Abschaffung der Gefängnisse: Unterschied zwischen den Versionen

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::::Cesar Beccaria, Über Verbrechen und Strafen. Livorno 1764 (dt. Ausgabe von 1966: 12)
::::Cesar Beccaria, Über Verbrechen und Strafen. Livorno 1764 (dt. Ausgabe von 1966: 12)


::... das Gefängnis, das Einschließungsmilieu schlechthin (...). Wir befinden uns in einer allgemeinen Krise aller Einschließungsmilieus (...). Eine Reform nach der anderen wird (...) für notwendig erklärt (...). Aber jeder weiß, daß diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben. Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen.
::Wir befinden uns in einer allgemeinen Krise aller Einschließungsmilieus (...). Eine Reform nach der anderen wird (...) für notwendig erklärt (...). Aber jeder weiß, daß diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind. Es handelt sich nur noch darum, ihre Agonie zu verwalten und die Leute zu beschäftigen, bis die neuen Kräfte, die schon an die Türe klopfen, ihren Platz eingenommen haben. Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen.


::::Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. L'autre journal, Nr. I, Mai 1990.
::::Gilles Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. L'autre journal, Nr. I, Mai 1990.


Für die kritische Kriminologie steht die Abschaffung der Gefängnisse nicht auf der praktisch-politischen Tagesordnung. Wohl aber stellt die radikale Infragestellung der Idee und der Praxis der Freiheitsstrafe einen passenden gedanklichen Horizont dar, um Entwicklungen einordnen und vollzugspolitische Ideen entwickeln oder bewerten zu können. Wo auch immer wir es mit rechtlich fundierten repressiven Zwangsverhältnissen zu tun haben (ob bei der Sklaverei, der Leibeigenschaft, der Entrechtung von Minderheiten oder im Bereich staatlichen Strafens): nur wer implizit oder explizit abolitionistisch denkt, d.h. wer es vermag, von der Arbeitshypothese der Illegitimität, der Überwindungsbedürftigkeit und der Abschaffbarkeit solcher Verhältnisse auszugehen, wird in der Lage sein, sich der Indienstnahme durch den Status Quo und dem schließlichen Aufgehen in ihm zu entziehen. Mehr noch: das ''primum movens'' aller gesellschaftlichen Veränderung ist immer noch der Mensch, sind Gruppen, Koalitionen, Bewegungen, die auf der Grundlage von Glaubenssystemen agieren - von Überzeugungen darüber, wo ihre Interessen liegen, aber auch von Überzeugungen in Bezug auf Ideale. Thomas Clarkson als der eigentliche Motor der britischen Anti-Sklavenhandels-Bewegung hatte zunächst gründlichst über die theoretische Frage nachgedacht, ob es gerechtfertigt sein könne, andere Menschen zu versklaven (und mit seiner lateinischen Dissertation über dieses Thema im Jahre 1785 einen Preis der Universität Cambridge gewonnen), bevor er zwei Jahre später mit elf weiteren Gesinnungsgenossen die Gruppe gründete, die Jahrzehnte später das für die Allgemeinheit durchaus blauäugig-traumtänzerisch erscheinende Ziel erreichen sollte. Von selbst passiert jedenfalls nichts - und ohne ''belief systems'' erst recht nichts. Und die Argumente gegen die Sklaverei waren glücklicherweise gut durchdacht, auch wenn sie es gegenüber den Interessen der Herrschenden und ihrem überlegenen "Realismus" schwer hatten (Hochschild 2007).
Für die kritische Kriminologie steht die ersatzlose Abschaffung oder die Ablösung des Gefängnisses - des Einschließungsmilieus schlechthin (Gilles Deleuze) - durch etwas Besseres nicht auf der To-Do-Liste für heute oder morgen. Wohl aber stellt die radikale Infragestellung der Idee und der Praxis der Freiheitsstrafe einen passenden gedanklichen Horizont zur Verfügung, um Entwicklungen einordnen und vollzugspolitische Ideen entwickeln oder bewerten zu können. Wo auch immer wir es mit rechtlich fundierten repressiven Zwangsverhältnissen zu tun haben (ob bei der Sklaverei, der Leibeigenschaft, der Entrechtung von Minderheiten oder im Bereich staatlichen Strafens): nur wer implizit oder explizit abolitionistisch denkt, d.h. wer es vermag, von der Arbeitshypothese der Illegitimität, der Überwindungsbedürftigkeit und der Abschaffbarkeit solcher Verhältnisse auszugehen, wird in der Lage sein, sich der Indienstnahme durch den Status Quo und dem schließlichen Aufgehen in ihm zu entziehen. Mehr noch: das ''primum movens'' aller gesellschaftlichen Veränderung ist immer noch der Mensch, sind Gruppen, Koalitionen, Bewegungen, die auf der Grundlage von Glaubenssystemen agieren - von Überzeugungen darüber, wo ihre Interessen liegen, aber auch von Überzeugungen in Bezug auf Ideale. Thomas Clarkson als der eigentliche Motor der britischen Anti-Sklavenhandels-Bewegung hatte zunächst gründlichst über die theoretische Frage nachgedacht, ob es gerechtfertigt sein könne, andere Menschen zu versklaven (und mit seiner lateinischen Dissertation über dieses Thema im Jahre 1785 einen Preis der Universität Cambridge gewonnen), bevor er zwei Jahre später mit elf weiteren Gesinnungsgenossen die Gruppe gründete, die Jahrzehnte später das für die Allgemeinheit durchaus blauäugig-traumtänzerisch erscheinende Ziel erreichen sollte. Von selbst passiert jedenfalls nichts - und ohne ''belief systems'' erst recht nichts. Und die Argumente gegen die Sklaverei waren glücklicherweise gut durchdacht, auch wenn sie es gegenüber den Interessen der Herrschenden und ihrem überlegenen "Realismus" schwer hatten (Hochschild 2007).


Wie ist es nun um die Freiheitsstrafe bestellt? Wie steht es um die Argumente, die sich gegen sie auffahren lassen? Wie steht es um die Chance ihrer Abschaffung? Und vor allem: müsste man sich nicht jetzt schon überlegen, was an ihre Stelle treten könnte/sollte? Was sagt die kritische Kriminologie? Was könnte, was müsste sie sagen?  
Wie ist es nun um die Freiheitsstrafe bestellt? Wie steht es um die Argumente, die sich gegen sie auffahren lassen? Wie steht es um die Chance ihrer Abschaffung? Und vor allem: müsste man sich nicht jetzt schon überlegen, was an ihre Stelle treten könnte/sollte? Was sagt die kritische Kriminologie? Was könnte, was müsste sie sagen?  
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Einerseits ist die die moderne Freiheitsstrafe - also die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert religiös-humanistisch begründete und auf die Besserung der Gefangenen abzielende Sanktionsform - ein Riesenerfolg. Und dies sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht. Qualitativ, weil sich sich hier eine zum Steinerweichen anrührende Fortschrittsgeschichte erzählen lässt, die von den unhygienischen, obszönen und lebensgefährlichen Bedingungen der prämodernen Gemeinschaftshaft, die John Howard (1777) beschrieben hatte, über die "Geburt des Gefängnisses" (Foucault 1976) im Zeichen strenger Einzelhaft und den deutlich sozialeren Stufenstrafvollzug bis zum heutigen Strafvollzugsgesetz, zu den halboffenen und offenen und den sozialtherapeutischen Anstalten reicht und damit eindringlich Zeugnis ablegt von der zunehmenden Humanisierung des Strafens - und quantitativ, weil das, was 1795 im endlich fertig gestellten Penitentiary-Anbau des Walnut Street Gefängnisses von Philadelphia mit ganzen 16 Einzelzellen anfing, sich mittlerweile über die ganze Welt verbreitet hat und an jedem beliebigen Tag des Jahres nicht weniger als zehn Millionen Menschen beherbergt, versorgt und bestraft - und das trotz der im globalen Maßstab überaus dramatischen Überfüllung mit immer noch steigender Tendenz, weil die Nachfrage nicht nachlässt, auch wenn gegenwärtig schon so viele Menschen wie noch nie hinter Schloss und Riegel sitzen.  
Einerseits ist die die moderne Freiheitsstrafe - also die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert religiös-humanistisch begründete und auf die Besserung der Gefangenen abzielende Sanktionsform - ein Riesenerfolg. Und dies sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht. Qualitativ, weil sich sich hier eine zum Steinerweichen anrührende Fortschrittsgeschichte erzählen lässt, die von den unhygienischen, obszönen und lebensgefährlichen Bedingungen der prämodernen Gemeinschaftshaft, die John Howard (1777) beschrieben hatte, über die "Geburt des Gefängnisses" (Foucault 1976) im Zeichen strenger Einzelhaft und den deutlich sozialeren Stufenstrafvollzug bis zum heutigen Strafvollzugsgesetz, zu den halboffenen und offenen und den sozialtherapeutischen Anstalten reicht und damit eindringlich Zeugnis ablegt von der zunehmenden Humanisierung des Strafens - und quantitativ, weil das, was 1795 im endlich fertig gestellten Penitentiary-Anbau des Walnut Street Gefängnisses von Philadelphia mit ganzen 16 Einzelzellen anfing, sich mittlerweile über die ganze Welt verbreitet hat und an jedem beliebigen Tag des Jahres nicht weniger als zehn Millionen Menschen beherbergt, versorgt und bestraft - und das trotz der im globalen Maßstab überaus dramatischen Überfüllung mit immer noch steigender Tendenz, weil die Nachfrage nicht nachlässt, auch wenn gegenwärtig schon so viele Menschen wie noch nie hinter Schloss und Riegel sitzen.  


Andererseits ist der Blick auf die globale Realität des Strafvollzugs überaus ernüchternd. Denn die überwältigende Mehrheit aller Gefangenen findet sich keineswegs in Europa oder Australien, sondern in Afrika, Asien und den Amerikas. Und in diesem Teil der Welt erweist sich die Humanisierungsgeschichte des Strafvollzugs als pure Fata Morgane. Statt einer Richtung nach oben sieht man hier etwas ganz Anderes, nämlich wie sich der Kreis schließt. Dort ist man wieder da angelangt, wo John Howard einst begann: bei der Massenverwahrung ohne Sinn und Verstand, ohne Menschlichkeit und Empathie - unter hygienischen Verhältnissen, in einer Enge und Gewalthaltigkeit, die der Beschreibung spotten. Wir sind aber nicht nur wieder dort, wo alles begann, sondern selbst die Geschichte der zunehmenden Liberalisierung des pennsylvanischen Vollzugs wird hier brutal entmystifiziert. Sowohl in den Kerkern Afrikas und Asiens als auch im ultratechnizistischen Strafvollzug der USA ist seit einigen Jahrzehnten zu bemerken, wie sich auch hier der Kreis zu schließen beginnt. Wer in armen Ländern das Pech hat, überhaupt noch als Individuum wahrgenommen zu werden, den erwarten nur allzu häufig Extraqualen wie im Black Beach Gefängnis von Äquatorialguinea im südsaharischen Afrika - systematische Folter und die Versagung von Körperhygiene und ärztlicher Hilfe, ununterbrochener angeketteter Zellenaufenthalt und Unterversorgung mit Nahrung bis zum Verhungern (einige der Gefangenen sitzen dort ein, weil sie 2004 an einem Putschversuch gegen Präsidenten des Landes, einen ehemaligen Leiter genau dieser Anstalt, beteiligt waren). Und wer in den USA nicht als Nummer in der Massenverwahrung landet, den erwartet die Heimsuchung der Isolationsfolter in Supermax Prisons und den sogenannten CMUs, den Communication Management Units. Da ist sie wieder: die Einzelhaft pur und grausam, nur diesmal ohne die gutwillige Naivität ihrer damaligen Erfinder - diesmal auch als Folter gemeint.
Andererseits ist der Blick auf die globale Realität des Strafvollzugs (und die wird nicht durch die relativ belanglosen Verhältnisse in Europa oder Australien bestimmt, sondern für die überwältigende Mehrheit aller Gefangenen durch die Territorien, wo sie eingesperrt sind, nämlich in Afrika, Asien und den Amerikas) ernüchternd bis zum Abwinken. Und dort, in der dominanten Realität dessen, was Gefängnis bedeutet, haben die Narrative unserer Lehrbücher keinerlei Geltung. Die Humanisierungsgeschichte entpuppt sich dort als Fata Morgana. Dort ist zu besichtigen, dass es nicht vorwärts geht, sondern im Kreis, und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens ist man da wieder dort angelangt, wo John Howard einst begann: bei der Massenverwahrung ohne Sinn und Verstand, ohne Anspruch auf Resozialisierung und ohne Empathie. Gestank, Misshandlung, Enge und Gewaltm die der Beschreibung spotten - in Afrika und Asien, in Lateinamerika und auf eigene Art auch in der ''mass incarceration'' in den USA. Hier schließt sich der Kreis von der Skandalisierung der bloßen Verwahrung im späten 18. Jahrhundert über das ''rehabilitative ideal'' und dessen Niedergang zurück zur gedankenlosen Massenverwahrung. Wir sind aber nicht nur wieder dort, wo alles begann, sondern selbst die Geschichte der zunehmenden Liberalisierung des pennsylvanischen Vollzugs wird hier brutal entmystifiziert. Sowohl in den Kerkern Afrikas und Asiens als auch im ultratechnizistischen Strafvollzug der USA ist seit einigen Jahrzehnten zu bemerken, wie sich auch hier der Kreis zu schließen beginnt. Wer in armen Ländern das Pech hat, überhaupt noch als Individuum wahrgenommen zu werden, den erwarten nur allzu häufig Extraqualen wie im Black Beach Gefängnis von Äquatorialguinea im südsaharischen Afrika - systematische Folter und die Versagung von Körperhygiene und ärztlicher Hilfe, ununterbrochener angeketteter Zellenaufenthalt und Unterversorgung mit Nahrung bis zum Verhungern (einige der Gefangenen sitzen dort ein, weil sie 2004 an einem Putschversuch gegen Präsidenten des Landes, einen ehemaligen Leiter genau dieser Anstalt, beteiligt waren). Und wer in den USA nicht als Nummer in der Massenverwahrung landet, den erwartet die Heimsuchung der Isolationsfolter in Supermax Prisons und den sogenannten CMUs, den Communication Management Units. Da ist sie wieder: die Einzelhaft pur und grausam, nur diesmal ohne die gutwillige Naivität ihrer damaligen Erfinder - diesmal auch als Folter gemeint.


ie Behauptung eines Fortschritts im Strafvollzug Erfolgsgeschichte spielt sich das, was das Gefängnis heute in Wirklichkeit ist, wo also die weitaus meisten Gefangenen sitzen
ie Behauptung eines Fortschritts im Strafvollzug Erfolgsgeschichte spielt sich das, was das Gefängnis heute in Wirklichkeit ist, wo also die weitaus meisten Gefangenen sitzen
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== Literatur ==
== Literatur ==
 
*Allen, Francis A. (1981) The Decline of the Rehabilitative Ideal: Penal Policy and Social Purpose. New Haven: Yale University Press
*Davis, Angela Y. Are Prisons Obsolete?  
*Davis, Angela Y. Are Prisons Obsolete?  
*Hochschild, Adam (2007) Sprengt die Ketten. Der entscheidende Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Stuttgart: Klett-Cotta.
*Hochschild, Adam (2007) Sprengt die Ketten. Der entscheidende Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Stuttgart: Klett-Cotta.
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