Abschweifung über produktive Arbeit: Unterschied zwischen den Versionen

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Die '''Abschweifung über produktive Arbeit''' ist ein kleiner Text von Karl Marx.  
Die '''Abschweifung über produktive Arbeit''' ist ein kleiner Text von Karl Marx (1862/63), in dem der Autor auf die ökonomischen Vorteile des Verbrechens hinweist. Verbrechen, so scheint es nach Lektüre des Textes, lohnt sich vielleicht nicht immer für den Täter selbst, aber sehr wohl für die Gesellschaft und einige ihrer prominenteren Mitglieder. Der Verbrecher produziere nämlich unter anderem auch "das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält", "ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker" -- und: "Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehen, wenn es keine Diebe gäbe?"


== Der Text ==
== Der Text ==


'''Über die Produktivität des Verbrechens. Abschweifung über produktive Arbeit
'''


Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein
Professor Kompendien usw. Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet
man näher den Zusammenhang dieses letztren Produktionszweigs mit dem
Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen.
Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht
und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und
zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine
Vorträge als „Ware“ auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung
des Nationalreichtums ein.
Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen,
Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiednen Gewerbszweige,
die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden,
entwickeln verschiedne Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue
Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den
sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produktion
ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt.
Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je
nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen
Gefühle des Publikums einen „Dienst“. Er produziert nicht nur Kompendien
über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher und damit Strafgesetzgeber,
sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien, wie nicht
nur Müllners „Schuld“ und Schillers „Räuber“, sondern selbst „Ödipus“ und
„Richard der Dritte“ beweisen. Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und
Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation
und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der
Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften
einen Sporn. Während das Verbrechen einen Teil der überzähligen Bevölkerung
dem Arbeitsmarkt entzieht und damit die Konkurrenz unter den Arbeitern
vermindert, zu einem gewissen Punkt den Fall des Arbeitslohns unter das
Minimum verhindert, absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen andern
Teil derselben Bevölkerung. Der Verbrecher tritt so als eine jener natürlichen
„Ausgleichungen“ ein, die ein richtiges Niveau herstellen und eine ganze
Perspektive „nützlicher“ Beschäftigungszweige auftun.
Bis ins Detail können die Einwirkungen des Verbrechers auf die Entwicklung
der Produktivkraft nachgewiesen werden. Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen
Vollkommenheit gediehn, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation
von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehn, gäbe es keine
Falschmünzer? Hätte das Mikroskop seinen Weg in die gewöhnliche kommerzielle
Sphäre gefunden ohne Betrug im Handel? Verdankt die praktische Chemie nicht ebensoviel der Warenfälschung und dem Bestreben, sie aufzudecken, als dem ehrlichen Produktionseifer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des
Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und
wirkt damit ganz so produktiv wie strikes auf Erfindung von Maschinen. Und
verläßt man die Sphäre des Privatverbrechens: Ohne nationale Verbrechen,
wäre je der Weltmarkt entstanden? Ja, auch nur Nationen? Und ist der Baum
der Sünde nicht zugleich der Baum der Erkenntnis seit Adams Zeiten her?
Mandeville in seiner „Fable of the Bees“ (1705) hatte schon die Produktivität
aller möglichen Berufsweisen usw. bewiesen und überhaupt die Tendenz
dieses ganzen Arguments:
„Das, was wir in dieser Welt das Böse nennen, das moralische so gut wie das
natürliche, ist das große Prinzip, das uns zu sozialen Geschöpfen macht, die
feste Basis, das Leben und die Stütze aller Gewerbe und Beschäftigungen ohne
Ausnahme; hier haben wir den wahren Ursprung aller Künste und Wissenschaften
zu suchen; und in dem Moment, da das Böse aufhörte, müßte die Gesellschaft
verderben, wenn nicht gar gänzlich untergehen.“


*Karl Marx: Abschweifung (über produktive Arbeit). In: Theorien über den Mehrwert, 1863 (Marx-Engels Werke MEW Bd. 26.1: 363-388).


== Weitere Literatur ==
== Weitere Literatur ==
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