Zivile Sicherheitsforschung

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Zivile Sicherheitsforschung oder Forschung für die zivile Sicherheit beschäftigt sich mit allen nicht-militärischen Aspekten des Schutzes und der Rettung von Menschen sowie der Sicherheit von Gesellschaften, Warenketten, Infrastrukturen und Institutionen. Erklärtes Ziel von öffentlichen Sicherheitsforschungsprogrammen ist es, die Sicherheit der Bevölkerung zu erhöhen, Innovationsprozesse zu beschleunigen und die Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten für zivile Sicherheitsanwendungen zu verbessern. Sicherheit wird hierbei explizit als gesamtgesellschaftliche und somit disziplinübergreifende Herausforderung betrachtet (vgl. EC DG Home 2013 und BMBF 2012).

Etymologie

Das lateinische Wort civilis bedeutet bürgerlich, nicht militärisch, anständig und annehmbar und fand über das französische civil seinen Weg ins Deutsche. Die schon im Mittelhochdeutschen gebräuchliche Bezeichnung Sicherheit stammt vom althochdeutschen sihhurheit (Rettung, Selbstgewissheit, Sorgenfreiheit, Gefahrlosigkeit), wobei eine Abstammung vom lateinischen securitas höchstwahrscheinlich ist. Das Verb Forschen entwickelte sich aus dem germanischen furskon (suchen, fragen, erfragen) über das althochdeutsche forskon und das mittelochdeutsche vorschen (cf. Köbler 1995).

Definition

Der Begriff der zivilen Sicherheitsforschung ist nicht gesetzlich definiert. Aufgrund der potentiellen Tangierung sämtlicher wissenschaftlicher Disziplinen entzieht er sich zudem einer klaren thematischen Abgrenzung, die über die allgemeinen und ebenfalls unzureichend umrissenen Formeln Innerer und äußerer Sicherheit hinausgeht, welche keinesfalls mit der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als juristischer Definition vergleichbar oder identisch sind. Mit „zivil“ im Kontext der Sicherheitsforschung ist nicht die Zivilgesellschaft gemeint, wodurch staatliches Handeln ausgegrenzt würde. Sie dient stattdessen lediglich der Unterscheidung zu „militärisch“. Somit sind auch landläufig als „uniformiert“ bezeichnete staatliche Aufgabenbereiche wie z.B. Polizei und Feuerwehr von dem Begriff eingeschlossen.

Während auf europäischer Ebene mittlerweile auch Entwicklungsprojekte im Bereich der zivilen Sicherheit durch die Forschungsprogramme gefördert werden, besteht in Deutschland noch eine strikte Unterscheidung zwischen Forschung und Entwicklung.

Begriffsentwicklung

Sicherheitsforschung (von englisch: security research; häufig auch abgekürzt als Sifo) und zivile Sicherheitsforschung werden im deutschsprachigen Raum meist synonym verwendet. Sowohl die Innere als auch die äußere Sicherheit werden adressiert. Dies geschieht allerdings in klarer Abgrenzung von militärischen Anwendungsgebieten. Dennoch wird gleichzeitig darauf verwiesen, dass in der militärischen Forschung erworbenes technologisches Know-how auch im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung verfügbar sein muss und umgekehrt; Technologien seien nicht per se „entweder oder“ zuzuordnen (Dual-Use-Technologien). Am Beispiel der Auslandseinsätze von Polizei und Technischem Hilfswerk zeige sich, dass eine klare und dauerhafte Trennung von militärischer und ziviler Sicherheitsforschung nur schwer stringent durchzuhalten ist. Es werde anerkannt, dass es aus gesellschaftlicher Sicht Forschungsbedarf zu den Auswirkungen des Technologietransfers aus dem militärischen in den zivilen Bereich gibt. Hierfür müssten klare Richtlinien und Kriterien entwickelt werden, um dem zivilen Charakter der Sicherheitsforschungsprogramme gerecht zu werden (WPA 2010: S. 7).

Die Differenzierung zwischen ziviler und militärischer Sicherheitsforschung erfolgt ergo nicht durch technologische Kategorien, sondern ausschließlich durch die im Vorfeld zu definierenden Sicherheitsszenarios.

Historie

Im Gegensatz zur Friedens- und Konfliktforschung, die ihre Grundlagen vor allem in den beiden Weltkriegen hat und sich somit schon relativ früh in der Politologie bzw. politischen Soziologie entwickeln konnte, gelangte die Innere und zivile Sicherheit erst in jüngerer Zeit in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung: Das Sicherheitsverständnis hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges im Zuge neuer gesellschaftlicher Herausforderungen durch Globalisierung, Internationalisierung und neue Technologien (vor allem im IT- und Kommunikationsbereich) grundlegend verändert. Ausschlaggebend waren die Anschläge vom 11. September 2001, die eine präzedenzlose Akzentuierung der Inneren Sicherheit (Homeland Security) zur Folge hatten. In der 2003 vorgestellten Europäischen Sicherheitsstrategie wird beispielsweise auf die beiden Hauptängste der EU-Bürger verwiesen, wonach diese sich vor allem durch internationalen Terrorismus und organisierte Kriminalität bedroht fühlen und weniger von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten. Erforschung und Entwicklung von neuen Sicherheitslösungen und –strategien, welche die neuen Bedrohungslagen adressieren sollen, könnten derweil aufgrund ihrer Komplexität nicht mehr durch die Sicherheitsorgane selbst abgedeckt werden. Aus diesem Grund werde nun die interdisziplinäre Herangehensweise der zivilen Sicherheitsforschung als Alternative herangezogen (z.B. GoP 2004: S.9 ff.).

Die zivile Sicherheitsforschung kann zurzeit als vorwiegend institutionalisierter und somit weniger akademischer Forschungsbereich beschrieben werden: Die Mehrheit aller so betitelten Aktivitäten orientiert sich an den nationalen und internationalen öffentlichen Sicherheitsforschungsprogrammen und Sicherheitsstrategien. Bislang hat sich die zivile Sicherheitsforschung nur in Europa und in Ansätzen in Nordamerika als dedizierter Forschungssektor etabliert.

Europäische Union

Im Jahr 2003 richtete die Europäische Kommission eine „Gruppe von Persönlichkeiten“ im Bereich der Sicherheitsforschung ein, deren Hauptaufgabe es war, Grundsätze und Prioritäten eines Europäischen Sicherheitsforschungsprogramms (European Security Research Programme – ESRP) vorzuschlagen. Im Anschluss an den Bericht „Forschung für die Sicherheit Europas“, den die Gruppe von Persönlichkeiten 2004 vorgelegt hatte, sprach sich die Kommission für die Einrichtung eines Europäischen Beirats für Sicherheitsforschung (European Security Research Advisory Board – ESRAB) aus. Der Beirat schlug 2006 in seinem Abschlussbericht unter anderem die Einrichtung eines Europäischen Forums für Sicherheitsforschung und Innovation (European Security Research and Innovation Forum – ESRIF) vor. Die Gründung des ESRIF wurde am 26. März 2007 in Berlin bekanntgegeben.

Als direkte Folge fand die zivile Sicherheitsforschung als eigenständiger Forschungsbereich Einzug in das siebte europäische Forschungsrahmenprogramm von 2007 bis 2013 (FP7). Auch ist sie Bestandteil des europäischen Rahmenprogramms „Sicherheit und Schutz der Grundfreiheiten“. Im achten Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 von 2014-2020 wird die zivile Sicherheitsforschung als zentrales Thema fortgeführt. Mehrere EU-Staaten haben unterdessen eigene nationale Sicherheitsforschungsprogramme aufgesetzt, die sich an den ESRIF-Eckpunkten orientieren. Zudem bleibt das ESRIF über die Dauer der bis dato ausgearbeiteten Sicherheitsforschungsprogramme hinaus bestehen, um langfristig den Forschungslücken und Bedarfslagen im Bereich der Sicherheit durch Vertiefung internationaler Zusammenarbeit und Ausweitung öffentlich-privater Partnerschaften (Puplic-Private-Partnerships) Rechnung zu tragen (vgl. ESRIF 2007).

Deutschland

Im Rahmen der durch die deutsche Bundesregierung der 16. Legislaturperiode (2005-2009) eingeleitete Hightech-Strategie wurde als Konsequenz der europäischen Beschlusslage 2007 ein erstes nationales Sicherheitsforschungsprogramm auf den Weg gebracht. Dieses lief 2011 aus, wird jedoch durch ein Folgeprogramm (Forschung für die zivile Sicherheit 2012-2017) fortgeführt. Die Forschungsprogramme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) werden vom sogenannten Wissenschaftlichen Programmausschuss Sicherheitsforschung begleitet, der maßgeblich zur inhaltlichen und strategischen Gestaltung beiträgt (BMBF 2011).

Deutschland stellt neben wenigen anderen EU-Ländern mit seiner föderalen Struktur der Inneren Sicherheit einen gewissen Sonderfall dar. Während es im Bereich der Wehrtechnik durchaus eine spezielle Ressortforschung gibt, haben die Landesinnenministerien keine entsprechenden Finanztitel für Forschungsprojekte. Zivile Sicherheitsforschung mit mehr als nur beratender staatlicher Beteiligung findet somit in Deutschland derzeit (2014) überwiegend im Rahmen der öffentlichen Forschungsprogramme statt. Ausnahmen sind spezielle Einrichtungen, die einen direkten Forschungsauftrag haben, wie z.B. das Kriminalistische Institut des Bundeskriminalamtes oder vergleichbare Organisationseinheiten der Landeskriminalämter.

Merkmale

Interdisziplinarität

Das herausragende Merkmal der zivilen Sicherheitsforschung in ihrer aktuellen Ausprägung ist der fast ausschließlich disziplinübergreifende Ansatz. Obwohl schon aufgrund der wirtschaftsfördernden Zielrichtung häufig technische Lösungen im Mittelpunkt stehen, sollen Innovationen im Bereich der zivilen Sicherheit auch organisatorische Konzepte und neue Handlungsstrategien beinhalten (vgl. VDI 2012). Auch reine nicht-technologische Sicherheitsforschung findet beispielsweise in Form von kriminologischen Studien oder soziologischen Erhebungen statt.

Sicherheit wird als öffentliches Gut verstanden, dessen Gewährleistung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist (vgl. Winzer et al. 2010). Die Balance von Sicherheit und Freiheit wird in sämtlichen Sicherheitsforschungsprogrammen als übergeordnetes Kriterium beschworen. Daher ist eine Interdisziplinarität von Sifo-Projekten mit Beteiligung der Geistes- und Sozialwissenschaften zwangsläufig. Hierdurch werden Fragestellungen hinsichtlich diverser Punkte wie z.B. Technikfolgenabschätzung, Wissenstransfer in die Öffentlichkeit, gesellschaftliche Akzeptanz von neuen Technologien, Definition von Privatsphäre, Datenschutz, Auswirkungen auf die Menschen- und Freiheitsrechte und Transparenz von Prozessen einbezogen (z.B. BMBF 2013).

Praxisbezug

Ein ebenfalls zentrales Charakteristikum der zivilen Sifo ist die Einbindung von sogenannten „Endnutzern“ wie z.B. Rettungsdiensten, Technischem Hilfswerk oder diversen Sicherheitsbehörden. Gründe hierfür sind das für die Projektförderung notwendige klare Anwendungsszenario und die Sicherstellung der Praxisrelevanz der zu erforschenden Fragestellungen, Lösungen und Strategien. Aufgrund dieses starken Anwendungsbezuges ist die jeweilige Ausprägung der zivile Sicherheitsforschung stark von der aktuellen Bedarfslage abhängig. In der Fortschreibung des Programms Innere Sicherheit der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder 2008/2009 wird daher beispielsweise konstatiert, die zivile Sicherheitsforschung werde über den Erfolg der Sicherheitspolitik mitentscheiden und müsse deshalb den vielfältigen und komplexen Aufgaben der Träger der öffentlichen Sicherheit entsprechen. Die zivilen Sicherheitsforschungsprogramme der EU und der deutschen Bundesregierung böten die Chance, den fragmentierten Markt der zivilen Sicherheit durch die Sicherheitsbehörden mitzugestalten (IMK 2009: S.70).

Lenkung durch den Staat

Die Forschung für die zivile Sicherheit ist in ihrer programmatischen Ausformung bislang vornehmlich staatlich gelenkt und unterliegt somit klar kontrollierten Zielrichtungen und Rahmenbedingungen. Dies wirft ggf. kritische Fragestellungen vor allem hinsichtlich langfristiger Entwicklungen auf, jedoch ist durch die Internationalität und starke Vernetzung der Sicherheitsforschungslandschaft eine gewisse Stabilität der vereinbarten Sifo-Grundsätze anzunehmen.

Auswirkungen und kriminologische Relevanz

Da die Innere Sicherheit in Deutschland Ländersache ist, stehen entsprechend keine Bundesmittel für diesbezügliche Forschung zur Verfügung. Die Länder verfügen zudem über keine ausreichend großen Budgets, um neben den Alltagsaufgaben große Forschungsprojekte zu finanzieren. Daher sind beispielsweise die Polizeien der Länder beim Betreiben von Forschungsvorhaben zwingend auf Fördermittel angewiesen und somit an die interdisziplinären Rahmenbedingungen gebunden, die derzeit maßgeblich sind. Eine Abkopplung von ethischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Forschung ist folglich in der Praxis kaum möglich. Konkrete Auswirkungenen können wegen der kurzfristigen Entwicklungn kaum wissenschaftlich beleuchtet werden. Es ist jedoch zu beobachten, dass forschende Industrie und akademische Wissenschaft durch interdisziplinäre Sifo-Projekte bereits jetzt enger mit Behörden zusammenarbeiten und der Wissensaustausch intensiviert wird.

Das Voranstellen eindeutiger Anwendungsszenarios und das Aufzeigen belegbarer Forschungslücken in Form von praktischen Bedarfen stellen als grundlegende Ansätze entgegen häufig postulierter präventivstaatlicher Tendenzen ein reaktives Instrumentarium dar. Die elementare Einbindung geisteswissenschaftlicher Disziplinen und nicht-staatlicher Institutionen ist zudem gewissermaßen ein Novum. Hieraus ergeben sich eventuell Chancen für die Weiterentwicklung und praktische Gestaltung der Sicherheitspolitik über den besseren Einblick der staatlichen Akteure - vor allem auch an der Basis - in die akademischen Forschung (und umgekehrt): So könnte Ergebnissen von interdisziplinären Forschungsprojekten mit Beteiligung staatlicher Sicherheitsorgane größeres Gewicht bei politischen Entscheidungen eingeräumt werden. Die zivile Sicherheitsforschung könnte dann als Mechanismus gesehen werden, der dem in der Kriminologie oft beschriebenen schwindenden Einfluss von Expertenwissen in der Kriminalpolitik (vgl. Loader 2006) entgegenwirkt.

Literatur

  • Deutsches Bundesministerium für Bildung und Forschung (2011): Sicherheitsforschung: Wissenschaftlicher Programmausschuss. URL: [1] (02.03.2014)
  • Deutsches Bundesministerium für Bildung und Forschung (2012): Sicherheitsforschung. URL: [2] (06.03.2014)
  • Deutsches Bundesministerium für Bildung und Forschung (2013): Sicherheitsforschung: Gesellschaftliche Aspekte der zivilen Sicherheitsforschung. URL: [3] (29.02.2014)
  • European Commission DG Home Affairs: Security Research (2013): Security Research. URL: [4] (06.03.2014)
  • European Security Research and Innovation Forum (2007): Public-Private Dialogue in Security Research. URL: [5] (02.03.2014)
  • Group of Personalites in the Field of Security Research (Hg.): Research for a Secure Europe. Luxembourg: Office for Official Publications of the European Communities, 2004
  • Köbler, Gerhard (1995): Deutsches Etymologisches Wörterbuch. URL: [6] (06.03.2014)
  • Loader, Ian (2006): Fall of the Fall of the ‘Platonic Guardians’. In: British Journal of Criminology 46 (4), S. 561-586.
  • Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) (Hg.): Fortschreibung des Programms Innere Sicherheit 2008/2009. Potsdam: Landesvermessung und Geobasisinformation Brandenburg, 2009
  • VDI Technologiezentrum GmbH (2012): Sicherheitsforschung. URL: [7] (06.03.2014)
  • Winzer, Peter / Schnieder, Ekkehard / Bach, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Sicherheitsforschung – Chancen und Perspektiven. acatech DISKUTIERT. Berlin u.a.: Springer, 2010

Weblinks