Anne-Eva Brauneck

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Anne-Eva Brauneck (geb.am 09.12.1910 in Hamburg - gest.am 06.03.2007 in Lich) war eine deutsche Juristin und die erste Frau, die einen Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie an einer juristischen Fakultät erhielt (1965).

Lebenslauf

Anne-Eva Brauneck war eine von zwei Töchtern eines Hamburger Gymnasialleiters. Sie studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und Hamburg und gehörte neben der späteren Leiterin der Frankfurter Frauenstrafanstalt, Helga Einsele zu den letzten Schülerinnen des Strafrechtlers, Rechtsphilosophen und Reichsjustizministers Gustav Radbruch. 1933 legte sie in Hamburg die Erste juristische Staatsprüfung und 1937 die Große Juristische Staatsprüfung ab. 1935 promovierte Brauneck bei Prof. Rudolf Sieverts zu dem Thema „Pestalozzis Stellung zu den Strafrechtsproblemen“.

Während des Dritten Reiches war es ihr, wie anderen Juristinnen, verwehrt im Höheren Dienst von Verwaltung, Justiz sowie der Rechtsanwaltschaft zu arbeiten. Brauneck wurde daher zunächst im mittleren Dienst der Polizei eingestellt und später in den gehobenen Dienst befördert. Während dieser Zeit legte sie das Kriminalassistenten-Examen ab.

Nach dem Krieg war sie zunächst freiberuflich tätig und widmete sich psychologischen Studien. So untersuchte sie als Mitglied eines Forschungsteams von 1950- 1952 für die UNESCO das Verhältnis der deutschen Jugend zur Autorität.

1952 wurde sie wissenschaftliche Assistentin bei Prof. Sieverts, dem seinerzeitigen Präsidenten der westdeutschen Rektorenkonferenz. Gleichzeitig wurde sie ehrenamtliche Geschäftsführerin der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen. In dem kriminalwissenschaftlichen Assistententeam wirkte sie zusammen mit Herbert Jäger, Claus Roxin und Hörst Schüler-Springorum. Da es auch im Nachkriegsdeutschland für eine Frau nicht selbstverständlich war zu habilitieren, mußte Brauneck sich hierfür besonders einsetzen. Ihre Untersuchung delinquenter Kinder und deren Erziehungshintergrund stärkte ein kriminologisches Fachverständnis, dass jedoch in Hamburg, bedingt durch die NS-Zeit und die Emigration deutscher Kriminologen, noch nicht als eigenständiges Lehrfach anerkannt war. Mit Ihrer Arbeit "Die Entwicklung jugendlicher Straftäter" wurde sie sodann 1961 am Lehrstuhl für Strafrecht und strafrechtliche Hilfswissenschaften in Hamburg habilitiert. 1965 erhielt sie einen Ruf an die neugegründete Gießener Professur für Strafrecht und Kriminologie, die später vorrangig der Kriminologie und Kriminalpolitik zugewandt war. Bis zu ihrer Emeritierung 1976 lehrte sie dort.

Wissenschaftliche Arbeit und Forschung

Kennzeichnende Merkmale ihres Werkes waren Ihre Fähigkeit, Abstraktes durch konkrete Beispiele zu veranschaulichen und Erkenntnisse aus benachbarten Disziplinen einzubringen. Dies wurde besonders in ihrem Lehrbuch „Allgemeine Kriminologie“ besonders deutlich. Dort werden Personen, Situationen und spektakuläre Fälle der Kriminalitätsgeschichte eingearbeitet. Neben ihren wissenschaftlichen Publikationen galten ihre Interessen und Gedanken, Bemühungen und Aktivitäten insbesondere Fragen zu Leben und Tod, zur Sterbehilfe und Organtransplantation. Mehrfach mahnte sie die Gegner des Hirntodkonzepts, „die Frage, ob der Hirntote tot oder erst sterbend sei, lenke vom entscheidenden Punkt ab, dass mit einer Organentnahme dem einen gar nicht mehr zu nützen oder zu schaden, einem anderen aber zu helfen sei.“ (FR v. 03.03. u. 14.05.1995) Zum Problem der Zulässigkeit der Organtransplantation führte sie unter anderem aus: „Ich habe den Eindruck, dass hier, wie auch in anderen Fragen, Halbwissen sich ausbreiten kann, weil die Politiker nicht den Mut haben, das richtige Wort auszusprechen, oder weil sie selbst halbwissend sind.“

Sie hat sich selbst nicht als Neuerin in der Kriminologie, als Vertreterin des die traditionelle Kriminologie umstoßenden „Labeling Approach“ verstanden, wohl aber innovative Sichtweisen und Gedanken eingebracht. So hat sie es beispielsweise unternommen, noch vor dem dafür meist zitierten Heinrich Popitz (Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, 1968) auf die Bedeutung der „Verborgenheit eines großen Teils der Begehungen, also die so oft beklagte Dunkelziffer“ hinzuweisen, verbunden mit der Frage, „wie hoch eigentlich die Zahl der Verurteilungen und Verurteilten in einer Bevölkerung sein müsste, um der Strafdrohung optimale Tabuwirkung zu geben und nicht unnötig viele zu verurteilen.“ Damit hatte sie einerseits auf die Bedeutung der Latenz von Straftaten und andererseits die Aufklärung und Sanktionierung für die sozialpsychologische Normgeltung aufmerksam gemacht. Auch hatte sie in einem kriminologischen Lehrbuch erstmals den Krieg als Gegenstand dieser Disziplin betrachtet hat („Allgemeine Kriminologie“ S. 157 ff; dazu Verf., „Weltordnungs“- Krieg und Kriminologie, Schwind-Festschrift 2006 S. 995 ff): „Geht man vom Konflikt der am weitesten voneinander entfernten Gruppen aus, so kommt man als erstes zum Krieg unter Nationen.“ Er wurde in der von Brauneck eingeführten Begrifflichkeit von Nah- und Fernraumkriminalität der letzteren zugeordnet.

Sie gab psychoanalytisch geprägten Entwicklungs- und Sozialisationstheorien den Vorzug. Strafe war für sie nicht ein Zuschreibungsinstrument zum Erhalt der Macht Herrschender, wie es die Labeling-Sicht suggerierte, sondern ein notwendiges generalpräventives Mittel: „Lange hatte ich Liszt sehr angehangen, aber später fand ich die Strafe für spezialpräventiv relativ ungeeignet u. gerade nur generalpräventiv notwendig.“ (26.04.2003) Ihre Erkenntnisse auf individuelle, familiäre und frühkindliche Entstehungsbedingungen späterer Delinquenz aus biographisch-qualitativ angelegten Studien zu jugendlichen Straftätern basierten auf einer ihr eigenen qualitativen Methode. Sie war aufgrund ihrer Untersuchungen bereits früh in die Familien Straffälliger gelangt und hatte in Nahraum-Gesprächen solche Entstehungsbedingungen nachvollziehen können. Überhaupt betrachtete sie Bindungsfähigkeit als wichtigen Bestand des in früher Kindheit und Geborgenheit zu entwickelnden Gemüts und Mängel dieser frühen Gemütsentwicklung als wichtige Bedingung für spätere schwere Delinquenz.

Zur Rolle der Frau ebenso wie ihre Bedeutung in der Kriminalität hatte sie dagegen eine eher konservative Einstellung, verglichen mit sogenannten feministischen oder sozialistischen Ansichten über prinzipielle Gleichheit der Geschlechter. So führte Brauneck entgegen der Emanzipationstheorie die anhaltend geringe Teilhabe der Frau an der Kriminalität auf die andersartige psychische Struktur weiblicher Wesen zurück, die auf das Bewahren, Schützen und eine höhere Sensibilität ausgerichtet sei.

Sie plädierte für eine Ethik ohne Religion, eine autonome humanistische Moral. „Erkennen wir mitfühlende Achtung vor anderen als gut und lebensstiftend an, dann brauchen wir jedenfalls `Sinn´ nicht zu vermissen.“ Hier „brauchen wir keine Entzauberung, keinen Selbstbetrug zu fürchten. Hier urteilt unser Gefühl richtig: der andere Mensch ist wirklich eine Person.“ (Fühlen und Denken S. 113f)

Initiativen / Mitgliedschaften

Brauneck arbeitete im Kreis der "Alternativ-Professoren" mit, der Reformmodelle im Bereich des Strafrechts erarbeitete. Sie arbeitete an interdisziplinären kriminologisch-forensisch-psychiatrischen Seminaren und wirkte bei der UNO-Tagung für Verbrechensbekämpfung in Kyoto mit. Nach ihrer Emeritierung wandte sich Brauneck mehr psychologisch-philosophischen Fragen zu. 1997 - im Alter von 87 Jahren - veröffentlichte sie die Schrift "Fühlen und Denken". Die letztlich im Jahr 1999 den damaligen Lehrstuhlinhaber und drei habilitierten Schüler sowie Freunde und Wegbegleiter von Brauneck veranlasste eine Ehrengabe zum Thema "Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften" herauszugeben.