathos vom starken Arm verklungen ist, ergeht sich heute in Statistik, Nationalökonomie und inside stories. Seine Rede ist nüchtern und wohlinformiert geworden. Er behält den angeblichen Kontakt mit der Arbeiterschaft und drückt sich in Exportziffern und Ersatzstoffen aus. Er weiß es besser als der Faschismus und berauscht sich masochistisch an den Tatsachen, die ihn doch verlassen haben. Wenn man sich schon auf gar nichts Gewaltiges mehr berufen kann, muß die Wissenschaft herhalten.
[[Das Entsetzen in der Erwartung einer autoritären Weltperiode verhindert nicht den Widerstand.]] Die Ausübung von Verwaltungsfunktionen durch eine Klasse oder Partei kann nach der Abschaffung jedes Privilegs durch Formen einer klassenlosen Demokratie ersetzt werden, die vor der Erhöhung von administrativen zu Machtpositionen behüten können. Wenn ehemals die Bourgeoisie ihre Regierungen durch das Eigentum bei der Stange hielt, wird in einer neuen Gesellschaft die Verwaltung nur durch unnachgiebige Selbständigkeit der Nichtdelegierten davon abzuhalten sein, in Herrschaft umzuschlagen. Die Gefolgschaften bilden schon heute für den autoritären Staat keine geringere Gefahr als die freien Arbeiter für den Liberalismus. Bankerott ist der Glaube daran, daß man etwas hinter sich hat. Ihm huldigen auch nicht wenige Marxisten. Ohne das Gefühl, mit einer großen Partei, einem allverehrten Führer, der Weltgeschichte oder wenigstens der unfehlbaren Theorie zu sein, funktionierte ihr Sozialismus nicht. Die Hingabe an marschierende Massen, die beseligte Einordnung in die Kollektivität, der ganze Philistertraum, den Nietzsches Verachtung getroffen hat, feiert bei den autoritären Jugendverbänden fröhliche Auferstehung. Die Revolution, die ein Beruf war wie die Wissenschaft, hat ins Gefängnis oder nach Sibirien geführt. Seit dem Sieg aber winkt auch eine Laufbahn, wenn nirgendwo sonst, dann wenigstens in den Parteihierarchien. Es gibt nicht bloß Professoren sondern auch Revolutionäre von Prominenz. Der publizistische Betrieb assimiliert die Revolution, indem er ihre Spitzen in die Liste der großen Namen aufnimmt. Der Vereinzelte aber, der von keiner Macht berufen und gedeckt ist, hat auch keinen Ruhm zu erwarten. Dennoch ist er eine Macht, weil alle vereinzelt sind. Sie haben keine Waffe als das Wort. Je mehr es von den Barbaren drinnen und den Kulturfreunden draußen verschachert wird, um so mehr kommt es doch wieder zu Ehren. Die ohnmächtige Äußerung im totalitären Staat ist bedrohlicher als die eindrucksvollste Parteikundgebung unter Wilhelm II. Daß die deutschen Geistigen nicht lange brauchen, um mit der fremden Sprache umzuspringen wie mit der eigenen, sobald diese ihnen die zahlenden Leser sperrt, rührt daher, daß ihnen Sprache immer schon mehr im Kampf ums Dasein als zum Ausdruck der Wahrheit diente. Im Verrat der Sprache an den Verkehr aber kündigt ihr Ernst sich aufs neue an. Es ist, als fürchteten sie, die deutsche Sprache könne sie am Ende doch weiter treiben, als ihnen mit ihrer tolerierten Existenz und den berechtigten Ansprüchen der Mäzenaten vereinbar dünkt. Die Aufklärer hatten viel weniger zu riskieren. Ihre Opposition harmonierte mit den Interessen der Bourgeoisie, die damals schon keine geringe Macht besaß. Voltaire und die Enzyklopädisten hatten ihre Beschützer. Jenseits jener Harmonie erst tat kein Minister mehr mit. Jean Meslier mußte zeit seines Lebens schweigen, und der Marquis hat das seine in Gefängnissen verbracht. Wenn aber das Wort ein Funke werden kann, so hat es heute noch nichts in Brand gesteckt. Es hat überhaupt nicht den Sinn von Propaganda und kaum den des Aufrufs. [[Es trachtet auszusagen, was alle wissen und zu wissen sich verbieten, es will nicht durch versierte Aufdeckung von Zusammenhängen imponieren, die nur die Mächtigen wissen.]] Der stellungslose Politiker der Massenpartei aber, dessen rhetorisches Pathos vom starken Arm verklungen ist, ergeht sich heute in Statistik, Nationalökonomie und inside stories. Seine Rede ist nüchtern und wohlinformiert geworden. Er behält den angeblichen Kontakt mit der Arbeiterschaft und drückt sich in Exportziffern und Ersatzstoffen aus. Er weiß es besser als der Faschismus und berauscht sich masochistisch an den Tatsachen, die ihn doch verlassen haben. Wenn man sich schon auf gar nichts Gewaltiges mehr berufen kann, muß die Wissenschaft herhalten.


Wem an der menschlichen Einrichtung der Welt liegt, der kann auf keine Appellationsinstanz blicken: weder auf bestehende noch auf zukünftige Macht. Die Frage, was »man« mit der Macht anfangen soll, wenn man sie einmal hat, dieselbe Frage, die für die Bürokraten der Massenpartei höchst sinnvoll war, verliert im Kampf gegen sie ihre Bedeutung. Die Frage setzt den Fortbestand dessen voraus, was verschwinden soll; die Verfügungsgewalt über fremde Arbeit. Wenn die Gesellschaft in Zukunft wirklich nicht mehr durch vermittelten oder unmittelbaren Zwang funktionieren, sondern aus Übereinkunft sich selbst bestimmen wird, so lassen die Ergebnisse der Übereinkunft sich nicht theoretisch vorwegnehmen. Entwürfe für die Besorgung der Wirtschaft über das hinaus, was im Staatskapitalismus schon vorliegt, können einmal nützlich werden. Das Nachdenken heute, das der veränderten Gesellschaft dienen soll, darf aber nicht überspringen, daß in der klassenlosen Demokratie das Ausgedachte weder durch Gewalt noch durch Routine vorweg zu oktroyieren ist, sondern seiner Substanz nach der Übereinkunft selber vorbehalten bleibt. Dies Bewußtsein wird keinen, der zur Möglichkeit der veränderten Welt steht, davon abhalten, zu überlegen, wie die Menschen am raschesten ohne Bevölkerungspolitik und Strafjustiz, ohne Musterbetriebe und unterdrückte Minoritäten leben können. Zwar ist es fraglicher, als neuhumanistische Deutsche sich ahnen lassen, ob die Absetzung der autoritären Bürokratien mit Volksfesten der Rache verbünden sein wird. Wenn aber die Entmachtung der Herrschenden sich nochmals unter Terrorakten vollzieht, so werden die Vereinzelten leidenschaftlich darauf dringen, daß sie ihre Bestimmung erfüllt. Nichts auf der Erde vermag länger die Gewalt zu rechtfertigen, als daß es ihrer bedarf, das Ende der Gewalt herbeizuführen. Wenn die Gegner damit recht haben, daß nach dem Sturz des faschistischen Terrorapparates nicht bloß für einen Augenblick sondern für die Dauer das Chaos anbräche, bis ein neuer an seine Stelle tritt, so ist die Menschheit verloren. Die Behauptung, daß ohne neue autoritäre Bürokratie die Maschinen, die Wissenschaft, die technischen und administrativen Methoden, die gesamte Versorgung, zu der man im autoritären Staat gekommen ist, vernichtet würden, ist ein Vorwand. Ihre erste Sorge, wenn sie an die Freiheit denken, ist die neue Strafjustiz, nicht ihre Abschaffung. »Die Massen«, heißt es in einem Pamphlet mit >Schulungsmaterial<, »werden die Unterdrücker anstelle der politischen Gefangenen in die Gefängnisse setzen.« Fachleute der Repression werden sich jedenfalls in Mengen zur Verfügung stellen. Ob sich das wieder verfestigt, hängt von den Nichtfachleuten ab. Um so bescheidener kann die Rolle der Spezialisten sein, als die Produktionsweise gar nicht so sehr anders weitergehen muß als die im integralen Etatismus schon entwickelter Der Staatskapitalismus erscheint zuweilen fast als Parodie der klassenlosen: Gesellschaft. Der Anzeichen freilich, daß auch seine zentralistische Produktionsweise aus technischen Gründen sich überlebt, sind flicht wenige. Wenn kleine Einheiten gegenüber der zentralen Instanz in der modernen industriellen Produktion und Strategie an Bedeutung zunehmen, so daß Elitearbeiter von der zentralistischen Spitze immer besser gefüttert werden müssen, so ist dies der sichtbare Ausdruck einer allgemeinen ökonomischen Umwälzung. Die Degradierung der Einzelnen zu bloßen Reaktionszentren, die auf alles ansprechen, bereitet zugleich ihre Emanzipation vom zentralen Kommando vor.
Wem an der menschlichen Einrichtung der Welt liegt, der kann auf keine Appellationsinstanz blicken: weder auf bestehende noch auf zukünftige Macht. Die Frage, was »man« mit der Macht anfangen soll, wenn man sie einmal hat, dieselbe Frage, die für die Bürokraten der Massenpartei höchst sinnvoll war, verliert im Kampf gegen sie ihre Bedeutung. Die Frage setzt den Fortbestand dessen voraus, was verschwinden soll; die Verfügungsgewalt über fremde Arbeit. [[Wenn die Gesellschaft in Zukunft wirklich nicht mehr durch vermittelten oder unmittelbaren Zwang funktionieren, sondern aus Übereinkunft sich selbst bestimmen wird, so lassen die Ergebnisse der Übereinkunft sich nicht theoretisch vorwegnehmen.]] Entwürfe für die Besorgung der Wirtschaft über das hinaus, was im Staatskapitalismus schon vorliegt, können einmal nützlich werden. Das Nachdenken heute, das der veränderten Gesellschaft dienen soll, darf aber nicht überspringen, daß in der klassenlosen Demokratie das Ausgedachte weder durch Gewalt noch durch Routine vorweg zu oktroyieren ist, sondern seiner Substanz nach der Übereinkunft selber vorbehalten bleibt. Dies Bewußtsein wird keinen, der zur Möglichkeit der veränderten Welt steht, davon abhalten, zu überlegen, wie die Menschen am raschesten ohne Bevölkerungspolitik und Strafjustiz, ohne Musterbetriebe und unterdrückte Minoritäten leben können. Zwar ist es fraglicher, als neuhumanistische Deutsche sich ahnen lassen, ob die Absetzung der autoritären Bürokratien mit Volksfesten der Rache verbünden sein wird. Wenn aber die Entmachtung der Herrschenden sich nochmals unter Terrorakten vollzieht, so werden die Vereinzelten leidenschaftlich darauf dringen, daß sie ihre Bestimmung erfüllt. Nichts auf der Erde vermag länger die Gewalt zu rechtfertigen, als daß es ihrer bedarf, das Ende der Gewalt herbeizuführen. Wenn die Gegner damit recht haben, daß nach dem Sturz des faschistischen Terrorapparates nicht bloß für einen Augenblick sondern für die Dauer das Chaos anbräche, bis ein neuer an seine Stelle tritt, so ist die Menschheit verloren. Die Behauptung, daß ohne neue autoritäre Bürokratie die Maschinen, die Wissenschaft, die technischen und administrativen Methoden, die gesamte Versorgung, zu der man im autoritären Staat gekommen ist, vernichtet würden, ist ein Vorwand. Ihre erste Sorge, wenn sie an die Freiheit denken, ist die neue Strafjustiz, nicht ihre Abschaffung. »Die Massen«, heißt es in einem Pamphlet mit >Schulungsmaterial<, »werden die Unterdrücker anstelle der politischen Gefangenen in die Gefängnisse setzen.« Fachleute der Repression werden sich jedenfalls in Mengen zur Verfügung stellen. Ob sich das wieder verfestigt, hängt von den Nichtfachleuten ab. Um so bescheidener kann die Rolle der Spezialisten sein, als die Produktionsweise gar nicht so sehr anders weitergehen muß als die im integralen Etatismus schon entwickelter Der Staatskapitalismus erscheint zuweilen fast als Parodie der klassenlosen: Gesellschaft. Der Anzeichen freilich, daß auch seine zentralistische Produktionsweise aus technischen Gründen sich überlebt, sind flicht wenige. Wenn kleine Einheiten gegenüber der zentralen Instanz in der modernen industriellen Produktion und Strategie an Bedeutung zunehmen, so daß Elitearbeiter von der zentralistischen Spitze immer besser gefüttert werden müssen, so ist dies der sichtbare Ausdruck einer allgemeinen ökonomischen Umwälzung. Die Degradierung der Einzelnen zu bloßen Reaktionszentren, die auf alles ansprechen, bereitet zugleich ihre Emanzipation vom zentralen Kommando vor.


Auch die perfekten Waffen, die der Bürokratie zur Verfügung stehen, vermöchten die Veränderung nicht dauernd abzuwehren, hätten sie nicht eine andere als bloß unmittelbare Kraft. In Angst hat sich das Individuum historisch konstituiert. Es gibt eine Verstärkung der Angst über die Todesangst hinaus, vor der es sich wieder auflöst. Die Vollendung der Zentralisation in Gesellschaft und Staat treibt das Subjekt zu seiner Dezentralisation. Sie setzt die Lähmung fort, in die der Mensch durch seine steigende Entbehrlichkeit, durch seine Trennung von der produktiven Arbeit, durch das dauernde Zittern um die erbärmliche Notstandshilfe im Zeitalter der großen Industrie bereits geraten war. Der Gang des Fortschritts erscheint den Opfern so, als käme es für ihre Wohlfahrt auf Freiheit und Unfreiheit kaum mehr an. Es geht der Freiheit wie nach Valery der Tugend. Sie wird nicht bestritten, sondern vergessen und allenfalls einbalsamiert wie die Parole der Demokratie nach dem letzten Krieg. Man ist sich darüber einig, daß das Wort Freiheit nur mehr als Phrase gebraucht werden darf, sie ernst nehmen gilt als utopisch. Einmal half die Kritik an der Utopie dazu, daß der Gedanke der Freiheit der ihrer Verwirklichung blieb. Heute wird die Utopie diffamiert, weil keiner mehr so recht die Verwirklichung will. Sie erdrosseln die Phantasie, der schon Bebel nicht hold war. [9] Wenn in Reichweite der Gestapo der Schrecken wenigstens auch subversive Tendenzen zeitigt, so unterhält er jenseits der Grenzen einen heillosen Respekt vor der Ewigkeit des Zwangs. Anstelle des antisemitischen, unnachgiebigen, aggressiven Staatskapitalismus wagt man gerade noch, sich einen zu erträumen, der von Gnaden der älteren Weltmächte das Volk verwaltet. »Es gibt keinen Sozialismus, der anders als durch autoritäre Mittel realisierbar wäre«, ist der Schluß, zu dem der Nationalökonom Pirou gelangt. [10] » In unserer Epoche wird die Autorität vom Staat im Rahmen der Nation ausgeübt. Der Sozialismus kann somit, auch wenn er internationalistisch ausgerichtet ist, in seinem Aktionsprogramm heute einzig national sein.« Nicht anders als der Beobachter denken die unmittelbar Interessierten. Wie ehrlich sie die »Arbeiterdemokratie« im Sinn haben mögen, die diktatorischen Maßnahmen, die deren Sicherung dienen sollen, die »Ersetzung« des heutigen Apparats durch den zukünftigen, der Glaube an die »Führungsqualität« der Partei, kurz die Kategorien der wahrscheinlich notwendigen Repression decken so genau den realistischen Vordergrund, daß das Bild am Horizont, auf das die sozialistischen Politiker hinweisen, als Fata Morgana verdächtig ist. Wie jene liberalen Kritiker des Strafvollzugs, die eine bürgerliche Revolution ins Justizministerium beruft, gewöhnlich nach zwei Jahren müde werden, weil an der Macht der Provinzbeamten ihre Kräfte erlahmen, scheinen die Politiker und Intellektuellen durch die Zähigkeit des Bestehenden zermürbt zu sein. Vom Faschismus und mehr noch vom Bolschewismus wäre zu lernen gewesen, daß eben, was der nüchternen Sachkenntnis verrückt erscheint, zuweilen das Gegebene ist und die Politik, nach einem Hitlerschen Wort, nicht die Kunst des Möglichen sondern des Unmöglichen. Zudem ist, worum es geht, lang nicht so wider die Erwartung, wie man gern glauben machte. Damit die Menschen einmal solidarisch ihre Angelegenheiten regeln, müssen sie sich weit weniger verändern, als sie vom Faschismus geändert wurden. Es wird sich zeigen, daß die bornierten und verschlagenen Wesen, die heute auf menschliche Namen hören, bloße Fratzen sind, bösartige Charaktermasken, hinter denen eine bessere Möglichkeit verkommt. Sie zu durchdringen muß die Vorstellung eine Kraft besitzen, die ihr freilich der Faschismus entzogen hat. Sie wird von der Anstrengung absorbiert, deren jeder einzelne bedarf, um weiter mitzumachen. Aber die materiellen Bedingungen sind erfüllt. Bei aller Notwendigkeit von Übergang, Diktatur, Terrorismus, Arbeit, Opfer hängt das andere einzig noch vom Willen der Menschen ab. Was vor wenigen Jahrzehnten offiziell als unüberwindliche technische oder organisatorische Schranke verkündet wurde, ist, für jeden sichtbar, durchbrochen. Daher wurden die simplen Wirtschaftslehren, die so kurze Beine hatten, durch philosophische Anthropologien abgelöst. Wenn man Strümpfe aus der Luft machen kann, muß man schon zum Ewigen im Menschen greifen, nämlich psychologische Wesenheiten als Invarianten verklären, um die Ewigkeit der Herrschaft darzutun.
Auch die perfekten Waffen, die der Bürokratie zur Verfügung stehen, vermöchten die Veränderung nicht dauernd abzuwehren, hätten sie nicht eine andere als bloß unmittelbare Kraft. In Angst hat sich das Individuum historisch konstituiert. Es gibt eine Verstärkung der Angst über die Todesangst hinaus, vor der es sich wieder auflöst. Die Vollendung der Zentralisation in Gesellschaft und Staat treibt das Subjekt zu seiner Dezentralisation. Sie setzt die Lähmung fort, in die der Mensch durch seine steigende Entbehrlichkeit, durch seine Trennung von der produktiven Arbeit, durch das dauernde Zittern um die erbärmliche Notstandshilfe im Zeitalter der großen Industrie bereits geraten war. Der Gang des Fortschritts erscheint den Opfern so, als käme es für ihre Wohlfahrt auf Freiheit und Unfreiheit kaum mehr an. Es geht der Freiheit wie nach Valery der Tugend. Sie wird nicht bestritten, sondern vergessen und allenfalls einbalsamiert wie die Parole der Demokratie nach dem letzten Krieg. Man ist sich darüber einig, daß das Wort Freiheit nur mehr als Phrase gebraucht werden darf, sie ernst nehmen gilt als utopisch. Einmal half die Kritik an der Utopie dazu, daß der Gedanke der Freiheit der ihrer Verwirklichung blieb. Heute wird die Utopie diffamiert, weil keiner mehr so recht die Verwirklichung will. Sie erdrosseln die Phantasie, der schon Bebel nicht hold war. [9] Wenn in Reichweite der Gestapo der Schrecken wenigstens auch subversive Tendenzen zeitigt, so unterhält er jenseits der Grenzen einen heillosen Respekt vor der Ewigkeit des Zwangs. Anstelle des antisemitischen, unnachgiebigen, aggressiven Staatskapitalismus wagt man gerade noch, sich einen zu erträumen, der von Gnaden der älteren Weltmächte das Volk verwaltet. »Es gibt keinen Sozialismus, der anders als durch autoritäre Mittel realisierbar wäre«, ist der Schluß, zu dem der Nationalökonom Pirou gelangt. [10] » In unserer Epoche wird die Autorität vom Staat im Rahmen der Nation ausgeübt. Der Sozialismus kann somit, auch wenn er internationalistisch ausgerichtet ist, in seinem Aktionsprogramm heute einzig national sein.« Nicht anders als der Beobachter denken die unmittelbar Interessierten. Wie ehrlich sie die »Arbeiterdemokratie« im Sinn haben mögen, die diktatorischen Maßnahmen, die deren Sicherung dienen sollen, die »Ersetzung« des heutigen Apparats durch den zukünftigen, der Glaube an die »Führungsqualität« der Partei, kurz die Kategorien der wahrscheinlich notwendigen Repression decken so genau den realistischen Vordergrund, daß das Bild am Horizont, auf das die sozialistischen Politiker hinweisen, als Fata Morgana verdächtig ist. Wie jene liberalen Kritiker des Strafvollzugs, die eine bürgerliche Revolution ins Justizministerium beruft, gewöhnlich nach zwei Jahren müde werden, weil an der Macht der Provinzbeamten ihre Kräfte erlahmen, scheinen die Politiker und Intellektuellen durch die Zähigkeit des Bestehenden zermürbt zu sein. Vom Faschismus und mehr noch vom Bolschewismus wäre zu lernen gewesen, daß eben, was der nüchternen Sachkenntnis verrückt erscheint, zuweilen das Gegebene ist und die Politik, nach einem Hitlerschen Wort, nicht die Kunst des Möglichen sondern des Unmöglichen. Zudem ist, worum es geht, lang nicht so wider die Erwartung, wie man gern glauben machte. Damit die Menschen einmal solidarisch ihre Angelegenheiten regeln, müssen sie sich weit weniger verändern, als sie vom Faschismus geändert wurden. Es wird sich zeigen, daß die bornierten und verschlagenen Wesen, die heute auf menschliche Namen hören, bloße Fratzen sind, bösartige Charaktermasken, hinter denen eine bessere Möglichkeit verkommt. Sie zu durchdringen muß die Vorstellung eine Kraft besitzen, die ihr freilich der Faschismus entzogen hat. Sie wird von der Anstrengung absorbiert, deren jeder einzelne bedarf, um weiter mitzumachen. Aber die materiellen Bedingungen sind erfüllt. Bei aller Notwendigkeit von Übergang, Diktatur, Terrorismus, Arbeit, Opfer hängt das andere einzig noch vom Willen der Menschen ab. Was vor wenigen Jahrzehnten offiziell als unüberwindliche technische oder organisatorische Schranke verkündet wurde, ist, für jeden sichtbar, durchbrochen. Daher wurden die simplen Wirtschaftslehren, die so kurze Beine hatten, durch philosophische Anthropologien abgelöst. Wenn man Strümpfe aus der Luft machen kann, muß man schon zum Ewigen im Menschen greifen, nämlich psychologische Wesenheiten als Invarianten verklären, um die Ewigkeit der Herrschaft darzutun.


Daß selbst die Feinde des autoritären Staats Freiheit nicht mehr denken können, zerstört die Kommunikation. Sprache ist fremd, in der man nicht seinen eigenen Impuls erkennt oder die ihn nicht entzündet. Darum gibt die nichtkonformistische Literatur der Bourgeoisie ihr heute nicht einmal mehr ein Ärgernis; sie hat Tolstoi auf den Tonfilm und Maupassant in den Drugstore gebracht. Nicht bloß die Kategorien, in denen die Zukunft darzustellen, auch die, in denen die Gegenwart zu treffen ist, sind ideologisch geworden. So unmittelbar ist die Verwirklichung schon heute spruchreif, daß man nicht mehr sprechen kann. Mit Recht erweckt der Gedanke, der schwer nutzbar zu machen und zu etikettieren ist, stärkeres Mißtrauen bei den Instanzen von Wissenschaft und Literatur als das Bekenntnis selbst zu einer marxistischen Doktrin. Die Geständnisse, zu denen man ihn unter dem Vorfaschismus durch gütliches Zureden verlocken möchte, um ihn nachher für immer los zu sein - heraus mit der Sprache! - wären nutzlos auch für die Beherrschten. Die Theorie hat kein Programm für die nächste Wahlkampagne, ja noch nicht einmal eines für den Wiederaufbau Europas, den die Fachmänner schon besorgen werden. Der Bereitschaft zum Gehorsam, die sich auch an das Denken heranmacht, vermag sie nicht zu dienen. Bei aller Eindringlichkeit, mit der sie den Gang des gesellschaftlichen Ganzen bis zu den feinsten Differenzen zu verfolgen sucht, kann sie den einzelnen die Form ihrer Resistenz gegen das Unrecht nicht vorschreiben. Denken selbst ist schon ein Zeichen der Resistenz, die Anstrengung, sich nicht mehr betrügen zu lassen. Denken steht nicht gegen Befehl und Gehorsam schlechthin, sondern setzt sie jeweils zur Verwirklichung der Freiheit in Beziehung. Gefährdet ist diese Beziehung. Das auszudrücken, was den Revolutionären in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, sind soziologische und psychologische Begriffe zu oberflächlich: die Intention auf Freiheit ist beschädigt, ohne die weder Erkenntnis noch Solidarität noch ein richtiges Verhältnis zwischen Gruppe und Führer denkbar ist. Wenn es kein Zurück zum Liberalismus gibt, so scheint die richtige Form der Aktivität die Förderung des Staatskapitalismus zu sein. Daran mitzuarbeiten, ihn auszubreiten und überall bis zu den avanciertesten Formen weiter zu treiben, biete den Vorzug der Fortschrittlichkeit und alle Gewähr des Erfolges, die man für die politique scientifique nur wünschen mag. Weil das Proletariat von den alten Mächten nichts mehr zu erwarten habe, bleibe nichts übrig als der Bund mit den neuen. Damit, daß die Planwirtschaft, die die Führer und Väter der Völker machen, von der sozialistischen weniger entfernt ist als der Liberalismus, soll das Bündnis von Führern und Proletariern begründet werden. Es sei sentimental, der Erschlagenen wegen sich dauernd negativ zum Staatskapitalismus zu stellen. Die Juden seien schließlich meistens Kapitalisten gewesen, und die kleinen Nationen hätten keine Existenzberechtigung mehr. Der Staatskapitalismus sei das heute Mögliche. Solange das Proletariat seine eigene Revolution nicht mache, sei ihm und seinen Theoretikern keine Wahl gelassen, als dem Weltgeist auf dem Weg zu folgen, den er nun einmal gewählt hat. Solche Stimmen, an denen es nicht fehlt, sind nicht die dümmsten, nicht einmal die unehrlichsten. Soviel ist wahr, daß mit dem Rückfall in die alte Privatwirtschaft der ganze Schrecken wieder von vorne unter veränderter Firma beginnen würde. Aber das historische Schema solcher Raisonnements kennt nur die Dimension, in der sich Fortschritt und Rückschritt abspielt, es sieht vom Eingriff der Menschen ab. Es veranschlagt sie bloß als das, was sie im Kapitalismus sind: als soziale Größen, als Sachen. Solang die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.
[[Daß selbst die Feinde des autoritären Staats Freiheit nicht mehr denken können, zerstört die Kommunikation.]] Sprache ist fremd, in der man nicht seinen eigenen Impuls erkennt oder die ihn nicht entzündet. Darum gibt die nichtkonformistische Literatur der Bourgeoisie ihr heute nicht einmal mehr ein Ärgernis; sie hat Tolstoi auf den Tonfilm und Maupassant in den Drugstore gebracht. Nicht bloß die Kategorien, in denen die Zukunft darzustellen, auch die, in denen die Gegenwart zu treffen ist, sind ideologisch geworden. So unmittelbar ist die Verwirklichung schon heute spruchreif, daß man nicht mehr sprechen kann. Mit Recht erweckt der Gedanke, der schwer nutzbar zu machen und zu etikettieren ist, stärkeres Mißtrauen bei den Instanzen von Wissenschaft und Literatur als das Bekenntnis selbst zu einer marxistischen Doktrin. Die Geständnisse, zu denen man ihn unter dem Vorfaschismus durch gütliches Zureden verlocken möchte, um ihn nachher für immer los zu sein - heraus mit der Sprache! - wären nutzlos auch für die Beherrschten. Die Theorie hat kein Programm für die nächste Wahlkampagne, ja noch nicht einmal eines für den Wiederaufbau Europas, den die Fachmänner schon besorgen werden. Der Bereitschaft zum Gehorsam, die sich auch an das Denken heranmacht, vermag sie nicht zu dienen. Bei aller Eindringlichkeit, mit der sie den Gang des gesellschaftlichen Ganzen bis zu den feinsten Differenzen zu verfolgen sucht, kann sie den einzelnen die Form ihrer Resistenz gegen das Unrecht nicht vorschreiben. [[Denken selbst ist schon ein Zeichen der Resistenz, die Anstrengung, sich nicht mehr betrügen zu lassen.]] Denken steht nicht gegen Befehl und Gehorsam schlechthin, sondern setzt sie jeweils zur Verwirklichung der Freiheit in Beziehung. Gefährdet ist diese Beziehung. Das auszudrücken, was den Revolutionären in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, sind soziologische und psychologische Begriffe zu oberflächlich: die Intention auf Freiheit ist beschädigt, ohne die weder Erkenntnis noch Solidarität noch ein richtiges Verhältnis zwischen Gruppe und Führer denkbar ist. Wenn es kein Zurück zum Liberalismus gibt, so scheint die richtige Form der Aktivität die Förderung des Staatskapitalismus zu sein. Daran mitzuarbeiten, ihn auszubreiten und überall bis zu den avanciertesten Formen weiter zu treiben, biete den Vorzug der Fortschrittlichkeit und alle Gewähr des Erfolges, die man für die politique scientifique nur wünschen mag. Weil das Proletariat von den alten Mächten nichts mehr zu erwarten habe, bleibe nichts übrig als der Bund mit den neuen. Damit, daß die Planwirtschaft, die die Führer und Väter der Völker machen, von der sozialistischen weniger entfernt ist als der Liberalismus, soll das Bündnis von Führern und Proletariern begründet werden. Es sei sentimental, der Erschlagenen wegen sich dauernd negativ zum Staatskapitalismus zu stellen. Die Juden seien schließlich meistens Kapitalisten gewesen, und die kleinen Nationen hätten keine Existenzberechtigung mehr. Der Staatskapitalismus sei das heute Mögliche. Solange das Proletariat seine eigene Revolution nicht mache, sei ihm und seinen Theoretikern keine Wahl gelassen, als dem Weltgeist auf dem Weg zu folgen, den er nun einmal gewählt hat. Solche Stimmen, an denen es nicht fehlt, sind nicht die dümmsten, nicht einmal die unehrlichsten. Soviel ist wahr, daß mit dem Rückfall in die alte Privatwirtschaft der ganze Schrecken wieder von vorne unter veränderter Firma beginnen würde. Aber das historische Schema solcher Raisonnements kennt nur die Dimension, in der sich Fortschritt und Rückschritt abspielt, es sieht vom Eingriff der Menschen ab. Es veranschlagt sie bloß als das, was sie im Kapitalismus sind: als soziale Größen, als Sachen. Solang die Weltgeschichte ihren logischen Gang geht, erfüllt sie ihre menschliche Bestimmung nicht.




== Weblinks ==
== Aus: ==


*[http://projekte.free.de/a2k2/mainpage.php?cat=archiv&id=1489 Horkheimer, Max (1987): Autoritärer Staat. In: Horkheimer, Max: "Dialektik der Aufklärung" und Schriften 1940 - 1950. Herausgegeben von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt/Main: Fischer (Gesammelte Schriften, 5), S. 293-319]
*[http://projekte.free.de/a2k2/mainpage.php?cat=archiv&id=1489 Horkheimer, Max (1987): Autoritärer Staat. In: Horkheimer, Max: "Dialektik der Aufklärung" und Schriften 1940 - 1950. Herausgegeben von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr. Frankfurt/Main: Fischer (Gesammelte Schriften, 5), S. 293-319]
*[http://komakasten.blogsport.eu/2014/03/23/kontext/ Form & Wahn Blog zum Staatsbegriff des Organisationsreferats von Dutschke/Krahl 1967]
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