Abschaffung der Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 7: Zeile 7:
::::Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. L'autre journal, Nr. I, Mai 1990.
::::Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. L'autre journal, Nr. I, Mai 1990.


Für die kritische Kriminologie steht die ersatzlose Abschaffung oder die Ablösung des Gefängnisses - des Einschließungsmilieus schlechthin (Gilles Deleuze) - durch etwas Besseres nicht auf der To-Do-Liste für heute oder morgen. Wohl aber stellt die radikale Infragestellung der Idee und der Praxis der Freiheitsstrafe einen passenden gedanklichen Horizont zur Verfügung, um Entwicklungen einordnen und vollzugspolitische Ideen entwickeln oder bewerten zu können. Wo auch immer wir es mit rechtlich fundierten repressiven Zwangsverhältnissen zu tun haben (ob bei der Sklaverei, der Leibeigenschaft, der Entrechtung von Minderheiten oder im Bereich staatlichen Strafens): nur wer implizit oder explizit abolitionistisch denkt, d.h. wer es vermag, von der Arbeitshypothese der Illegitimität, der Überwindungsbedürftigkeit und der Abschaffbarkeit solcher Verhältnisse auszugehen, wird in der Lage sein, sich der Indienstnahme durch den Status Quo und dem schließlichen Aufgehen in ihm zu entziehen. Mehr noch: das ''primum movens'' aller gesellschaftlichen Veränderung ist immer noch der Mensch, sind Gruppen, Koalitionen, Bewegungen, die auf der Grundlage von Glaubenssystemen agieren - von Überzeugungen darüber, wo ihre Interessen liegen, aber auch von Überzeugungen in Bezug auf Ideale. Thomas Clarkson als der eigentliche Motor der britischen Anti-Sklavenhandels-Bewegung hatte zunächst gründlichst über die theoretische Frage nachgedacht, ob es gerechtfertigt sein könne, andere Menschen zu versklaven (und mit seiner lateinischen Dissertation über dieses Thema im Jahre 1785 einen Preis der Universität Cambridge gewonnen), bevor er zwei Jahre später mit elf weiteren Gesinnungsgenossen die Gruppe gründete, die Jahrzehnte später das für die Allgemeinheit durchaus blauäugig-traumtänzerisch erscheinende Ziel erreichen sollte. Von selbst passiert jedenfalls nichts - und ohne ''belief systems'' erst recht nichts. Und die Argumente gegen die Sklaverei waren glücklicherweise gut durchdacht, auch wenn sie es gegenüber den Interessen der Herrschenden und ihrem überlegenen "Realismus" schwer hatten (Hochschild 2007).
Das Gefängnis ist das Einschließungsmilieu schlechthin. Seine ersatzlose Abschaffung oder auch nur seine Ablösung durch etwas Besseres steht weder für heute noch für morgen auf der To-Do-Liste der kritischen Kriminologie. Wohl aber markiert die radikale Infragestellung von Idee und Praxis der Freiheitsstrafe einen gedanklichen Horizont von größter Bedeutung. Wo immer wir es mit rechtlich fundierten repressiven Zwangsverhältnissen zu tun haben - ob bei der Sklaverei, der Leibeigenschaft, der Entrechtung von Minderheiten oder im Bereich staatlichen Strafens - ist das alltagstranszendierende Denken, ist die abolitionistische Vorstellungskraft von höchstem Nutzen. Und zwar nicht nur, um Entwicklungen einschätzen, sondern auch, um Entwicklungen überhaupt erst anstoßen und bis zu praktischen Umwälzungen der Verhältnisse weitertreiben zu können. Nur wer abolitionistisch zu denken sich traut, d.h., nur wer es vermag, von der Arbeitshypothese der Illegitimität, der Überwindungsbedürftigkeit und der Abschaffbarkeit solcher Verhältnisse auszugehen, wird überhaupt in der Lage sein, sich dem Anschein der Natürlichkeit und Unabänderlichkeit solcher Institutionen und damit auch der Indienstnahme durch diese zu entziehen. Mehr noch: das ''primum movens'' aller gesellschaftlichen Veränderung ist immer noch der Mensch, sind Gruppen, Koalitionen und Bewegungen. Sie alle können aber nur auf der Grundlage entweder von Gehorsam gegenüber Autoritäten oder von Glaubenssystemen agieren - von Überzeugungen darüber, wo ihre Interessen liegen, aber auch von Überzeugungen in Bezug auf die Beschaffenheit der Gesellschaft, in der sie leben möchten. Die Geschichte der abolitionistischen Kämpfe ist reich an Beispielen für das politische Potential eines solchen antizipierenden und antizyklischen Denkens. Man denke nur an die Geschichte und die Bedeutung des Thomas Clarkson In einer Zeit, in der die Sklaverei noch als unabschaffbar und Abolitionisten als Spinner galten, war es die beharrliche Dekonstruktion der die Sklaverei rechtfertigenden Diskurse durch Thomas Clarkson (dessen lateinische Dissertation in Cambridge Furore machte), die Clarkson die Energie und Überzeugungskraft verlieh, sein Leben in den Dienst der Sache zu stellen, die im Laufe von Jahrzehnten dann tatsächlich das eigentlich Unmögliche erreichen sollte (Hochschild 2007).  


Wie ist es nun um die Freiheitsstrafe bestellt? Wie steht es um die Argumente, die sich gegen sie auffahren lassen? Wie steht es um die Chance ihrer Abschaffung? Und vor allem: müsste man sich nicht jetzt schon überlegen, was an ihre Stelle treten könnte/sollte? Was sagt die kritische Kriminologie? Was könnte, was müsste sie sagen?  
Wie ist es nun um die Freiheitsstrafe bestellt? Wie steht es um die Argumente, die sich gegen sie auffahren lassen? Wie steht es um die Chance ihrer Abschaffung? Und vor allem: müsste man sich nicht jetzt schon überlegen, was an ihre Stelle treten könnte/sollte? Was sagt die kritische Kriminologie? Was könnte, was müsste sie sagen?  
31.738

Bearbeitungen