Anomie: Unterschied zwischen den Versionen

88 Bytes hinzugefügt ,  15:46, 22. Sep. 2007
K
Zeile 15: Zeile 15:
====Begriffsgeschichte====
====Begriffsgeschichte====


Der Begriff wurde durch Emile Durkheim (1858 – 1917) in die Soziologie eingeführt. In seinem Werk „La division du travail“ (1893) setzt sich Durkheim erstmalig mit dem Phänomen der Anomie als einem Zustand der sozialen Desintegration in einer zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft auseinander. Darüber hinaus untersucht er die Ursachen des Selbstmordes als einer Form abweichenden Verhaltens, die gegen soziale Normen (zumeist religiöser Art) verstößt, in seiner klassischen Studie „Der Suizid“ aus dem Jahre 1897, die von verschiedenen Autoren als „Urtext“ der Anomietheorie bezeichnet wird (Lüdemann, Ohlemacher, 2002). Er hat dabei eingehend das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinen Bedürfnissen und Zielen (oder Aspirationen) diskutiert, die in stabilen Verhältnissen durch Normen und Regeln begrenzt sind. Er betont, dass erst dann, wenn die sozialen Regeln keine Beachtung mehr finden (wenn die kollektive Ordnung zerstört oder zerrissen wird) „werden menschliche Triebe übermächtig und laufen in Zustände der Anomie“ (Durkheim). Folgen sind etwa Phänomene wie Selbstmord und Kriminalität. Durkheim unterscheidet in Blick auf die Ursachen des Selbstmordes mehrere Typen, u.a.
Der Begriff wurde durch Emile [[Durkheim]] (1858 – 1917) in die Soziologie eingeführt. In seinem Werk „La division du travail“ (1893) setzt sich [[Durkheim]] erstmalig mit dem Phänomen der Anomie als einem Zustand der sozialen Desintegration in einer zunehmend arbeitsteiligen Gesellschaft auseinander. Darüber hinaus untersucht er die Ursachen des Selbstmordes als einer Form abweichenden Verhaltens, die gegen soziale Normen (zumeist religiöser Art) verstößt, in seiner klassischen Studie „Der [[Suizid]]“ aus dem Jahre 1897, die von verschiedenen Autoren als „Urtext“ der Anomietheorie bezeichnet wird (Lüdemann, Ohlemacher, 2002). Er hat dabei eingehend das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinen Bedürfnissen und Zielen (oder Aspirationen) diskutiert, die in stabilen Verhältnissen durch Normen und Regeln begrenzt sind. Er betont, dass erst dann, wenn die sozialen Regeln keine Beachtung mehr finden (wenn die kollektive Ordnung zerstört oder zerrissen wird) „werden menschliche Triebe übermächtig und laufen in Zustände der Anomie“ ([[Durkheim]]). Folgen sind etwa Phänomene wie Selbstmord und Kriminalität. [[Durkheim]] unterscheidet in Blick auf die Ursachen des Selbstmordes mehrere Typen, u.a.
*den egoistischen Selbstmord (Fehlen sozialer Kontrolle, Verlust von Gruppenkohäsion durch arbeitsteilige Gesellschaften)
*den egoistischen Selbstmord (Fehlen sozialer Kontrolle, Verlust von Gruppenkohäsion durch arbeitsteilige Gesellschaften)
*den altruistischen Selbstmord (beruht auf starker Gruppenkohäsion: zu starke Integration des Individuums in die Gruppe, Vorrang der Gruppenwerte, starke Kontrolle, kann bei Normverstoß zu Suizid führen),
*den altruistischen Selbstmord (beruht auf starker Gruppenkohäsion: zu starke Integration des Individuums in die Gruppe, Vorrang der Gruppenwerte, starke Kontrolle, kann bei Normverstoß zu [[Suizid]] führen),
*der anomische Selbstmord (kennzeichnend etwa in Phasen der Depressionen oder der Hochkonjunktur, da in beiden Fällen die Orientierung an dem gewohnten Verhältnis von gesellschaftlichen Zielen und den Mitteln zur Erreichung dieser Ziele gestört ist. Entweder sind die Ziele wegen wirtschaftlicher Not unerreichbar oder durch Wohlstand zu schnell erreicht, so dass sie ihre handlungsorientierte Wirkung verlieren. Dies führt zu einer Desorientierung)
*der anomische Selbstmord (kennzeichnend etwa in Phasen der Depressionen oder der Hochkonjunktur, da in beiden Fällen die Orientierung an dem gewohnten Verhältnis von gesellschaftlichen Zielen und den Mitteln zur Erreichung dieser Ziele gestört ist. Entweder sind die Ziele wegen wirtschaftlicher Not unerreichbar oder durch Wohlstand zu schnell erreicht, so dass sie ihre handlungsorientierte Wirkung verlieren. Dies führt zu einer Desorientierung)


In bezug zum Phänomen Kriminalität gelangte Durkheim schon in seinen „Regeln der soziologischen Methode“ (1895) zu dem Ergebnis, dass Kriminalität kein pathologisches (krankhaftes) Phänomen ist, sondern als integrierender Bestandteil jedes gesunden Gemeinwesens eine normale (immer zu erwartende) Erscheinung darstellt. „Es gibt ... keine Gesellschaft, in der keine Kriminalität existierte“ (Schwind, 2004).<br>
In bezug zum Phänomen [[Kriminalität]] gelangte [[Durkheim]] schon in seinen „Regeln der soziologischen Methode“ (1895) zu dem Ergebnis, dass Kriminalität kein pathologisches (krankhaftes) Phänomen ist, sondern als integrierender Bestandteil jedes gesunden Gemeinwesens eine normale (immer zu erwartende) Erscheinung darstellt. „Es gibt ... keine Gesellschaft, in der keine Kriminalität existierte“ ([[Schwind]], 2004).<br>
Andere Akzente setzt Merton (zuerst 1938) bei den Merkmalen seines Anomiebegriffes. Er stellt nicht nur auf die Limitierungen zur Regelung der Bedürfnisse und Wünsche des Einzelnen und der Gruppen ab, sondern hebt vielmehr die Störung der Beziehungen zwischen den Zielen einerseits und den legitimen Mitteln zur Erreichung dieser Ziele andererseits hervor.
Andere Akzente setzt [[Merton]] (zuerst 1938) bei den Merkmalen seines Anomiebegriffes. Er stellt nicht nur auf die Limitierungen zur Regelung der Bedürfnisse und Wünsche des Einzelnen und der Gruppen ab, sondern hebt vielmehr die Störung der Beziehungen zwischen den Zielen einerseits und den legitimen Mitteln zur Erreichung dieser Ziele andererseits hervor.
Wie Durkheim entwickelt Merton auch die Grundlage für eine völlige Neubewertung der Armut in bezug auf abweichendes soziales Verhalten.<br>
Wie [[Durkheim]] entwickelt [[Merton]] auch die Grundlage für eine völlige Neubewertung der [[Armut]] in bezug auf abweichendes soziales Verhalten.<br>
Er ging bei der Entwicklung seiner Anomietheorie von der Beobachtung aus, dass es in der amerikanischen Gesellschaft ganz bestimmte Gruppen (vor allem untere soziale Schichten, die farbige Bevölkerung sowie neu eingewanderte ethnische Minderheiten) gab, die hohe Kriminalitätsraten haben, da sie sich kriminell betätigen.<br>
Er ging bei der Entwicklung seiner Anomietheorie von der Beobachtung aus, dass es in der amerikanischen Gesellschaft ganz bestimmte Gruppen (vor allem untere soziale Schichten, die farbige Bevölkerung sowie neu eingewanderte ethnische Minderheiten) gab, die hohe Kriminalitätsraten haben, da sie sich kriminell betätigen.<br>
Anomie nach Merton resultiert so vor allem aus einem Widerspruch von Sozial- und Kulturstruktur: aus dem Auseinanderklaffen von den als legitim anerkannten gesellschaftlichen Zielen und den Zugangsmöglichkeiten zu den zur Erreichung dieser Ziele erlaubten Mittel. Diese Diskrepanz fällt schichtspezifisch unterschiedlich aus:
Anomie nach [[Merton]] resultiert so vor allem aus einem Widerspruch von Sozial- und Kulturstruktur: aus dem Auseinanderklaffen von den als legitim anerkannten gesellschaftlichen Zielen und den Zugangsmöglichkeiten zu den zur Erreichung dieser Ziele erlaubten Mittel. Diese Diskrepanz fällt schichtspezifisch unterschiedlich aus:
*auf der einen Seite die von allen sozialen Schichten verinnerlichten Ansprüche der Gesellschaft bzw. Kultur
*auf der einen Seite die von allen sozialen Schichten verinnerlichten Ansprüche der Gesellschaft bzw. [[Kultur]]
*auf der anderen Seite die chancenlose Realität der Unterschichtsangehörigen, denen es an Ressourcen (Erbe, Einkommen, berufliche Stellung, politische Verfügungsmacht) mangelt, sich solche Ansprüche erfüllen zu können. Die Erklärung für diese spezifische Verteilung abweichenden Verhaltens lautet: Die Gleichheit der durch die Gesellschaft festgelegten Interessen (an einem hohen Einkommen, sozialem Ansehen, Besitz) aller in dieser Gesellschaft lebenden Personen führt bei gesellschaftlich verursachter Ungleichheit der verfügbaren Mittel dazu, dass von denjenigen Gruppen, die nicht über ausreichende konforme Mittel verfügen, auch „unerlaubte“ Mittel in Form abweichender oder krimineller Handlungen eingesetzt werden, um diese kulturell festgelegten Ziele zu verwirklichen.
*auf der anderen Seite die chancenlose Realität der Unterschichtsangehörigen, denen es an Ressourcen (Erbe, Einkommen, berufliche Stellung, politische Verfügungsmacht) mangelt, sich solche Ansprüche erfüllen zu können. Die Erklärung für diese spezifische Verteilung abweichenden Verhaltens lautet: Die Gleichheit der durch die Gesellschaft festgelegten Interessen (an einem hohen Einkommen, sozialem Ansehen, Besitz) aller in dieser Gesellschaft lebenden Personen führt bei gesellschaftlich verursachter Ungleichheit der verfügbaren Mittel dazu, dass von denjenigen Gruppen, die nicht über ausreichende konforme Mittel verfügen, auch „unerlaubte“ Mittel in Form abweichender oder krimineller Handlungen eingesetzt werden, um diese kulturell festgelegten Ziele zu verwirklichen.


Nach Merton greifen die Betroffenen, um mit dieser Streßsituation fertig zu werden, insgesamt auf eines der fünf folgenden Verhaltensmuster zurück:<br>
Nach [[Merton]] greifen die Betroffenen, um mit dieser Streßsituation fertig zu werden, insgesamt auf eines der fünf folgenden Verhaltensmuster zurück:<br>
'''Konformität''': gesellschaftliche Ziele werden bejaht, Mittel zur Erreichung stehen zur Verfügung (soziale Stabilität, keine kriminologische Bedeutung)<br>
'''Konformität''': gesellschaftliche Ziele werden bejaht, Mittel zur Erreichung stehen zur Verfügung (soziale Stabilität, keine kriminologische Bedeutung)<br>
'''Innovation''': Kulturelle Ziele werden akzeptiert, aber mit illegalen Mitteln zu erreichen versucht, z.B. mit Kriminalität<br>
'''Innovation''': Kulturelle Ziele werden akzeptiert, aber mit illegalen Mitteln zu erreichen versucht, z.B. mit [[Kriminalität]]<br>
'''Ritualismus''': Kulturelle Ziele werden heruntergeschraubt, die legalen Mittel beibehalten (evt. kriminologische Bedeutung)<br>
'''Ritualismus''': Kulturelle Ziele werden heruntergeschraubt, die legalen Mittel beibehalten (evt. kriminologische Bedeutung)<br>
'''Rückzug''': Kulturelle Ziele sowie die legalen Mittel werden abgelehnt. Folge: Flucht in gesellschaftliche Scheinwelten (z.B. Alkohol, Rauschgift, Sekten)<br>
'''Rückzug''': Kulturelle Ziele sowie die legalen Mittel werden abgelehnt. Folge: Flucht in gesellschaftliche Scheinwelten (z.B. Alkohol, Rauschgift, Sekten)<br>
'''Rebellion''': Ziele und Mittel werden aufgegeben und durch neue ersetzt. Revolution oder alternative Lebensformen sind Beispiele für diese Handlungsform. Hier können auch kriminelle Aktivitäten wie Attentate, Bombenanschläge oder gewaltsame Krawalle ebenfalls durch Rebellion hervorgerufen werden.<br>
'''Rebellion''': Ziele und Mittel werden aufgegeben und durch neue ersetzt. Revolution oder alternative Lebensformen sind Beispiele für diese Handlungsform. Hier können auch kriminelle Aktivitäten wie Attentate, Bombenanschläge oder gewaltsame Krawalle ebenfalls durch Rebellion hervorgerufen werden.<br>
Zahlreiche Autoren bieten weitergehende Interpretation der Anomietheorie nach Merton an, z.B. Pfeiffer/Scheerer (1979: 28 f): Sie weisen darauf hin, dass Merton mehrere Bedeutungen von Anomie verwendet hat.<br>
Zahlreiche Autoren bieten weitergehende Interpretation der Anomietheorie nach [[Merton]] an, z.B. [[Pfeiffer]]/[[Scheerer]] (1979: 28 f): Sie weisen darauf hin, dass Merton mehrere Bedeutungen von Anomie verwendet hat.<br>
Albrecht (1979) und Agnew (1998) betonen, dass Merton zwischen „gesellschaftlicher Anomie“ und „individueller Anomie“ (Anomia) unterscheidet. Anomie wird dabei keineswegs mit der Dissoziation zwischen kultureller und sozialer Strukur gleichgesetzt, aber auch nicht mit den Anpassungsreaktionen darauf. Sie wird vielmehr zeitlich und kausal zwischen beiden Phänomenen eingeordnet. Das strukturelle Auseinanderklaffen von Zielen und Mitteln führt zu sozialen Spannungen („strain“), die wiederum die individuelle Anomie („Anomia“) hervorrufen. Anomia und Anomie stehen also in einer Interdependenz- bzw. Interaktionsbeziehung.
[[Albrecht]] (1979) und [[Agnew]] (1998) betonen, dass Merton zwischen „gesellschaftlicher Anomie“ und „individueller Anomie“ (Anomia) unterscheidet. Anomie wird dabei keineswegs mit der Dissoziation zwischen kultureller und sozialer Strukur gleichgesetzt, aber auch nicht mit den Anpassungsreaktionen darauf. Sie wird vielmehr zeitlich und kausal zwischen beiden Phänomenen eingeordnet. Das strukturelle Auseinanderklaffen von Zielen und Mitteln führt zu sozialen Spannungen („strain“), die wiederum die individuelle Anomie („Anomia“) hervorrufen. Anomia und Anomie stehen also in einer Interdependenz- bzw. Interaktionsbeziehung.


====Zusammenhang mit anderen Begriffen====
====Zusammenhang mit anderen Begriffen====