Abschaffung der Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

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Ironie der Geschichte! Ausgerechnet Nachfahren der Quäker, die sich am entschiedensten dafür stark gemacht hatten, Körperstrafen durch die Einsperrung der Delinquenten in kleine käfigartige Einzelzellen zu ersetzen, sollten nach rund zweihundert Jahren ernsthafter Bemühungen um die Gefängnisreform die deutlichsten Worte der Institutionenkritik finden: man habe erkennen müssen, dass Gefängnisse als Antwort auf Kriminalität ein teurer und zerstörerischer Fehlschlag gewesen seien; Gefängnisse seien sowohl eine Ursache als auch ein Ergebnis von Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit und zudem schädlich nicht nur für die Eingesperrten, sondern auch für die Einsperrenden. Man sei sich zunehmend klar darüber geworden, dass die Einsperrung von Menschen - nicht anders als ihre Versklavung - von Natur aus unmoralisch sei. Deshalb müsse es nunmehr - als Prozess und als langfristiges Ziel - um die Abschaffung der Gefängnisse gehen und um die Entwicklung nicht-strafender, lebensbejahender und versöhnender Reaktionen (vgl. Minute on Prison Abolition 1981).
Ironie der Geschichte! Ausgerechnet Nachfahren der Quäker, die sich am entschiedensten dafür stark gemacht hatten, Körperstrafen durch die Einsperrung der Delinquenten in kleine käfigartige Einzelzellen zu ersetzen, sollten nach rund zweihundert Jahren ernsthafter Bemühungen um die Gefängnisreform die deutlichsten Worte der Institutionenkritik finden: man habe erkennen müssen, dass Gefängnisse als Antwort auf Kriminalität ein teurer und zerstörerischer Fehlschlag gewesen seien; Gefängnisse seien sowohl eine Ursache als auch ein Ergebnis von Gewalt und sozialer Ungerechtigkeit und zudem schädlich nicht nur für die Eingesperrten, sondern auch für die Einsperrenden. Man sei sich zunehmend klar darüber geworden, dass die Einsperrung von Menschen - nicht anders als ihre Versklavung - von Natur aus unmoralisch sei. Deshalb müsse es nunmehr - als Prozess und als langfristiges Ziel - um die Abschaffung der Gefängnisse gehen und um die Entwicklung nicht-strafender, lebensbejahender und versöhnender Reaktionen (vgl. Minute on Prison Abolition 1981).


Ist der Geist erst einmal aus der Flasche, dann lässt er sich allerdings meist nicht so leicht zurückzwingen. Besonders dann, wenn er eine so beeindruckende Dynamik entfaltet wie das Gefängnissystem. Was in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts in Philadelphia mit einigen wenigen Zellen begann und im Eastern State Penitentiary (1829) im im Londoner Pentonville-Gefängnis (1842) seine berühmte und weltweit nicht weniger als dreihundert Mal kopierte panoptische Form fand, passte offenbar perfekt in das Zeitalter der großen Fabriken, Kasernen, Bildungs-, Kranken- und Irren-Anstalten, die nach den Prinzipien der räumlichen Konzentration, Segregation und Individualisierung bei gleichzeitiger Uniformierung und Massifizierung funktionierten. An der Häufigkeit, mit der es als Metapher im allgemeinen Sprachgebrauch vorkommt, lässt sich ablesen, wie erfolgreich sich das Gefängnis auch im Bewusstsein als Einschließungsmilieu par excellence (Gilles Deleuze) etablieren konnte.  die über dreihundertmal kopiert wurdelphias ''Walnut Street'', bzw. der Eröffnung der ersten panoptischen Anstaltsbauten (1790-1842). Einmal gerufene Geister wird man freilich nicht immer leicht wieder los. Besonders dann nicht, wenn zwischen dem Zeitpunkt ihres Auftauchens und dem ihres Weggewünschtwerdens eine Entwicklung wie die des globalen Gefängnissystems von 1795 bis 1981 (oder bis heute) liegt. Was damals mit einem bescheidenen ''penitentiary house'' in Philadelphias Walnut Street begann, ergab ja in Verbindung mit der panoptischen Architektur von Eastern State (1829) und Pentonville (1842) nicht nur ein mehr als 300 mal kopiertes bauliches Modell, sondern sollte sich ja darüber hinaus zum Einschließungsmilieu ''par excellence'' entwickeln - einem wahrhaftigen Gulag, in dem gegenwärtig an jedem beliebigen Tag des Jahres weltweit mehr als zehn Millionen Menschen sitzen. Mehr als jemals in der Geschichte der Menschheit. einem bis zum heutigen Tag zu einem globalen Einsperrungssystem entwickeln, das im Hofe des  , an dem man sie aus der Flasche ließ und dem, an dem man sie wieder zurückhaben nun allerdings nicht immer die Angewohnheit, sich 
Ist der Geist erst einmal aus der Flasche, dann lässt er sich allerdings meist nicht so leicht zurückzwingen. Besonders dann, wenn er eine so beeindruckende Dynamik entfaltet wie das Gefängnissystem. Was in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts in Philadelphia mit einigen wenigen Zellen begann und im Eastern State Penitentiary (1829) im im Londoner Pentonville-Gefängnis (1842) seine berühmte und weltweit nicht weniger als dreihundert Mal kopierte panoptische Form fand, passte offenbar perfekt in das Zeitalter der großen Fabriken, Kasernen, Bildungs-, Kranken- und Irren-Anstalten, die nach den Prinzipien der räumlichen Konzentration, Segregation und Individualisierung bei gleichzeitiger Uniformierung und Massifizierung funktionierten. An der Häufigkeit, mit der es als Metapher im allgemeinen Sprachgebrauch vorkommt, lässt sich ablesen, wie erfolgreich sich das Gefängnis auch im Bewusstsein als ''Einschließungsmilieu par excellence'' (Gilles Deleuze) etablieren konnte.
Zum Trost für Abolitionisten aller Art besitzen die Gefängnisse wie alle gesellschaftlichen Institutionen keine Ewigkeitsgarantie. Auch wenn sich institutionelle Lebenszyklen eher nach Jahrhunderten und manchmal nach Jahrtausenden berechnen (katholische Kirche!), so kann man doch immer auf ihren Untergang ''in the long run'' hoffen.  


Es gab eine Zeit, da schien der Fortschrittsglaube an einen unaufhaltsamen Prozess der Humanisierung nicht nur die Gemüter aufzuhellen, sondern sogar mit einem tatsächlichen Prozess des Rückbaus, wenn nicht Absterbens des Gefängnissystems Hand in Hand zu gehen. In den frühen 1970er Jahren befanden sich die Gefangenenraten und -zahlen nicht nur in der angelsächsischen Welt  auf einem (von heute aus gesehen) geradezu paradiesisch anmutenden niedrigen Niveau. Und während heute im globalen Maßstab Gefangenenraten von plus minus 100 Gefangenen pro 100 000 Einwohner als normal und akzeptabel gelten, waren sie damals in manchen Ländern unter 50, dann unter 40 und unter 30, gar bis auf 15 gesunken. Wenn aber nicht mehr jeder tausendste Bürger, sondern vielleicht nur noch jeder zehntausendste hinter Schloss und Riegel sitzt, dann ist da auch ein qualitativer Sprung entweder schon erfolgt oder jedenfalls nicht mehr fern und es gibt Möglichkeiten, mit Kriminalität und Kriminellen umzugehen. Dass die vielen intramuralen Behandlungsprogramme die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen schienen (Martinson 1974), hätte auch als Schub für die Überwindung der Mauern und die Fortsetzung der Resozialisierung durch Behandlung in Freiheit genutzt werden können. Doch die Umsetzung der Ideen des community treatment scheiterte nicht zuletzt am Bürger-Widerstand und einem von den USA ausgehenden kriminalpolitischen Rückschlag, der sich gewaschen hatte. Die Abkehr von der Behandlungsideologie (Stein-Hilbers & Lange 1973), die theoretisch auch zum Legitimationsentzug der Freiheitsstrafe und zum Aufblühen von Alternativen zum Gefängnis hätte führen können, stärkte stattdessen die Wiederkehr punitiver Ideologien und Praktiken, die dem Gefängnis seinen bis heute anhaltenden Boom bescherten und der Welt eine Situation, die nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet ist, dass gegenwärtig an jedem beliebigen Tag des Jahres weltweit mehr als zehn Millionen Menschen hinter Schloss und Riegel sitzen - mehr als jemals zuvor in der Geschichte.
und es schien kein Ende abzusehen. 
hoffen, dass sie in the long run einmal unterliegen sie doch den Gesetzen von Entstehung, Wandel und VergehenSie unterliegen alle Institutionen der ''natural history'' von Entstehung, Entwicklung, Vergehen undaller gesellschaftlichen Erscheinungen. Sie entstehen, sie wandeln sich, sie vergehen. Das gilt auch für die eng miteinander verwandten und verschränkten, aber doch nicht identischen Institutionen der Freiheitsstrafe und des modernen, d.h. auf Disziplinierung und Besserung abzielenden Gefängnisses (den Ursprung der ersteren könnte man in den oberitalienischen Städten des 12. Jahrhunderts verorten, den der letzteren im Zeitalter der von Michel Foucault so genannten Großen Transformation zwischen 1760 und 1840). Beide Institutionen - die Freiheitsstrafe wie auch das Gefängnis - bieten heute ein faszinierend widersprüchliches Bild. Besonders die Gefängnisse beeindrucken einerseits durch ihre ungebrochene Expansion als Zeichen höchster Vitalität, während sie andererseits auch schon Anzeichen schlimmen Verschleißes und unwiderruflichen Niedergangs erkennen lassen - Anzeichen, die sie laut Gilles Deleuze (1990) mit den anderen Einschließungsmilieus wie Heimen, Kasernen, Fabriken und dergleichen teilen, die durch den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft ihrer Funktionalität beraubt und damit objektiv obsolet wurden. Im Grunde, so Deleuze, spüre oder wisse heute schon jeder, "daß diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben."  
hoffen, dass sie in the long run einmal unterliegen sie doch den Gesetzen von Entstehung, Wandel und VergehenSie unterliegen alle Institutionen der ''natural history'' von Entstehung, Entwicklung, Vergehen undaller gesellschaftlichen Erscheinungen. Sie entstehen, sie wandeln sich, sie vergehen. Das gilt auch für die eng miteinander verwandten und verschränkten, aber doch nicht identischen Institutionen der Freiheitsstrafe und des modernen, d.h. auf Disziplinierung und Besserung abzielenden Gefängnisses (den Ursprung der ersteren könnte man in den oberitalienischen Städten des 12. Jahrhunderts verorten, den der letzteren im Zeitalter der von Michel Foucault so genannten Großen Transformation zwischen 1760 und 1840). Beide Institutionen - die Freiheitsstrafe wie auch das Gefängnis - bieten heute ein faszinierend widersprüchliches Bild. Besonders die Gefängnisse beeindrucken einerseits durch ihre ungebrochene Expansion als Zeichen höchster Vitalität, während sie andererseits auch schon Anzeichen schlimmen Verschleißes und unwiderruflichen Niedergangs erkennen lassen - Anzeichen, die sie laut Gilles Deleuze (1990) mit den anderen Einschließungsmilieus wie Heimen, Kasernen, Fabriken und dergleichen teilen, die durch den Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft ihrer Funktionalität beraubt und damit objektiv obsolet wurden. Im Grunde, so Deleuze, spüre oder wisse heute schon jeder, "daß diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben."  


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