Abschaffung der Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

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::::Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. L'autre journal, Nr. I, Mai 1990.
::::Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. L'autre journal, Nr. I, Mai 1990.


Das Gefängnis ist das Einschließungsmilieu schlechthin. Die Überwindung der Mauern (Mathiesen 1979) steht zwar weder für heute noch für morgen auf der To-Do-Liste der kritischen Kriminologie und vom Ende des Strafvollzugs (Schumann et al. 1988) ist wenig zu bemerken. Doch immerhin tut sich etwas in der Literatur: Möglichkeit und Dringlichkeit seiner Abschaffung werden verstärkt thematisiert - in den USA (Davis 2003) und Mexiko (Gómez Jaramillo 2008), aber auch in Italien (Ferrari 2015, Pavarini & Ferrari 2018), Frankreich (Onfray et al. 2014), Großbritannien (Scott 2012, 2018) und Brasilien (Genelhú 2018).  
Das Gefängnis ist das Einschließungsmilieu schlechthin. Die ''Überwindung der Mauern'' (Mathiesen 1979, Lindenberg 1992) steht zwar weder für heute noch für morgen auf der To-Do-Liste der kritischen Kriminologie. Auch ''vom Ende des Strafvollzugs'' (Schumann et al. 1988) ist wenig zu bemerken. Doch immerhin tut sich etwas in der Literatur: Möglichkeit und Dringlichkeit seiner Abschaffung werden mittlerweile wieder verstärkt thematisiert - in den USA (Davis 2003) und Mexiko (Gómez Jaramillo 2008), aber auch in Italien (Ferrari 2015, Pavarini & Ferrari 2018), Frankreich (Onfray et al. 2014), Großbritannien (Scott 2012, 2018) und Brasilien (Genelhú 2018). Das ist alles andere als belanglos.  


Allein schon die radikale Infragestellung von Idee und Praxis der Freiheitsstrafe markiert einen gedanklichen Horizont von größter Bedeutung. Wo immer wir es mit rechtlich fundierten repressiven Zwangsverhältnissen zu tun haben - ob bei der Sklaverei, der Leibeigenschaft, der Entrechtung von Minderheiten oder im Bereich staatlichen Strafens - ist das alltagstranszendierende Denken, ist die abolitionistische Vorstellung eine condition sine qua non für deren Überwindung. Nur wer abolitionistisch zu denken sich traut, d.h., nur wer es vermag, von der Arbeitshypothese der Illegitimität, der Überwindungsbedürftigkeit und der Abschaffbarkeit repressiver Verhältnisse auszugehen, wird überhaupt in der Lage sein, sich dem Anschein der Natürlichkeit und Unabänderlichkeit solcher Institutionen und damit auch der Indienstnahme durch diese zu entziehen. Mehr noch: das ''primum movens'' aller gesellschaftlichen Veränderung ist immer noch der Mensch, sind Gruppen, Koalitionen und Bewegungen. Sie alle können aber nur auf der Grundlage entweder von Gehorsam gegenüber Autoritäten oder von Glaubenssystemen agieren - von Überzeugungen darüber, wo ihre Interessen liegen, aber auch von Überzeugungen in Bezug auf die Beschaffenheit der Gesellschaft, in der sie leben möchten. Die Geschichte der abolitionistischen Kämpfe ist reich an Beispielen für das politische Potential eines solchen transzendierenden und antizipierenden Denkens. Zu einer Zeit, in der die Sklaverei noch als unabschaffbar und Abolitionisten als Spinner galten, war es - um nur einen Fall zu nennen - die beharrliche Dekonstruktion der die Sklaverei rechtfertigenden Diskurse durch Thomas Clarkson (dessen lateinische Dissertation in Cambridge einen Preis gewann), die Clarkson die Energie und Überzeugungskraft verlieh, sein Leben in den Dienst der Sache zu stellen, die im Laufe von Jahrzehnten dann tatsächlich das eigentlich Unmögliche erreichen sollte (Hochschild 2007).  
Denn allein schon die radikale Infragestellung von Idee und Praxis der Freiheitsstrafe markiert einen gedanklichen Horizont von größter Bedeutung. Wo immer wir es mit rechtlich fundierten repressiven Zwangsverhältnissen zu tun haben - ob bei der Sklaverei, der Leibeigenschaft, der Entrechtung von Minderheiten oder im Bereich staatlichen Strafens - ist das alltagstranszendierende Denken, ist die abolitionistische Vorstellung eine condition sine qua non für deren Überwindung. Nur wer abolitionistisch zu denken sich traut, d.h., nur wer es vermag, von der Arbeitshypothese der Illegitimität, der Überwindungsbedürftigkeit und der Abschaffbarkeit repressiver Verhältnisse auszugehen, wird überhaupt in der Lage sein, sich dem Anschein der Natürlichkeit und Unabänderlichkeit solcher Institutionen und damit auch der Indienstnahme durch diese zu entziehen. Mehr noch: das ''primum movens'' aller gesellschaftlichen Veränderung ist immer noch der Mensch, sind Gruppen, Koalitionen und Bewegungen. Sie alle können aber nur auf der Grundlage entweder von Gehorsam gegenüber Autoritäten oder von Glaubenssystemen agieren - von Überzeugungen darüber, wo ihre Interessen liegen, aber auch von Überzeugungen in Bezug auf die Beschaffenheit der Gesellschaft, in der sie leben möchten. Die Geschichte der abolitionistischen Kämpfe ist reich an Beispielen für das politische Potential eines solchen transzendierenden und antizipierenden Denkens. Zu einer Zeit, in der die Sklaverei noch als unabschaffbar und Abolitionisten als Spinner galten, war es - um nur einen Fall zu nennen - die beharrliche Dekonstruktion der die Sklaverei rechtfertigenden Diskurse durch Thomas Clarkson (dessen lateinische Dissertation in Cambridge einen Preis gewann), die ihm überhaupt erst die Energie und Überzeugungskraft verlieh, Mitstreiter zu gewinnen und sein Leben in den Dienst jener zunächst so utopisch erscheinenden Forderung nach dem Ende der Sklaverei zu stellen - und dieser Sache damit national wie international eine Überzeugungskraft zu verleihen, die gegen größte Widerstände und nach zahlreichen vergeblichen Anläufen dann doch zum Erfolg führte (Hochschild 2007).  


Wie ist es nun um die Freiheitsstrafe bestellt? Wie steht es um die Argumente, die sich gegen sie auffahren lassen? Wie steht es um die Chance ihrer Abschaffung? Und vor allem: müsste man sich nicht jetzt schon überlegen, was an ihre Stelle treten könnte/sollte? Was sagt die kritische Kriminologie? Was könnte, was müsste sie sagen?  
Wie ist es nun um die Freiheitsstrafe bestellt? Wie steht es um die Argumente, die sich gegen sie auffahren lassen? Wie steht es um die Chance ihrer Abschaffung? Und vor allem: müsste man sich nicht jetzt schon überlegen, was an ihre Stelle treten könnte/sollte? Was sagt die kritische Kriminologie? Was könnte, was müsste sie sagen?  


Einerseits ist die die moderne Freiheitsstrafe - also die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert religiös-humanistisch begründete und auf die Besserung der Gefangenen abzielende Sanktionsform - ein Riesenerfolg. Und dies sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht. Qualitativ, weil sich sich hier eine zum Steinerweichen anrührende Fortschrittsgeschichte erzählen lässt, die von den unhygienischen, obszönen und lebensgefährlichen Bedingungen der prämodernen Gemeinschaftshaft, die John Howard (1777) beschrieben hatte, über die "Geburt des Gefängnisses" (Foucault 1976) im Zeichen strenger Einzelhaft und den deutlich sozialeren Stufenstrafvollzug bis zum heutigen Strafvollzugsgesetz, zu den halboffenen und offenen und den sozialtherapeutischen Anstalten reicht und damit eindringlich Zeugnis ablegt von der zunehmenden Humanisierung des Strafens - und quantitativ, weil das, was 1795 im endlich fertig gestellten Penitentiary-Anbau des Walnut Street Gefängnisses von Philadelphia mit ganzen 16 Einzelzellen anfing, sich mittlerweile über die ganze Welt verbreitet hat und an jedem beliebigen Tag des Jahres nicht weniger als zehn Millionen Menschen beherbergt, versorgt und bestraft - und das trotz der im globalen Maßstab überaus dramatischen Überfüllung mit immer noch steigender Tendenz, weil die Nachfrage nicht nachlässt, auch wenn gegenwärtig schon so viele Menschen wie noch nie hinter Schloss und Riegel sitzen.  
Einerseits weist die moderne Freiheitsstrafe - also die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert religiös-humanistisch begründete und auf die Besserung der Gefangenen abzielende Sanktionsform - alle Elemente einer großen Erfolgsgeschichte auf. In quantitativer Hinsicht sowieso. Denn was um 1795 mit einigen wenigen Zellen in Philadelphia (USA) begann, hat sich über die ganze Welt verbreitet und umfasst heute an jedem beliebigen Tag des Jahres mehr als zehn Millionen Menschen. Aber auch in qualitativer Hinsicht. Denn allem Anschein nach haben wir es hier ja mit einem durch kontinuierliche Evaluationen und Reformanstrengungen lernenden System zu tun, das sich von der irrigen Hoffnung auf Besserung durch strenge Einzelhaft zu befreien und in großen Schritten bis zum modernen Resozialisierungs-Vollzug mit seinen vielen Lockerungen und Eingliederungshilfen zu entwickeln wusste. Kein Wunder, möchte man denken, dass die weltweite Nachfrage nach Gefängnisplätzen zu immer größeren Neubauprogrammen führt und dass der Staat sich mancherorts inzwischen auch der zusätzlichen Unterstützung durch private Gefängnis-Unternehmen zu versichern sucht.  


Andererseits ist der Blick auf die globale Realität des Strafvollzugs (und die wird nicht durch die relativ belanglosen Verhältnisse in Europa oder Australien bestimmt, sondern für die überwältigende Mehrheit aller Gefangenen durch die Territorien, wo sie eingesperrt sind, nämlich in Afrika, Asien und den Amerikas) ernüchternd bis zum Abwinken. Und dort, in der dominanten Realität dessen, was Gefängnis bedeutet, haben die Narrative unserer Lehrbücher keinerlei Geltung. Die Humanisierungsgeschichte entpuppt sich dort als Fata Morgana. Dort ist zu besichtigen, dass es nicht vorwärts geht, sondern im Kreis, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens ist man da wieder dort angelangt, wo John Howard einst begann: bei der Massenverwahrung ohne Sinn und Verstand, ohne Anspruch auf Resozialisierung und ohne Empathie. Gestank, Misshandlung, Enge und Gewalt, die der Beschreibung spotten - in Afrika und Asien, in Lateinamerika und auf eigene Art auch in der ''mass incarceration'' in den USA. Hier schließt sich der Kreis von der Skandalisierung der bloßen Verwahrung im späten 18. Jahrhundert über das ''rehabilitative ideal'' und dessen Niedergang (Allen 1981) zurück zur kümmerungsbefreiten Massenverwahrung. Zweitens schließt sich aber auch der Kreis der Einzelhaft: das ''solitary system''####, Wir sind aber nicht nur wieder dort, wo alles begann, sondern selbst die Geschichte der zunehmenden Liberalisierung des pennsylvanischen Vollzugs wird hier brutal entmystifiziert. Sowohl in den Kerkern Afrikas und Asiens als auch im ultratechnizistischen Strafvollzug der USA ist seit einigen Jahrzehnten zu bemerken, wie sich auch hier der Kreis zu schließen beginnt. Wer in armen Ländern das Pech hat, überhaupt noch als Individuum wahrgenommen zu werden, den erwarten nur allzu häufig Extraqualen wie im Black Beach Gefängnis von Äquatorialguinea im südsaharischen Afrika - systematische Folter und die Versagung von Körperhygiene und ärztlicher Hilfe, ununterbrochener angeketteter Zellenaufenthalt und Unterversorgung mit Nahrung bis zum Verhungern (einige der Gefangenen sitzen dort ein, weil sie 2004 an einem Putschversuch gegen Präsidenten des Landes, einen ehemaligen Leiter genau dieser Anstalt, beteiligt waren). Und wer in den USA nicht als Nummer in der Massenverwahrung landet, den erwartet die Heimsuchung der Isolationsfolter in Supermax Prisons und den sogenannten CMUs, den Communication Management Units. Da ist sie wieder: die Einzelhaft pur und grausam, nur diesmal ohne die gutwillige Naivität ihrer damaligen Erfinder - diesmal auch als Folter gemeint.
Andererseits muss der Blick auf die globale Realität des Strafvollzugs ernüchtern. Denn im Weltmaßstab spielen die Gefängnisse in Europa und Australien eine untergeordnete, diejenigen in Afrika, Asien und den Amerikas hingegen die entscheidende Rolle, weil sie es sind, in denen sich die überwältigende Mehrheit der Gefangenen befindet. Es ist das Ensemble der afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Gefängnisse, das das Bild, die Realität und das Wesen des Strafvollzugs der Gegenwart ausmacht. Und dort sieht alles anders aus. Vor allem passt dort das Schema von Fortschritt und Humanisierung nicht. Eher schon scheint sich alles in einem Teufelskreis zu bewegen, wenn nicht sogar in zwei. Erstens ist man da wieder dort angelangt, wo John Howard einst begann: bei der Massenverwahrung ohne Sinn und Verstand, ohne Anspruch auf Resozialisierung und ohne Empathie. Gestank, Misshandlung, Enge und Gewalt, die der Beschreibung spotten - in Afrika und Asien, in Lateinamerika und auf eigene Art auch in der ''mass incarceration'' in den USA. Hier schließt sich der Kreis von der Skandalisierung der bloßen Verwahrung im späten 18. Jahrhundert über das ''rehabilitative ideal'' und dessen Niedergang (Allen 1981) zurück zur kümmerungsbefreiten Massenverwahrung. Zweitens schließt sich aber auch der Kreis der Einzelhaft: das ''solitary system''####, Wir sind aber nicht nur wieder dort, wo alles begann, sondern selbst die Geschichte der zunehmenden Liberalisierung des pennsylvanischen Vollzugs wird hier brutal entmystifiziert. Sowohl in den Kerkern Afrikas und Asiens als auch im ultratechnizistischen Strafvollzug der USA ist seit einigen Jahrzehnten zu bemerken, wie sich auch hier der Kreis zu schließen beginnt. Wer in armen Ländern das Pech hat, überhaupt noch als Individuum wahrgenommen zu werden, den erwarten nur allzu häufig Extraqualen wie im Black Beach Gefängnis von Äquatorialguinea im südsaharischen Afrika - systematische Folter und die Versagung von Körperhygiene und ärztlicher Hilfe, ununterbrochener angeketteter Zellenaufenthalt und Unterversorgung mit Nahrung bis zum Verhungern (einige der Gefangenen sitzen dort ein, weil sie 2004 an einem Putschversuch gegen Präsidenten des Landes, einen ehemaligen Leiter genau dieser Anstalt, beteiligt waren). Und wer in den USA nicht als Nummer in der Massenverwahrung landet, den erwartet die Heimsuchung der Isolationsfolter in Supermax Prisons und den sogenannten CMUs, den Communication Management Units. Da ist sie wieder: die Einzelhaft pur und grausam, nur diesmal ohne die gutwillige Naivität ihrer damaligen Erfinder - diesmal auch als Folter gemeint.


ie Behauptung eines Fortschritts im Strafvollzug Erfolgsgeschichte spielt sich das, was das Gefängnis heute in Wirklichkeit ist, wo also die weitaus meisten Gefangenen sitzen
ie Behauptung eines Fortschritts im Strafvollzug Erfolgsgeschichte spielt sich das, was das Gefängnis heute in Wirklichkeit ist, wo also die weitaus meisten Gefangenen sitzen
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*Gómez Jaramillo, Alejandro (2008) Un mundo sin cárceles es posible. México: Ediciones Coyoacán
*Gómez Jaramillo, Alejandro (2008) Un mundo sin cárceles es posible. México: Ediciones Coyoacán
*Hochschild, Adam (2007) Sprengt die Ketten. Der entscheidende Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Stuttgart: Klett-Cotta.
*Hochschild, Adam (2007) Sprengt die Ketten. Der entscheidende Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Stuttgart: Klett-Cotta.
*Lindenberg, Michael (1992) Die Überwindung der Mauern: das elektronische Halsband. München: SPAK.
*Schumann, Karl (1988) Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse, in: Karl F. Schumann, Heinz Steinert, Michael Voß, Hg., Vom Ende des Strafvollzugs.
*Schumann, Karl (1988) Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse, in: Karl F. Schumann, Heinz Steinert, Michael Voß, Hg., Vom Ende des Strafvollzugs.
*Scott, David (2012) Why Prison? Cambridge: Cambridge University Press
*Scott, David (2012) Why Prison? Cambridge: Cambridge University Press
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