Attentat auf Zar Alexander II.

Am 13.03.1881 kam es in St. Petersburg zur Tötung des damals Russland regierenden Alexander II. Der Zar wurde vor seiner Kutsche stehend von einer Wurfbombe tödlich getroffen. Der wenige Stunden später seinen Verletzungen erliegende Attentäter Ignaty Grinevitsky (auch: Grinewitzki oder Grinerickij) war ein Mitglied der Narodnaja Wolja.

Bombenattentat auf Zar Alexander II. gemalt von G. Broling 1881

Hintergrund

Das zaristisch-autokratische Regime Russlands hatte sich bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein mit Ausnahme des so genannten Dekabristenaufstandes 1825 keiner echten revolutionären Bewegung erwehren müssen. Vor allem auf dem Lande und in den Dörfern fehlte eine politisch-oppositionelle Basis, die sich zu einem Aufstand gegen ihren Herrscher hätte bewegen lassen können. 90% der russischen Bevölkerung waren Bauern und zudem Analphabeten. Die aus Westeuropa von wenigen Intellektuellen hinüber transportieren Ideologien (Darwinismus, Positivismus, Sozialismus, Anarchismus) blieben der Mehrheit verschlossen und waren zudem zu heterogen, um eine einheitliche und organisierte Gegenpartei zur Regierung zu formieren.

Dem misslungene Attentat auf den Petersburger Polizeipräsidenten General Trepov 1878 durch Wera Sassulitsch (das erstmals zu einer Form des öffentlichen Drucks auf die Zarenriegierung führte) folgten jedoch eine ganze Reihe an Anschlägen und Attentaten, Demonstrationen und Streiks, organisiert und herbeigeführt durch die bisher immer vereinzelt agierenden Mitglieder der 1879 gegründeten Bewegung der Narodnaja Wolja ("Volkswille" oder "Volksfreiheit"), welche sich nun jedoch vor allem in den Großstädten Russlands nach jahrzehntelanger Inkubationszeit als echte revolutionäre Bewegung gegen die Regierung Alexander II. etablierten. So kam es im August 1879 zur offizielle Gründung eines Exekutivkomitees des Volkswillens mit dem Ziel des organisierten Terrors. Die Aufgabe des Komitees, welches sich aus dem linken Flügel der Narodniki formiert hatte, bestand aus der Observierung und anschließenden Tötung hochrangiger Mitglieder der Zarenregierung sowie der Polizei und der Justiz, begleitet durch propagierte Forderungen der Narodnaja Wolja (die Abschaffung der Alleinherrschaft des Zaren, freie und allgemeine Wahlen, eine Verfassung sowie Meinungs-, Presse- und Gewissensfreiheit).

Aufgrund der strukturellen und technologischen Rückständigkeit Russlands nach der Niederlage im Krimkrieg sowie aufgrund des aus der fortdauernden Leibeigenschaft der Bauern resultierenden Mangels an Arbeitskräften im Industriesektor, setzte Alexander gegen große Widerstände der russischen Aristokratie weitreichende Reformen in Verwaltung, Bildung und der zarischen Armee durch. Dennoch war er oberste Zielscheibe der Narodnaja Wolja, denen es seltsam erschien, "die Diener zu töten, (...) und den Herrn unangetastet zu lassen" (Figner, S.88), denn zum Einen fürchteten die Sozialrevolutionäre gerade aufgrund der Reformbemühungen des Zaren eine Verzögerung des revolutionären Umsturzes und zum Anderen sollte mit der Ermordung des obersten Repräsentanten des Zarenregimes deren entschlossene Bekämpfung verdeutlicht werden. Als Alexander dies 1879 erstmals am eigenen Leibe erfur, reagierte er augenblicklich und repressiv (Diktatorische Vollmachten der Militärgouverneure, Häuserüberwachungen, strenge Nachrichtenzensur, Spitzeldienste, administrative Verhaftungen und Deportationen sowie Aufhebung aller akademischen Freiheiten der Universität von St. Petersburg). Es folgten Mitgliederzuläufe in der revolutionären Bewegung und schließlich weitere Attentatsversuche auf den Zaren selbst, die im März 1881 ihr erfolgreiches Ende fanden.

Das "Todesurteil"

Am 26. August (7. September) 1879 kam es innerhalb des Exekutivkomitees der Narodnaja Wolja zu einer förmlichen Gerichtssitzung, bei der Alexander II. in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. Am darauffolgenden Tag wurde das Todesurteil publiziert.

Vorangegangene Attentatsversuche

Schon am 14.04.1879 und damit vor der Gründung des gut organisierten Exekutivkomitees hatte es einen ersten Attentatsversuch durch die Narodnaja Wolja auf den Zaren gegeben. Alexander Solowjow hatte vor dem Winterpalast fünf Schüsse auf den spazieren gehenden Zaren abgefeuert, allerdings nicht getroffen. Solowjow war daraufhin verhaftet und gehängt worden, worauf das bereits erwähnte Todesurteil und zwei weitere missglückte Attentatsversuche auf den Zaren durch die neue Exekutivinstitution der Narodnaja Wolja folgte:

Am 01.12.1879 wurde auf der Bahnlinie Kursk-Moskau mit Hilfe einer unterirdisch gelegten Mine ein Teil des kaiserlichen Zuges in die Luft gejagt. Die Attentäter hatten sich eine Hütte in der Nähe eines Vorstadtbahnhofes gemietet, sich zum Teil auch Stellen als Bahnwärter verschafft, und in den Nachtstunden mehrere Stollen unter die Gleise gegraben. Ungeklärt ist, ob die Mine zu spät gezündet wurde oder aber der Waggon mit dem Zaren an einen anderen als zuvor angenommenen Abschnitt des Zuges gehängt worden war. Jedenfalls überlebte Alexander das Attentat unversehrt - die Sappeure hatten nur den Gepäckwagen erwischt.

Am 17.02.1880 explodierte im Winterpalais des Zaren ca. fünfzig Kilo Sprengstoff, tötete zehn Wachsoldaten und zerstörte den kaiserlichen Speisesaal. Der Attentäter Stepan Chalturin hatte sich Monate zuvor als Tischler und Lackierer eine Anstellung in der St. Petersburger Winterressidenz des Zaren verschafft, und nach und nach Sprengstoff in sein Kellergemach, einige Stockwerke direkt unter dem Speisesaal liegend, geschmuggelt. Da sich jedoch einer der kaiserlichen Gäste, Fürst Alexander von Serbien, verspätete, hatte das Abendessen zur Zeit der Explosion noch nicht begonnen. Alexander II. war noch einmal dem Tod entronnen.

Möglicherweise fanden in der Folgezeit weitere Sprengstoffattentatsversuche auf verschiedenen Reisewegen des Zaren statt. Anhand von Vera Figners Aufzeichnungen lassen sich allein sieben der Narodnaja Wolja zugeschreiben, insgesamt wurden jedoch etwa zwanzig Versuche unternommen, den Zaren zu töten. Erst die Entwicklung der Wurfbombe brachte jedoch den Erfolg.

Verlauf des Attentats

Am 13.03.1881 passierte die kaiserliche Kutsche den Katharinenkanal von St. Petersburg. Der Zar hatte verschiedene Truppeneinheiten besichtigt und war auf dem Rückweg zum Winterpalais. Dieses Mal war die Narodnaja Wolja besser vorbereitet. In wochenlangen Versuchen hatten die Revolutionäre den Umgang mit der Wurfbombe erlernt. Am Tag des Attentats waren alle denkbaren Fahrwege des kaiserlichen Wagens berücksichtigt und durch Bombenwerfer besetzt worden. Zwei am Kanal postierte Frauen signalisierten den Attentätern durch Schwenken ihrer Schleier die Ankunft des Wagens. Der erste dieser Attentäter, Ryssakow, warf daraufhin seine Bombe und zerschmetterte die Kutsche. Mehrere Kosaken der Leibgarde wurden getötet, Alexander blieb jedoch am Leben und stieg aus der Kutsche, um ihnen beizustehen und sich Ryssakow vorführen zu lassen. Zeugen zufolge soll er gegenüber einem heraneilenden Offizier gesagt haben: "Ich bin, Gott sei Dank, unverletzt". Wenige Sekunden später warf Ignaty Grinevitsky mit den Worten: "Es ist zu früh, Gott zu danken", die zweite Bombe, die den Zaren nun tödlich traf. Später stellte sich heraus, dass noch zwei weitere Männer namens Ivan Emelyanov und Timofej Michailow bereit gestanden hätten, den Zaren zu töten, wenn die vorherigen Bomben ihr Ziel verfehlt hätten. Während einige Quellen den augenblicklichen Tod des Zaren durch die Bombe Grinevitskys behaupten, berichten andere Autoren davon, dass Alexander II. zwar sein Bewusstsein velor, aber noch lebend in seinen Winterpalast getragen wurde und dort verblutete. Das Schicksal der Attentäter ist hingegen ausreichend belegt: Ryssakow, der durch seine eigene Bombe von der Kutsche weggeschleudert worden war, soll den Erfolg Grinevitskys mitangesehen und seine Genugtuung gegenüber dem ihn festhaltenden Soldaten ausgedrückt haben. Er, Michailow und zwei weitere Verschwörer wurden umgehend festgenommen und wenige Wochen später exekutiert, während Emelyanov entkommen konnte. Grinevitsky, der an diesem Tag die langwierige Hinrichtung des Zaren beendet und damit den Höhepunkt des Erfolges der Narodnaja Wolja verbuchen konnte, erlag indes wenige Stunden nach dem Attentat seinen Verletzungen. Zwischenzeitlich noch einmal bei Bewusstsein, soll er auf die Aufforderung, seinen Namen zu nennen, geantwortet haben: "Ich weiß es nicht".

Auswirkungen

In den Folgejahren wurde das Exekutivkomitee der Narodnaja Wolja von der Ochrana zerschlagen, ihre Mitglieder deutlich dezimiert und viele Narodniki verhaftet. So füllten sich die Gefängnisse im zaristischen Russland, eine vom Volkswillen erhoffte Revolution blieb hingegen aus. Dem Tod des russischen Herrschers folgten zwar einige Streiks und Unruhen im anschwellenden Industrieproletariat, jedoch kam es zu keinen erwähnenswerten Aufständen gegen das Regime. Im Gegenteil: Russland wurde stiller und Alexanders Nachfolger repressiver. Während in einigen Gegenden die Bauern um Alexander II. trauerten und damit die fehlende Massenbasis für eine Revolution erneut unterstrichen, zeigte der neue Zar, Alexander III., der aus Sicherheitsgründen ein Jahr verspätet gekrönt wurde, deutlich weniger Reformbereitschaft als sein Vorgänger. Die Geheim- und Spitzeldienste wurden vergrößert und erhielten mehr Machtbefugnisse; brutale Vorgehensweisen der Polizei standen an der Tagesordnung. Die von Alexander II. kurz vor seinem Tod noch unterzeichnete Einführung eines gesetzgebenden Parlamentes wurde vollständig aufgegeben und damit die Fortführung des undemokratischen Zarenregimes begründet. Auch gingen die Anschläge auf das Letzteres stark zurück: Innerhalb seiner Regierungszeit wurde nur ein einzelnes Attentat auf Alexander III. verübt. Die Attentäter, unter ihnen der Bruder Lenins, wurden alle gefasst und hingerichtet. Zwanzig Jahre lang konnte sich die Regierung relativ sicher fühlen. Erst um die Jahrhundertwende trat eine neue Generation von Revolutionären auf den Plan: Die Kampforganisation der Sozialrevolutionäre, welche schließlich jedoch kaum mehr Erfolg als die Narodniki aufweisen konnten.

International war die Tötung des Zaren jedoch ein Startschuss zu einer ganzen Reihe an Terror gegen Staatsoberhäupter und die bürgerliche Klasse der westlichen Welt. Könige und Minister wurden attackiert und getötet; in Theatern, Klubs und Luxus-Restaurants kam es zu zahlreichen Detonationen und Anschlägen auf das Bürgertum. Der Tod Alexanders II. war damit eines von mehreren Ereignissen im abklingenden 19. Jahrhunderts, welches die Vorstellung von der Möglichkeit weitreichender gesellschaftlicher und politischer Veränderungen durch einzelne, die Gesellschaft aufwiegelnde Taten inspirierte und bekräftigte. Auch wenn das Konzept Propaganda der Tat in Russland selbst kein wirkungsvolles gewesen zu sein schien, so wurde es in der internationalen, anarchistischen Bewegung noch viele Jahre lang vertreten. Das Attentat auf Zar Alexander II. kann somit als äußerst wichtiges Ereignis bezüglich der Geschichte politischer Revolution betrachtet werden.

Literatur

  • Enzensberger, Hans Magnus (1964): "Politik und Verbrechen", S.284-360. Frankfurt am Main.
  • Figner, Vera (1985): "Nacht über Rußland. Lebenserinnerungen". Berlin
  • Giterman, Valentin (1949) Geschichte Rußlands. Band 3. ...
  • Savinkov, Boris (1985): "Erinnerungen eines Terroristen". Nördlingen.
  • Gerngroß, Marcus (2008): Terrorismus im Zarenreich mit Vorbildfunktion: Die "Narodnaya Wolya". In: Alexander Straßner (Hg.): Sozialrevolutionärer Terrorismus. Theorie, Ideologie, Fallbeispiele, Zukunftsszenarien. Wiesbaden.

Weblinks