Kriminalprognose: Unterschied zwischen den Versionen

1.066 Bytes hinzugefügt ,  23:35, 10. Feb. 2008
Zeile 25: Zeile 25:
(1) Nutzung
(1) Nutzung


Individuelle Kriminalprognosen werden in der Praxis am häufigsten in der Form schriftlicher (und/oder mündlicher) psychologischer und psychiatrischer Gutachten erstellt. Meist geht es um Strafgefangene (oder um die Insassen anderer freiheitsentziehender Institutionen) und um die Ausgestaltung, das Andauern oder die Veränderung der Modalitäten des Freiheitsentzugs.
Individuelle Kriminalprognosen werden wohl am häufigsten von Bediensteten des Straf- und Maßregelvollzugs sowie von externen GutachterInnen erstellt. In beiden Fällen geht es in der Regel um Strafgefangene (oder um die Insassen anderer freiheitsentziehender Institutionen) und um die Ausgestaltung, das Andauern oder die Veränderung der Modalitäten des Freiheitsentzugs. Externe GutachterInnen spielen eine Rolle bei der Einweisung in den Maßregelvollzug oder in die Sicherungsverwahrung, bei Lockerungen und Entlassungen aus dem Maßregelvollzug, bei der Entlassung aus lebenslanger Haft, bei dem Aussetzen von Reststrafen zur Bewährung bei Sexual- und Gewaltstraftätern oder bei der Sicherungsverwahrung. Es geht also in verschiedenen Facetten immer um Freiheit oder Unfreiheit. Von anstaltsintern Beschäftigten werden Prognosen in großer Häufigkeit über die Aufnahme in eine sozialtherapeutische Abteilung, über Lockerungen oder Urlaub aus der Strafhaft und über sonstige Entscheidungen über die Modalitäten der Haft erstellt.
 
Außerhalb des kriminalrechtlichen Kontextes geht es um Prognosen im Zusammenhang mit Asylverfahren (Frage der Behandlungsprognose, bzw. der Beurteilung von Rückführungshindernissen), mit der zivilrechtlichen Unterbringung nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen der Länder, mit Sorgerechts- und Sozialrechtsverfahren (vorzeitige Berentung).  
Vor Gericht spielen Gutachten von anstaltsexternen Sachverständigen z.B. eine Rolle: bei der Einweisung in den Maßregelvollzug oder in die Sicherungsverwahrung, bei Lockerungen und Entlassungen aus dem Maßregelvollzug, bei der Entlassung aus lebenslanger Haft, bei dem Aussetzen von Reststrafen zur Bewährung bei Sexual- und Gewaltstraftätern oder bei der Sicherungsverwahrung. Es geht also in verschiedenen Facetten immer um Freiheit oder Unfreiheit.
 
Von anstaltsintern Beschäftigten werden Prognosen in großer Häufigkeit über die Aufnahme in eine sozialtherapeutische Abteilung, über Lockerungen oder Urlaub aus der Strafhaft und über sonstige Entscheidungen über die Modalitäten der Haft erstellt.


In Deutschland kam es nach 1998 aufgrund des damals eingeführten Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten zu einer erhöhten Nachfrage der Justiz nach solchen individuellen Kriminalprognosen.
In Deutschland kam es nach 1998 aufgrund des damals eingeführten Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten zu einer erhöhten Nachfrage der Justiz nach solchen individuellen Kriminalprognosen.
Zeile 53: Zeile 50:
Manche Verfahren mit rückfallprognostischen Aspekten - wie etwa das Level of Service Inventory (LSI-R) oder das Youth Level of Service/Case Management Inventory (YLS/CMI) - dienen eher der Diagnose der Behandlungsbedürfnisse und dem Risikomanagement. Hier geht es weniger darum, die Rückfallwahrscheinlichkeit einzuschätzen, als darum, Bedingungen so zu verändern, dass es möglich wird, den Rückfall zu vermeiden.
Manche Verfahren mit rückfallprognostischen Aspekten - wie etwa das Level of Service Inventory (LSI-R) oder das Youth Level of Service/Case Management Inventory (YLS/CMI) - dienen eher der Diagnose der Behandlungsbedürfnisse und dem Risikomanagement. Hier geht es weniger darum, die Rückfallwahrscheinlichkeit einzuschätzen, als darum, Bedingungen so zu verändern, dass es möglich wird, den Rückfall zu vermeiden.


(4) Zuverlässigkeit
(4) Zuverlässigkeit von Verfahren


Vor allem für statistische Verfahren gilt: Noch ist die Erprobungsphase bei vielen Verfahren noch nicht abgeschlossen. Besonders die deutschen Versionen angloamerikanischer Instrumente befinden sich meist noch im Prozess systematischer Validierung. Die statistischen Verfahren haben zudem typischerweise mit der sog. Mittelfeld-Problematik zu tun. Die meisten Probanden werden sich dank der Normalverteilungskurve in der Mitte wiederfinden, wo sie keine eindeutige Prognose erhalten ("Tendenz zur Mitte"). Die juristische Entscheidung ist aber eine Ja/Nein-Entscheidung und erfordert eine klare Wertung. Der Nutzen statistischer Verfahren ist damit für die große Zahl "mittlerer Fälle" eher gering. Darüber hinaus ist mangels Kreuzvalidierungen in unabhängigen Stichproben bei den quantitativen Verfahren die richtige Gewichtung einzelner Prädiktoren keineswegs gesichert.
Vor allem für statistische Verfahren gilt: Noch ist die Erprobungsphase bei vielen Verfahren noch nicht abgeschlossen. Besonders die deutschen Versionen angloamerikanischer Instrumente befinden sich meist noch im Prozess systematischer Validierung. Die statistischen Verfahren haben zudem typischerweise mit der sog. Mittelfeld-Problematik zu tun. Die meisten Probanden werden sich dank der Normalverteilungskurve in der Mitte wiederfinden, wo sie keine eindeutige Prognose erhalten ("Tendenz zur Mitte"). Die juristische Entscheidung ist aber eine Ja/Nein-Entscheidung und erfordert eine klare Wertung. Der Nutzen statistischer Verfahren ist damit für die große Zahl "mittlerer Fälle" eher gering. Darüber hinaus ist mangels Kreuzvalidierungen in unabhängigen Stichproben bei den quantitativen Verfahren die richtige Gewichtung einzelner Prädiktoren keineswegs gesichert.
Zeile 59: Zeile 56:
Vor allem für klinische Prognosen gilt: die Qualität von Prognosegutachten wird häufig und gravierend von methodischen Unzulänglichkeiten (Pseudotheorien, Zirkelschlüsse, schwammige Begriffe), von sozialen und moralischen Vorurteilen, von einer negativen Beziehung zwischen Gutachtern und Probanden sowie von sachfremden Rollenkonzepten der Gutachter bezüglich ihrer Stellung im Strafprozess beeinträchtigt (Verrel 1995, Wolff 1995).
Vor allem für klinische Prognosen gilt: die Qualität von Prognosegutachten wird häufig und gravierend von methodischen Unzulänglichkeiten (Pseudotheorien, Zirkelschlüsse, schwammige Begriffe), von sozialen und moralischen Vorurteilen, von einer negativen Beziehung zwischen Gutachtern und Probanden sowie von sachfremden Rollenkonzepten der Gutachter bezüglich ihrer Stellung im Strafprozess beeinträchtigt (Verrel 1995, Wolff 1995).


 
 
(5) Zuverlässigkeit von Gutachten
 
Obwohl die Gütekriterien von Gutachten im Prinzip bekannt sind, weisen Gutachten in der Praxis immer wieder erhebliche Mängel auf. Ob Schuldfähigkeits- oder Prognosegutachten: immer wieder fehlen Familien-, Sexual-, Eigen- und Deliktanamnesen, Angaben zum Krankheitsverlauf und testpsychologische Befunde; Vorbefunde werden unkritisch übernommen, die Auslösetat wird nicht hinreichend (z.B. im Hinblick auf psychotrope Substanzen) analysiert, der jüngere Entwicklungsverlauf des Begutachteten, seine Außenkontakte und Zukunftsperspektive werden nicht berücksichtigt. In diesem Sinne "schlecht" oder "sehr schlecht" sind sicherlich nicht alle Gutachten, wohl aber ein großer Teil - vielleicht die Hälfte.
 




(5) Klinische vs. diagnostisch-statistische Prognosestrategien
(6) Klinische vs. diagnostisch-statistische Prognosestrategien


Anstatt die klinische Einzelfallprognose und die auf statistischen Verfahren beruhenden Instrumente gegeneinander auszuspielen, haben Endres (2000) und Dahle (2005) Kombinationsverfahren vorgeschlagen, die eine differenzierte Datensammlung mit hoher Transparenz des Vorgehens verbinden.  
Anstatt die klinische Einzelfallprognose und die auf statistischen Verfahren beruhenden Instrumente gegeneinander auszuspielen, haben Endres (2000) und Dahle (2005) Kombinationsverfahren vorgeschlagen, die eine differenzierte Datensammlung mit hoher Transparenz des Vorgehens verbinden.  
31.738

Bearbeitungen