Abschaffung der Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

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Welch Ironie der Geschichte: ausgerechnet Nachfahren der Quäker des 18. Jahrhunderts, dieser hochgradig unorthodoxen Religionsgemeinschaft, die einst am entschiedensten für die Einführung einer völlig neuen Strafart - der Einsperrung in kleine käfigartige Einzelzellen - plädiert hatte, fanden zweihundert Jahre später, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, nach ebenso ernsthaften und kontinuierlichen, aber auch frustrierenden Bemühungen um die Verbesserung dieser Institution, die deutlichsten Worte: ein völliger Fehlschlag sei das Gefängnis, teuer und zerstörerisch, sowohl eine Ursache als auch ein Ergebnis von Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit. Schädlich für die Gefangenen, aber auch für diejenigen, die mit der Einsperrung befasst seien. Heute werde es immer deutlicher: die Einsperrung von Menschen ist - nicht anders als ihre Versklavung - von Natur aus unmoralisch. Die Abschaffung der Gefängnisse steht nun auf der Tagesordnung: als Prozess und als Ziel. Wie auf Kriminalität zu reagieren ist, muss neu überdacht werden: am besten wohl doch nicht-strafend. Lebensbejahend. Versöhnend (Minute on Prison Abolition 1981).
Welch Ironie der Geschichte: ausgerechnet Nachfahren der Quäker des 18. Jahrhunderts, dieser hochgradig unorthodoxen Religionsgemeinschaft, die einst am entschiedensten für die Einführung einer völlig neuen Strafart - der Einsperrung in kleine käfigartige Einzelzellen - plädiert hatte, fanden zweihundert Jahre später, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, nach ebenso ernsthaften und kontinuierlichen, aber auch frustrierenden Bemühungen um die Verbesserung dieser Institution, die deutlichsten Worte: ein völliger Fehlschlag sei das Gefängnis, teuer und zerstörerisch, sowohl eine Ursache als auch ein Ergebnis von Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit. Schädlich für die Gefangenen, aber auch für die Einsperrenden. Immer klarer werde ihnen heute: die Einsperrung von Menschen ist - nicht anders als ihre Versklavung - von Natur aus unmoralisch. Die Abschaffung der Gefängnisse muss nunmehr auf die Tagesordnung kommen: als Prozess und als Ziel. Wie auf Kriminalität zu reagieren ist, muss neu überdacht werden: am besten wohl doch nicht-strafend. Lebensbejahend. Versöhnend (Minute on Prison Abolition 1981).


Da war der Geist allerdings schon aus der Flasche. Das Gefängnis hatte eine Dynamik entfaltet, die sich nicht mehr einfangen ließ. Wer die Handvoll Gefangener gesehen hätte, die um 1795 das penitentiary house im Hof eines Hafthauses der Walnut Street in Philadelphia bezogen - wer hätte gedacht, dass das Zellengefängnis die Welt erobern würde? Gewiss: schon das Eastern State Penitentiary (1829) und Pentonville (1842) sollten zu Attraktionen werden, die weltweit nicht weniger als dreihundert Mal kopiert wurden. Sie passten in das Zeitalter der großen Fabriken, Kasernen, Bildungs-, Kranken- und Irren-Anstalten, die allesamt den Prinzipien der räumlichen Konzentration, der Segregation und der individualisierten Massifikation folgten - so gut sogar, dass das Gefängnis ausweislich seiner metaphorischen Nutzung für allerlei als unerträglich empfundenes Eingezwängtsein sich als ''Einschließungsmilieu par excellence'' (Gilles Deleuze) etablierte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheinen Gefängnisse so quasi-natürlich und so total-unabänderlich wie Finanzämter. Nicht gerade schön. Aber mal ehrlich: wie sollte es denn ohne sie gehen?
Da war der Geist allerdings schon aus der Flasche. Das Gefängnis hatte eine Dynamik entfaltet, die sich nicht mehr einfangen ließ. Wer die Handvoll Gefangener gesehen hätte, die um 1795 das penitentiary house im Hof eines Hafthauses der Walnut Street in Philadelphia bezogen - wer hätte gedacht, dass das Zellengefängnis die Welt erobern würde? Gewiss: schon das Eastern State Penitentiary (1829) und Pentonville (1842) sollten zu Attraktionen werden, die weltweit nicht weniger als dreihundert Mal kopiert wurden. Sie passten in das Zeitalter der großen Fabriken, Kasernen, Bildungs-, Kranken- und Irren-Anstalten, die allesamt den Prinzipien der räumlichen Konzentration, der Segregation und der individualisierten Massifikation folgten - so gut sogar, dass das Gefängnis ausweislich seiner metaphorischen Nutzung für allerlei als unerträglich empfundenes Eingezwängtsein sich als ''Einschließungsmilieu par excellence'' (Gilles Deleuze) etablierte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheinen Gefängnisse so quasi-natürlich und so total-unabänderlich wie Finanzämter. Nicht gerade schön. Aber mal ehrlich: wie sollte es denn ohne sie gehen?


Kluge Philosophen haben auf diese Frage durchaus verblüffende Antworten. Ihnen zuliebe hier dieser kleine Exkurs über die Entbehrlichkeit des Gefängnisses. Der bereits erwähnte Foucault-Freund Deleuze konstatierte schon 1990 eine allgemeine Krise aller Einschließungsmilieus aufgrund der digitalen Revolution. Menschen in Häuser einzuschließen, das sei typisch analog. Digital sei: die Überwachung im freien Feld und in freier Bewegung - mit Zugangssperren, die ad hoc auf- und abgebaut werden könnten. Andere sprachen von der access society. Deleuze meinte, damit seien die herkömmlichen Einschließungsmilieus im Prinzip bereits obsolet. Der Übergang von der auf Einschließung beruhenden Disziplinar- zur postmodernen Kontrollgesellschaft sei bereits in vollem Gange. Trotz aller politischen Rhetorik, die auf die Reformbedürftigkeit und -fähigkeit der Einschließungsmilieus insistiere, sei es im Grund doch jedermann klar, "dass diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben."
Kluge Philosophen haben auf diese Frage durchaus verblüffende Antworten. Ihnen zuliebe hier dieser kleine Exkurs über die Entbehrlichkeit des Gefängnisses. Der bereits erwähnte Foucault-Freund Deleuze konstatierte schon 1990 eine allgemeine Krise aller Einschließungsmilieus aufgrund der digitalen Revolution. Menschen in Häuser einzuschließen, das sei typisch analog. Digital sei: die Überwachung im freien Feld und in freier Bewegung - mit Zugangssperren, die ad hoc auf- und abgebaut werden könnten. Ob das besser oder schlechter sei, ließ er dahingestellt. Es gelte, das überhaupt erst einmal zu verstehen. Und neuen Gefahren mit neuen Waffen zu begegnen. Andere sprachen von der access society und erwähnten keine Waffen. Sei's drum. Deleuze meinte, damit seien die herkömmlichen Einschließungsmilieus im Prinzip doch offenbar bereits obsolet. Der Übergang von der auf Einschließung beruhenden Disziplinar- zur postmodernen Kontrollgesellschaft sei bereits in vollem Gange. Trotz aller politischen Rhetorik, die auf die Reformbedürftigkeit und -fähigkeit der Einschließungsmilieus insistiere, sei es doch eigentlich schon allen klar, "dass diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben."


Ein kluger Philosoph ist auch Michel Onfray. Ein Vierteljahrhundert nach Deleuze nahm er dessen Analyse in politischer Absicht wieder auf - und die starken Gedanken der wunderbaren und völlig vergessenen Cathérine Baker - als er mit seinen erstaunlich vielen Mitstreitern aus der Praxis sein Manifest  
Ein kluger Philosoph ist auch Michel Onfray. Ein Vierteljahrhundert nach Deleuze nahm er von der Sache her dessen Analyse in politisch-moralischer Wendung wieder auf - und übrigens auch explizit einige wenige Gedanken der wunderbaren und völlig zu unrecht weitgehend vergessenen Catherine Baker (1984, 2015) - als er mit seinen erstaunlich vielen Mitstreitern aus der Praxis sein Manifest für die Abschaffung des Gefängnisses, seiner Mechanismen und seiner Logiken veröffentlichte (Onfray et al. 2014). 


Es gab eine Zeit, da schien der Fortschrittsglaube an einen unaufhaltsamen Prozess der Humanisierung nicht nur die Gemüter aufzuhellen, sondern sogar mit einem tatsächlichen Prozess des Rückbaus, wenn nicht Absterbens des Gefängnissystems Hand in Hand zu gehen. In den frühen 1970er Jahren befanden sich die Gefangenenraten und -zahlen nicht nur in der angelsächsischen Welt  auf einem (von heute aus gesehen) geradezu paradiesisch anmutenden niedrigen Niveau. Und während heute im globalen Maßstab Gefangenenraten von plus minus 100 Gefangenen pro 100 000 Einwohner als normal und akzeptabel gelten, waren sie damals in manchen Ländern unter 50, dann unter 40 und unter 30, gar bis auf 15 gesunken. Wenn aber nicht mehr jeder tausendste Bürger, sondern vielleicht nur noch jeder zehntausendste hinter Schloss und Riegel sitzt, dann ist da auch ein qualitativer Sprung entweder schon erfolgt oder jedenfalls nicht mehr fern und es gibt Möglichkeiten, mit Kriminalität und Kriminellen umzugehen. Dass die vielen intramuralen Behandlungsprogramme die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen schienen (Martinson 1974), hätte auch als Schub für die Überwindung der Mauern und die Fortsetzung der Resozialisierung durch Behandlung in Freiheit genutzt werden können. Doch die Umsetzung der Ideen des community treatment scheiterte nicht zuletzt am Bürger-Widerstand und einem von den USA ausgehenden kriminalpolitischen Rückschlag, der sich gewaschen hatte. Die Abkehr von der Behandlungsideologie (Stein-Hilbers & Lange 1973), die theoretisch auch zum Legitimationsentzug der Freiheitsstrafe und zum Aufblühen von Alternativen zum Gefängnis hätte führen können, stärkte stattdessen die Wiederkehr punitiver Ideologien und Praktiken, die dem Gefängnis seinen bis heute anhaltenden Boom bescherten und der Welt eine Situation, die nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass gegenwärtig an jedem beliebigen Tag des Jahres weltweit mehr als zehn Millionen Menschen hinter Schloss und Riegel sitzen - mehr als jemals zuvor in der Geschichte.
Es gab eine Zeit, da schien der Fortschrittsglaube an einen unaufhaltsamen Prozess der Humanisierung nicht nur die Gemüter aufzuhellen, sondern sogar mit einem tatsächlichen Prozess des Rückbaus, wenn nicht Absterbens des Gefängnissystems Hand in Hand zu gehen. In den frühen 1970er Jahren befanden sich die Gefangenenraten und -zahlen nicht nur in der angelsächsischen Welt  auf einem (von heute aus gesehen) geradezu paradiesisch anmutenden niedrigen Niveau. Und während heute im globalen Maßstab Gefangenenraten von plus minus 100 Gefangenen pro 100 000 Einwohner als normal und akzeptabel gelten, waren sie damals in manchen Ländern unter 50, dann unter 40 und unter 30, gar bis auf 15 gesunken. Wenn aber nicht mehr jeder tausendste Bürger, sondern vielleicht nur noch jeder zehntausendste hinter Schloss und Riegel sitzt, dann ist da auch ein qualitativer Sprung entweder schon erfolgt oder jedenfalls nicht mehr fern und es gibt Möglichkeiten, mit Kriminalität und Kriminellen umzugehen. Dass die vielen intramuralen Behandlungsprogramme die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen schienen (Martinson 1974), hätte auch als Schub für die Überwindung der Mauern und die Fortsetzung der Resozialisierung durch Behandlung in Freiheit genutzt werden können. Doch die Umsetzung der Ideen des community treatment scheiterte nicht zuletzt am Bürger-Widerstand und einem von den USA ausgehenden kriminalpolitischen Rückschlag, der sich gewaschen hatte. Die Abkehr von der Behandlungsideologie (Stein-Hilbers & Lange 1973), die theoretisch auch zum Legitimationsentzug der Freiheitsstrafe und zum Aufblühen von Alternativen zum Gefängnis hätte führen können, stärkte stattdessen die Wiederkehr punitiver Ideologien und Praktiken, die dem Gefängnis seinen bis heute anhaltenden Boom bescherten und der Welt eine Situation, die nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass gegenwärtig an jedem beliebigen Tag des Jahres weltweit mehr als zehn Millionen Menschen hinter Schloss und Riegel sitzen - mehr als jemals zuvor in der Geschichte.
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