Angleichungsgrundsatz

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Begriffsbestimmung

Der Begriff "Angleichungsgrundsatz" bezieht sich auf den § 3 Abs.1 des [1]Strafvollzugsgesetzes (StVollzG). Es heißt dort unter der Überschrift "Gestaltung des Vollzuges":

"Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden."

Der so formulierte Grundsatz ist einer von drei in dem Paragraphen formulierten Vollzugsgrundsätze zur Gestaltung des Strafvollzuges (neben dem Gegenwirkungsgrundsatz § 3 Abs.2 und dem Eingliederungsgrundsatz § 3 Abs.3). Vollzugsgrundsätze sind "Mindestgrundsätze" (AK StVollzG § 3 Rz.1). Sie sind gleichzeitig sowohl Bezugsgrößen für die "Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe", als auch "Ermessensmaßstäbe (Vorrangregeln) für die Vollzugsanstalt" (AK StVollzG § 3 Rz.3). Es handelt sich bei dem hier beschriebenen Grundsatz um eine "soll"-Bestimmung; das bedeutet, dass der einzelne Inhaftierte daraus keine Rechtsansprüche ableiten kann (AK StVollzG § 3 Rz.3f).

Praktisch geht es im Angleichungsgrundsatz darum, "eine möglichst geringe Diskrepanz zwischen allgemeinen Lebensverhältnissen und Vollzugswirklichkeit" herzustellen (AK StVollzG § 3 Rz.4), um die Lebensbedingungen der Inhaftierten von vornherein möglichst wenig haftspezifisch deprivierend zu gestalten. In der Literatur werden unter "Angleichung" Aspekte der Gestaltung des Alltagslebens der Inhaftierten diskutiert (Lesting 1988: 3f; [2]Ostendorf o.J.; Baechtold 2005: 29, I 3 Rz. 9), Fragen sozialer Kontakte nach außen und von Beschäftigungsverhältnissen (Lesting 1988: 3f; Baratta 2001).

Dabei wird der Begriff der "Angleichung" zum Teil mit dem Begriff der "Normalisierung" gleichgesetzt (so durchweg im Alternativkommentar, z.B. im Vorwort zur fünften Auflage, oder bei Baechtold 2005: 28, I 3 Rz. 8). Lesting fasst "Normalisierung" dagegen weiter als den Angleichungsbegriff und zwar als "sowohl in rechtlicher als auch in sozialer Hinsicht egalitäre Anpassung der Verhältnisse im Strafvollzug an gesellschaftliche Standards (...)." (1988: 6).

Entwicklung des Angleichungsbegriffs

Die absolute Straftheorie

Eine Wurzel des Angleichungsgedankens lässt sich in der absoluten Straftheorie sehen, die die Strafe in keinem Fall mit einem weitergehenden Zweck verknüpft sehen will (vgl. Müller-Steinhauer 2001: 235). Nach dieser Vorstellung gibt es keinen Grund, durch Strafe "Schmerz, der den Menschen in seiner inneren Freiheit beeinträchtigt" zuzufügen (a.a.O.: 183). Dass Haft geeignet ist, allein durch ihre Umstände solche Schmerzen zuzufügen, kann als unumstritten gelten. Beispielhaft schildert Sykes für die Situation in Haft die schmerzhaften Verzerrungen eines normalen Alltagslebens: "It is not solitude that plagues the prisoner but life en masse. (...). The prisoner is supposed to live in poverty as (...) an unwilling monk (...)." (Sykes 1958: 4). Forderung der absoluten Straftheorie ist es, dass die Freiheitsstrafe von den Bedingungen des Lebens in Freiheit nicht abweichen darf - außer im Entzug der Freiheit selbst. Strafe ist allein der Freiheitsentzug und darf nicht durch die weitere Gestaltung des Strafvollzuges bestimmt sein (vgl. AK StVollzG § 3 Rz.5). Aspekte unveräußerlicher Menschenwürde bilden aus dieser Perspektive die Grundlage einer Verpflichtung des inhaftierenden Staates zur Angleichung aller weiteren Haftbedingungen an das "normale" Leben im Alltag.

Der Resozialisierungsgedanke

Davon abweichend entwickelte sich mit den Reformideen des späteren 19. Jahrhunderts die Vorstellung einer Haftgestaltung als individuell ausgerichtete spezialpräventive Maßnahme mit dem Ziel einer Besserung der Inhaftierten (vgl.von Liszt 1982/83;2002), ab Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff der Resozialisierung verknüpft. Damit verbunden war früh die Ansicht, dass nur die Angleichung von Lebensverhältnissen im Strafvollzug an die Bedingungen in der Freiheit geeignet ist, dem entmündigenden Charakters des Lebens in der Haftanstalt entgegenzuwirken (so nach Schäfer 2001: 45f schon Radbruch).

Historische Entwicklung in Deutschland seit dem frühen 20. Jahrhundert

  • Weimarer Zeit: Es entstehen erste Formen praktischer Umsetzung von Angleichungsbemühungen (Lockerungen, Freiräume für Gefangene, bauliche Veränderungen, Erwachsenenbildung; vgl. Lesting 1988: 34f).
  • Nationalsozialistisches Deutschland: Angleichung wird zugunsten eines Strafvollzug nach Ideen der Sühne und der Generalprävention zurückgesetzt.
  • Nachkriegszeit: Umstände in den personellen wie materiellen Ressourcen verhindern über mehr als zwei Jahrzehnte ein Anknüpfen an die Vorkriegsideen (Lesting 1988: 39).
  • 50er und 60er Jahre: Neue Impulse kommen aus US-amerikanischen Publikationen, die den strukturell schädigenden Charakter von Haftanstalten als "totale Institutionen" deutlich machten (vgl. Sykes 1958 oder Goffmann 1972;2006).
  • 70er Jahre: Die Strafvollzugsreform hält in dem seit 01.01.1977 geltenden Strafvollzugsgesetz (StVollzG) ausdrücklich eine auf Angleichung ausgerichtete Vollzugsgestaltung als gesetzliche Vorschrift fest.

Der Angleichungsgrundsatz im Kontext der Vollzugsziele und Vollzugsgrundsätze

Angleichung und Resozialisierung

Das StVollzG formuliert in § 2: "Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel)." Wird - daraus abgeleitet – Resozialisierung als oberstes Vollzugsziel und werden Inhaftierte als resozialisierungsbedürftig verstanden, so kann der Angleichungsgrundsatz als eine Form der Operationalisierung dieses Ziels gesehen werden: Die möglichst weitgehende Angleichung der Lebensumstände in Haft an die Bedingungen in Freiheit kann dann als Mittel gelten, Resozialisierung zu befördern mit "Lebensbedingungen, die denen außerhalb des Strafvollzugs ähneln, um dem Inhaftierten auch weiterhin die Möglichkeit zur Einsicht und zum besseren Gebrauch seiner Vernunft zu machen." (Müller-Steinhauer 2001: 236)

Resozialisierung als (zeitlicher) Ausschnitt eines grundsätzlich lebenslangen Prozesses der Sozialisation benötigt eine Lebensumgebung, die den Inhaftierten alle eben möglichen Freiräume autonomer Lebensgestaltung erhält bzw. gewährleistet. Ausgehend von menschlichen Grundbedürfnissen, wie sie etwa Maslow 1954 formuliert, hieße das, unter Haftbedingungen besonders die Chancen der "Selbstentfaltung" zu unterstützen. Praktisch werden darunter alle Bedingungen konkreter Lebensgestaltung (Unterbringung, Ernährung, Beschäftigung, Bildungs- und Ausbildungsangebot) und besonders die sozialen Lebensbedingungen verstanden (soziale Kontakte in und außerhalb der Haftumgebung, Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Rückzug / Privatsphäre). Ausdrücklich muss eine auf Resozialisierung durch Angleichung hin ausgerichtete Haftgestaltung ggf. kritische Autonomie auch gegenüber der Anstalt selbst fördern, "weil man erkannt hat, dass auch die Zulassung von Auseinandersetzungen mit anderen Personen eine Anpassung an die Lebensverhältnisse außerhalb der Anstalt darstellt." (Jehle 2002: 14f).

Gleichzeitig zeichnet eine Unterordnung unter das Vollzugsziel Resozialisierung eine mögliche Einschränkung vor: Angleichung kann als Hindernis verstanden werden, wenn es um Therapieangebote an Inhaftierte geht. Wenn - etwa in der Behandlung von Drogenabhängigen - aus therapeutischen Gründen Beschränkungen in der Lebensgestaltung für nötig erachtet werden (Reduzieren oder Kontrolle von Außenkontakten), so stellt das eine Einschränkung von Autonomie und Angleichung dar. Wenn Angleichung in diesem Kontext dann Behandlungs- (und Resozialisierungs-)zielen untergeordnet wird, betrachtet Lesting das als zwar "herrschende restriktive Interpretation", aber dem Angleichungs- wie dem Resozialisierungsgedanken widersprechend (1988: 57; siehe dazu auch AK StVollzG § 3 Rn. 2). Tatsächlich lässt der Angleichungsgrundsatz in seiner gesetzlichen Formulierung als "soll"-Bestimmung Gestaltung der Haft ausdrücklich diesen Spielraum.

Angleichung und Sicherung

Das StVollzG formuliert nach dem Vollzugsziel aus § 2 in einem zweiten Satz: "Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten." Diese Aufgabe des Vollzugs wurde immer wieder als konkurrierend mit dem Vollzugsziel einer Resozialisierung erörtert. Der Alternativkommentar bezeichnet die Vollzugsaufgabe der Sicherung dem Vollzugsziel als nachgeordnet und hält die Diskussion für "auf der normativen Ebene (…) entschieden" (AK StVollzG § 2 Rz.5). Sie könnte aber, berücksichtigt man die Formulierungen erster neuer Strafvollzugsgesetze nach der Förderalismusreform, jetzt wieder neu geführt werden müssen (vgl. etwa die Formulierung der Vollzugsziele in § 5 des [3]Gesetzes zur Neuregelung des Justizvollzuges in Niedersachsen aus dem Jahr 2007; s. auch dazu eher pessimistisch Kamann 2008: 470).

"Schutz", "Sicherung" und "Sicherheit" sind jedenfalls Schlüsselbegriffe für das Leben der Inhaftierten, wobei die Begrifflichkeiten keineswegs eindeutig sind: Unterschieden wird zwischen "Sicherheit" als

  • Sicherheit der (inhaftierten) Personen in der Haftanstalt selbst
  • Sicherheit der Allgemeinheit (vor den Inhaftierten) und
  • Sicherheit des Aufenthaltes des Inhaftierten in der Haftanstalt (Jehle 2002: 11f).

Es ist unmittelbar ersichtlich, dass eine als Unterstützung der Resozialisierung gedachte Angleichung an Lebensverhältnisse außerhalb des Justizvollzugs mit einem vorrangigen oder auch nur gleichrangigen Ziel einer Sicherung unter jedem der drei Aspekte schwer zu vereinbaren ist: Je mehr die Haftumstände den einzelnen Inhaftierten Freiraum zu autonomer Lebensgestaltung und Interaktion sowohl außerhalb wie innerhalb der Haftanstalt geben, desto weniger lassen Inhaftierte sich umfassend kontrollieren.

Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei im Alltag der Inhaftierten Belange der Sicherheit und Ordnung der Anstalt ein, mit denen Einschränkungen von Angleichungsbemühungen begründet werden können:

  • Unterbringung und Ernährung (§ 17 (3) StVollzG Einschränkungen der gemeinschaftlichen Unterbringung während der Arbeit/Freizeit; § 19 Ausstattung des Haftraums §19; § 22 Einkauf (Jehle 2002: 31f).
  • Besuche und Schriftwechsel (§24ff Besuchsgestaltung / Überwachung; § 28ff Gestaltung/Überwachen von Schriftwechsel, Telephonaten, Paketempfang (Jehle 2002: 83ff)

Als Maßstab für Einschränkungen der Angleichung auf der Grundlage eines Sicherungsgedanken gelten Formulierungen wie "nicht stärker als unvermeidbar" oder "einigermaßen verlässliche Sicherheit und eine leidliche Ordnung“ (aus dem Regierungsentwurf des Strafvollzugsgesetzes bzw. nach Bemmann 1987, hier zitiert nach AK StVollzG § 3 Rz.8). Als nicht zulässig wird die Einschränkung der Angleichung dann angesehen, wenn sie allein mit Notwendigkeiten der Organisation des Strafvollzugs begründet wird (a.a.O.). Lesting spricht in diesem Zusammenhang von einer "unverhältnismäßigen Übersicherung" und "'totalitären Ordnungsstrukturen" als strukturellen Probleme des Strafvollzugs (1988: 16). Jehle fordert, Einschränkungen der Angleichung durch Gründe von Sicherheit und Ordnung "höchst zurückhaltend" zu handhaben (2002: 17).

Angleichungs- und Gegenwirkungsgrundsatz

Der Angleichungsgrundsatz steht in einer engen Beziehung zum "Gegenwirkungsgrundsatz" § 3 (2) StVollzG. Nahezu durchgehend findet sich in der Literatur die Annahme, dass sich die Lebensumstände innerhalb einer Haftanstalt durch "'Besonderheiten (…), die den Gefangenen lebensuntüchtig machen können'" auszeichnen (AK StVollzG § 3 Rz.4) und daher gegenwirkender Maßnahmen bedürfen. Fabricius sieht darüber hinaus die Population im Gefängnis durch die mitgebrachten Sozialisationsdefizite besonders wenig geeignet, mit den Deprivatisierungen des Freiheitsentzuges zurecht zu kommen (2001: 74). Grundlegende Gedanken zur Wirkweise einer "Haftanstalt" als "totale Institution" finden sich bei Goffman (1972; 2006).

Es gilt für alle Vollzugsgrundsätze, dass sie solchen "negativen Auswirkungen der totalen Institution entgegenwirken, sie kompensieren" sollen (AK StVollzG § 3 Rz.3), und zwar durchaus im Sinne einer Kompensation von Angleichung: "Soweit eine Angleichung an die allgemeinen Lebensverhältnisse im Vollzug nicht möglich ist, besagt der Gegensteuerungsgrundsatz, dass versucht werden muss, den schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken." (Jehle 2002: 18; ähnlich: AK StVollzG § 3 Rz.17). In diesem Verständnis ist die Angleichung der jedenfalls vorgeordnete Grundsatz (so auch Lesting 1988: 9).

Vollzugslockerungen und Angleichung

Als "Lockerungen des Vollzuges" bezeichnet das StrafVollzG in § 11 Außenbeschäftigungen, Freigang, Ausführungen und Ausgang. Lockerungen sollen "durch Erprobung, d.h. Inkaufnahme kleiner Vorkommnisse im laufenden Vollzug zukünftige Rückfälle verhindern können" (Fabricius 2001: 72). Lockerungen erweisen sich so als wesentliches Werkzeug der Angleichung. Die Annahme, Lockerungen seien grundsätzlich riskant, findet sich nicht belegt: [4]Ostendorf o.J. berichtet von einer geringen Zahl von Nicht-Rückkehrern aus dem Urlaub und auch von geringeren Rückfallzahlen aus dem offenen Vollzug (mit allerdings auch geringer belasteten Inhaftierten).

Problematisch scheint in diesem Zusammenhang, dass es der Haftpraxis und auch Konzepten etwa eines Stufenvollzugs entspricht, mit Entzug bzw. Gewähren von Lockerungen disziplinarisch zu agieren, statt ausschließlich im Sinne zunehmender Angleichung. Lockerungen erhalten so einen doppeldeutigen Charakter: Statt eines eindeutig aus Menschenwürde, Resozialisierungsanspruch und Angleichungsgrundsatz abgeleiteten Gestaltungsmerkmals der Haft werden sie zu einer durch Wohlverhalten erreichbaren Vergünstigung (vgl. dazu auch Neuland zur umgekehrt doppelten Funktion der Disziplinarmaßnahmen 1988: 271). Walter (2005: 133) beschreibt eine daraus abgeleitete Selbstdisziplinierung des Gefangenen im "Chancenvollzug": "(...) diszipliniert sich der Gefangene durch sein Verhalten selber, schließt sich von den Serviceangeboten selber aus (...)" - der Inhaftierte selbst weiß, was er tun muss, um den "Service" (Lockerungen, Attraktionen Freizeitgestaltung und Privatheit, Aufschluss, Kühlschrankfach...) zu erhalten bzw. zu verwirken. Eine damit verknüpfte Prognose, die "Anpassung an die Regeln der Anstalt erhöhe die Wahrscheinlichkeit eines späteren normgerechten Verhaltens in der Gesellschaft" (Neuland 1988: 271), erscheint fraglich.

Der Angleichungsgrundsatz in der Praxis: Die Problembereiche

Angleichung betrifft den Haftalltag in allen Bereichen, und in fast allen Bereichen ergeben sich darauf Probleme: Die Haftanstalt nimmt "im Wege der Totalversorgung ihren Insassen alle wesentlichen Sorgen und Entscheidungen hinsichtlich des täglichen Lebens ab" (Müller-Dietz 1994: 31f) und erschwert so jede Angleichung an normale Entscheidungsspielräume wie Entscheidungszwänge. Einzelne Maßnahmen einer von Franze untersuchten Anstalt bezeichnet die Autorin als "Erziehung zur Unselbständigkeit" (Umgang mit Telephonaten, der Verpflegung, der Kleidung; 2001: 380).

Die Gestaltung des Alltagslebens

  • Haftraum: Belegung und Abgrenzung nach außen (Rückzugsmöglichkeit in eine Privatsphäre, "Anklopfen" an der Haftraumtür) nicht frei bestimmbar; auch mangels genauerer Gestaltungsvorschriften ergeben sich Probleme aus Größe, Toilettenabgrenzung, Verfügbarkeit von Strom und Licht, Frage eines eigenen Schlüssels, eigene Ausstattung (Franze 2001: 245f)
  • Tagesstruktur: Schlaf-/Wachrhythmus, Mahlzeiten, Arbeitszeiten, Freizeit sind vorgegeben und oft vollkommen alltagsuntypisch (Essenszeiten)
  • gemeinsame Freizeit mit anderen Gefangenen: auch durch organisatorische Fragen und Fragen von Sicherheit und Ordnung begrenzt (vgl. Franze 2001: 243)
  • Ernährung: zu großen Teilen fremd bestimmt, nicht selbst zubereitet (Franze 2001: 266f); Einkaufsmöglichkeiten oft teuer und begrenzt;
  • Zugang zu Medien (Fernsehen, Radio, Internet, Bücher): oft keine gut betreuten, ausreichend ausgestatteten Büchereien verfügbar / kaum Kooperation mit öffentlichen Büchereien; Ausleihmöglichkeiten oft nur nach Liste ([5]Feest 2007b); Zugang zum Internet als "Möglichkeit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auch außerhalb der Haftanstalt." bisher noch stark reglementiert (vgl. [6]Feest 2007c)
  • Freizeitangebot: entspricht nicht Freizeitangebot/-gestaltung in Freiheit; ein Mangel an Umweltreizen (...) kann (...) zu einer generellen Abstumpfung führen." (Franze 2001: 322); häufig werden gerade hier Einschränkungen mit Befürchtungen der Bildung einer "Subkultur" begründet (Lesting 1988: 99f; Franze 2001: 243)
  • Kontakt nach draußen: Telephonieren zum Teil sehr erschwert und grundsätzliches Verbot von Mobiltelephonen (vgl. [7]Feest 2007d)
  • Unterbringungssituation insgesamt: Zellentrakte mit 30-40 Insassen sind kein alltagsgerechtes "Lernfeld" (Franze 2001: 379); es fehlt an Möglichkeiten zur Gestaltung wenigstens der eigenen Grundversorgung als "Kern der privaten Lebensführung" (Jehle 2002: 30)

Soziale Sicherung / Gesundheitsfürsorge / -vorsorge

Staatliche Fürsorge und Fürsorgepflicht für den in seiner Obhut lebenden Inhaftierten gilt hier als wesentliches Argument gegen Angleichung (vgl. Lesting 1988: 91ff): Mit diesem Umstand wird nicht nur die fehlende soziale Absicherung (Kranken- und Arbeitslosenversicherung) der Inhaftierten begründet, sondern auch die Stellung eines Arztes und Therapeuten durch die Anstalt (statt freier Wahlmöglichkeit) und ggf. die Anordnung ärztlicher Maßnahmen (Untersuchungen). Tatsächlich ist die freie Arztwahl dann schon mangels Krankenversicherung ein Problem (vgl. Deckers 1988: 87). "Konsequente Normalisierung" müsste nach Lesting (1988: 21) bedeuten, Inhaftierte in allen gesundheitlichen, therapeutischen und sozial-beraterischen Belangen an allgemein zuständige Dienste außerhalb der Haftanstalt zu verweisen.

Arbeit

Es besteht - mit Ausnahmen - für Inhaftierte eine Verpflichtung zur Arbeit (vgl. § 41 StVollzG). Folgende Problemstellungen behindern dabei eine Angleichung:

  • Ausbildungs- und Arbeitmöglichkeiten sind unzureichend (auch wenn man zusätzliche Motivations- oder Ausbildungsmängel bei den Inhaftierten bedenkt; Franze 2001: 379f).
  • Die Entlohnung entspricht weder durchschnittlichen Arbeitsentgelten noch kann sie eine "positive Einstellung zur Arbeit" fördern oder Schulden abbauen helfen ([8]Ostendorf o.J.; Schwind 1988: 6).
  • Arbeit als Angleichung an eine Normalität außerhalb der Justizvollzugsanstalt wird zunehmend zweifelhaft in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, bei erwartbarer Zukunft in einer Schattenwirtschaft, bei unzureichender Versicherung und bei gleichzeitigem Arbeitszwang auch in Freiheit (Jehle 2001: 45; Baechtold 2005: 150, II 5 Rz.101).

Angleichung und besondere Häftlingsgruppen

Besondere Schwierigkeiten einer Angleichungspraxis ergeben sich durch besondere Bedürfnisse einzelner Häftlingsgruppen.

  • nicht-deutschsprachliche Inhaftierte: Sprachprobleme behindern Alltagskommunikation, soziale Interaktion und Teilnahme an differenzierten Freizeit-, Bildungs- und Therapieangeboten.
  • inhaftierte Frauen: Arbeits- und Qualifizierungsangebote orientieren sich häufig an einem ungewöhnlich traditionellen Bild weiblicher Erwerbs- und Berufstätigkeit (Hauswirtschaft); gleichzeitig entspricht die geringe Involvierung in die eigene Grundversorgung besonders wenig ihrem Lebensalltag in Freiheit. Bei - im Sinne einer Angleichung - gemeinsamer Unterbringung von Frauen und Männern bleibt fraglich, wieweit andere Bedarfe der meist geringeren Zahl der inhaftierten Frauen ausreichend berücksichtigt werden ("typischerweise schlechteren physischen und psychischen Zustand und dem offensichtlich höheren Bedürfnis nach Privatsphäre und Intimität der inhaftierten Frauen" (Baechtold 2005: 195, II 6 Rz.14)
  • ältere Inhaftierte: Haftanstalten sind auf diese wachsende Gruppe kaum eingerichtet (entwicklungstypisch individueller ausgeprägte Lebensgewohnheiten, altersabhängig eingeschränkte Beweglichkeit, fehlende Arbeitspflicht).

Angleichung zuungunsten von Inhaftierten

Eine Angleichung in Form von Regelungen, die den Inhaftierten zusätzlich belasten, wird in der Vollzugspraxis in letzter Zeit beobachtet: So werden mit einer Angleichung an Lebensumstände außerhalb der Haft Praxisgebühren oder die Beteiligung an Stromkosten begründet oder die Teilnahme am Gemeinschaftshörfunk verweigert. In einer kritischen Einschätzung solcher Maßnahmen wird sowohl auf die mangelhafte Form von Angleichung hingewiesen (z.B. AK StVollzG § 19 Rz.7 zum Erheben lediglich "verbrauchsunabhängiger monatlicher Pauschalbeiträge"), besonders aber auf den Widerspruch zum Gegenwirkungsgrundsatz: Statt eines Ausgleichs deprivierender Haftbedingungen werden durch zusätzliche Kosten den Inhaftierten Partizipationen an autonomer Freizeitgestaltung oder sozialen Aktivitäten eher weiter erschwert (vgl. auch [9]Feest 2007a und AK StVollzG § 3 Rz.10).

Der Angleichungsgrundsatz als Streitpunkt der Kriminalpolitik

Die Relevanz einer Diskussion des Angleichungsgrundsatzes für die Kriminologie ergibt sich aus der engen Anbindung an wesentliche Begriffe und Strömungen der Kriminologie: In Zeiten, in denen Strafvollzug von den reformerischen Ideen der Resozialisierung bestimmt war, schien Angleichung als eine darauf bruchlos aufbauende Forderung. Schon früh wurde aber von einer "Gegenreform" gesprochen (Lesting 1988:5; später z.B. Maelicke 2005: 127). Sie wird mit Ideen neo-klassischer Kriminalpolitik, mit einer ökonomischen Erklärung von Kriminalität und mit Anzeichen erhöhter Punitivität verknüpft wahrgenommen. Symptomatisch dafür ist die anhaltende Diskussion darüber, wie Angleichung praktisch gestaltet werden soll; Vorwürfe eines zu luxuriösen Vollzuges einerseits stehen Befürchtungen eines "Schäbigkeitswettbewerbes" ([10]Feest 2007a in Anlehnung an Dünkel/Schüler-Springorum 2006) gegenüber. Lesting beschreibt zehn Jahre nach der Strafvollzugsreform unterschiedlichste Auslegungen aller Einzelbegriffe des Angleichungsgrundsatzes in der Literatur (1988: 60ff). Bis heute fehlt es an einer Konkretisierung der Bedeutung, der Grenzen und der Maßstäbe, anhand derer eine Umsetzung des Grundsatzes überprüft werden könnte (vgl. Franze 2001: 76ff). Kriterium bleiben vorerst Grundrechte der Inhaftierten, an erster Stelle das Grundrecht der Menschenwürde als Bezugsgröße jeder Gestaltung einer Haftsituation (vgl. Feest AK StVollzG § 4 Rz.18). Es könnte hier argumentiert werden, dass "Menschenwürde" als wesentlicher Begründungskontext des Angleichungsgrundsatzes ohnehin in der konkreten Umsetzung als zeitgebunden zu verstehen ist und die Umsetzung daher ständig neu in ihrer Durchsetzung und Einhaltung auf die "Menschenwürde" rückbezogen werden muss (so etwa eine Argumentationslinie bei Feest/Bammann 2000: 61). Lesting (1988: 61) stellt zudem die Frage, an welche Normalität überhaupt anzugleichen wäre in einer Gesellschaft höchst differenzierter Lebensentwürfe und -gestaltungen. In seiner Argumentation kann Normalisierung eigentlich nur "unter Aufhebung des Strafvollzuges gelingen (a.a.O. 115). Auch Christie neigt dazu, Angleichungsbemühungen als von vornherein defizitäre Strategie anzunehmen und als bloße Form der Verschleierung des grundsätzlich schmerzhaften Charakters der Strafe (1995, S. 17), solange die Strafe nicht in "Trauerarbeit" (S. 104ff) umgearbeitet wird.

Literatur

Baechtold, A. (2005) Strafvollzug: Straf- und Massnahmenvollzug an Erwachsenen in der Schweiz (Vol. 6). Kriminalität, Justiz und Sanktionen, 6. Bern: Stämpfli.

Christie, Nils (1995) Grenzen des Leids. Münster: Votum-Verlag

Deckers, R. (1988) Der Strafvollzug und das Vollzugsziel aus der Sicht des Rechtsanwalts. In H.-D. Schwind & D. Bandell (Eds.), Kriminologische Schriftenreihe der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft e.V.: Vol. 97. 10 Jahre Strafvollzugsgesetz. Resozialisierung als alleiniges Vollzugsziel? ; [Beiträge zu einer Fachtagung der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft und zur Verleihung der Beccaria-Medaille 1987] (pp. 79–89). Heidelberg: Kriminalistik-Verl.

Fabricius, D. (2001) Strafvollzug in Zeiten der Globalisierung. In Schäfer Karl Heinrich & Schäfer-Sievering (Eds.), Arnoldshainer Texte: Vol. Bd. 116. Strafvollzug und Menschenwürde. Gustav Radbruch - Wegbereiter des Strafvollzugs des Grundgesetzes (pp. 63–95). Frankfurt am Main: Haag + Herchen.

Feest, Johannes (Hg.) (2006) StVollzG. Kommentar zum Strafvollzugsgesetz (AK-StVollzG). 5., neu bearb. Aufl. Neuwied: Luchterhand

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Feest, Johannes (2007b) Gefangene Leser - Das Recht auf frei¬en Li¬teraturzugang für Menschen in Haft. http://www.strafvollzugsarchiv.de/index.php?action=archiv_beitrag&thema_id=&beitrag_id=74&gelesen=74&PHPSESSID=275b12cc341637c60bae139c4a222230 [Stand 2008-06-11]

Feest, Johannes (2007c) Florian Knauer: Strafvollzug und Internet - Rezension von Johannes Feest http://www.strafvollzugsarchiv.de/index.php?action=archiv_beitrag&thema_id=7&beitrag_id=156&gelesen=156&PHPSESSID=275b12cc341637c60bae139c4a222230275b12cc341637c60bae139c4a222230 [Stand 2008-06-11]

Feest, Johannes (2007d) Handystörsender im Vollzug - Beschluss der Regierung von Baden-Württemberg http://www.strafvollzugsarchiv.de/index.php?action=archiv_beitrag&thema_id=&beitrag_id=160&gelesen=160&PHPSESSID=275b12cc341637c60bae139c4a222230 [Stand 2008-06-11]

Feest, J., & Bammann, K. (2000) Menschenunwürdige Behandlung von Gefangenen in Deutschland: Vorhandene Kontrollinstanzen, Probleme und Alternativen. In R. Reindl (Ed.), Menschenwürde und Menschenrechte im Umgang mit Straffälligen (pp. 61–75). Freiburg im Breisgau: Lambertus.

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Goffman, Erving (1973;2006): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Jehle, J.-M. (2001) Normalisierung des Arbeitsbereichs?: Thesen zur Arbeit und Entlohnung von Strafgefangenen. In Bremer Institut für Kriminalpolitik & K. Bammann (Eds.), Materialien zur Kriminalpolitik: Vol. 9. Alternativsymposium zum Strafvollzug anläßlich des Erscheinens der 4. Auflage des Alternativkommentars zum Strafvollzugsgesetz (AK-StVollzG) /// Alternativsymposium zum Strafvollzug. Anläßlich des Erscheinens der 4. Auflage des Alternativkommentars zum Strafvollzugsgesetz (AK-StVollzG); Tagung an der Universität Bremen, 21. Oktober 2000 (1st ed., pp. 43–50). Bremen: Univ. Fachbereich Rechtswiss.

Jehle, N. (2002) Sicherheit und Ordnung im Strafvollzug: Von der Idee des Gesetzes zur Wirklichkeit der Praxis. Europäische HochschulschriftenReihe 2, Rechtswissenschaft 3444. Frankfurt a. M.: Lang.

Kamann, U. (2008) Handbuch für die Strafvollstreckung und den Strafvollzug (2., aktualisierte und erw. Aufl.). Ratgeber Prozessrecht. Münster: ZAP.

Lesting, Wolfgang (1988) Normalisierung im Strafvollzug. Potential und Grenzen des § 3 Abs. 1 StVollzG. Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges. (Forschungen zur Kriminalpolitik, 3).

Maslow, A. H. (1954): Motivation and Personality. New York: Harper

Müller-Dietz, H. (1994) Menschenwürde und Strafvollzug: Erweiterte Fassung eines Vortrages gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 20. Oktober 1993 (Vol. 136). Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 136. Berlin: de Gruyter.

Müller-Steinhauer, S. G. (2001) Autonomie und Besserung im Strafvollzug: Resozialisierung auf Grundlage der Rechtsphilosophie Immanuel Kants (Vol. 4). Beiträge zur Strafrechtswissenschaft, 4. Münster, Hamburg: Lit.

Neuland, G. (1988) Disziplinarstrafen ("Hausstrafen") und "Vergünstigungsdenken". In H.-D. Schwind & G. Blau (Eds.), Strafvollzug in der Praxis: Eine Einführung in die Probleme und Realitäten des Strafvollzuges und der Entlassenenhilfe (2nd ed., pp. 270–276). Berlin: de Gruyter.

Ostendorf, H. (ohne Jahr) Aufgaben und Ausgestaltung des Strafvollzugs, from http://www.bpb.de/publikationen/JA66W0,0,0,Aufgaben_und_Ausgestaltung_des_Strafvollzugs.html [Stand 2008-07-29]

H.-D. Schwind & D. Bandell (Hrsg.) (1988) 10 Jahre Strafvollzugsgesetz. Resozialisierung als alleiniges Vollzugsziel? Kriminologische Schriftenreihe der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft e.V.: Vol. 97. [Beiträge zu einer Fachtagung der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft und zur Verleihung der Beccaria-Medaille 1987]. Heidelberg: Kriminalistik-Verlag

Sykes, G. M. (1958) The society of captives: A study of a maximum security prison. Princeton, New Jersey: Princeton Univ. Press.

Walter, J. (2005) "Apokryphe" Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug. Neue Kriminalpolitik, 17(4), 130–134.