Wien 2012

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Die Funktion der Strafe

Die Strafe ist nichts anderes als der für die kontrafaktische Aufrechterhaltung des Normgeltungsanspruchs erforderliche Widerspruch zur Negation des Rechts, die in der Begehung der Straftat lag. Das heißt aber auch, dass die von vielen Leuten behauptete Unwirksamkeit der Strafe ein Märchen ist: denn ihre Funktion erfüllt die Strafe schon allein dadurch, dass sie erfolgt. Sie ist eine fühlbare Sanktion für den Täter und sie symbolisiert nachdrücklich, dass die Gesellschaft trotz der Verletzung des Rechts an dem Anspruch der Norm auf Geltung festhält und auch jeden anderen, der sie verletzt, bestrafen wird. Die Norm überlebt ihre Verletzungen, weil die Täter bestraft werden. Das ist die Funktion der Strafe: nicht die Besserung der Straftäter, sondern die öffentlich sichtbare Validierung der Norm gegenüber ihren Verächtern und die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung des Rechtsvertrauens der rechtstreuen, aber durch allzu viele Normbrüche vielleicht ins Grübeln gekommenen Bevölkerung.

Kosten der Behandlung im Strafkontext

Der Strafkontext sorgt dafür, dass so gut wie jedes Element der klassischen Therapie modifiziert wird - teilweise bis zur Unkenntlichkeit. Im klassischen Fall kommt der Patient freiwillig zum Therapeuten, weil er unter sich selbst leidet und sich im gleichberechtigten Zusammenwirken - im Behandlungspakt - mit dem Therapeuten von diesem Leidensdruck befreien möchte. So viel ist ihm diese Hilfe-Hoffnung wert, dass er die Behandlung selbst und teuer bezahlt. Das verstärkt die sowieso schon starke Motivation noch einmal weiter.

Von dieser Therapeut-Klient-Dyade kann man bei Behandlungen im Strafkontext nur träumen. Statt mit einer Dyade haben wir es mit einer Triade zu tun: Auftrag und Bezahlung kommen vom Staat, nicht vom Klienten. Der ist oft widerspenstig - und obwohl er den Kontakt vielleicht von sich aus sucht, tut er das nicht aus innerem Leidensdruck, sondern aus dem Wunsch heraus, die Situation zu verbessern, die ihn gefangenhält - oder möglichst schnell aus dieser Situation herauszukommen. Ehe ein Patient sich öffnet und eine Behandlungsmotivation im klassischen Sinne entwickelt, können durchaus Monate und nicht ganz selten Jahre vergehen. Von einem Behandlungspakt zwischen den drei Parteien kann keine Rede sein: zu unterschiedlich sind die Interessen und die Mitwirkungen der Beteiligten. Der Staat ist allgegenwärtig, aber irgendwie auch nie zu fassen und als Person nicht anwesend. Zumal der Staat auch mit seinem Strafanspruch und nicht nur mit dem Besserungsangebot zugegen ist. Mit anderen Worten: der Strafkontext schafft unweigerlich eine antagonistische Grundstruktur der behandlerischen Situation. Die Strafe beabsichtigt und realisiert eine fühlbare Verschlechterung des Zustands und der Befindlichkeit des Straftäters, während die Behandlung eine fühlbare Verbesserung des Zustands und der Befindlichkeit des Klienten intendiert. Nur dass Straftäter und Klient eben eine Person sind und in einer Situation existieren, deren Gespaltenheit und Widersprüchlichkeit zudem nicht nur sie selbst aushalten müssen, sondern auch die Behandlerinnen und Behandler.

Wie es der Psychologe Willi Pecher (2011: 30) aus dem Arbeitskreis Sozialtherapeutischer Einrichtungen formuliert: "Da Triaden häufig eine kurze Halbwertszeit haben und in ein Paar und einen augeschlossenen Dritten zerfallen, besteht für den Therapeuten im Gefängnis die Gefahr zweier Konstellationen, die die Therapie bedrohen: Die Überidentifikation mit dem Patienten verbunden mit feindseliger Ablehnung der Institution oder die Überidentifikation mit der Institution verbunden mit einer strafenden, abwertenden Grundhaltung gegenüber dem Patienten. Dass diese Gefahr der Spaltung bei persönlichkeitsgestörten Patienten noch durch deren innere Abwehrdynamik verstärkt wird, braucht nicht besonders ausgeführt zu werden."

Der Strafkontext führt häufig auch zu einer Art unbewußter Selbstzensur der Behandler. Dass sich die in der klnischen Psychologie allgemein anerkannte Tatsache, dass Ressourcenaktivierung wesentlich den Therapieerfolg beeinflusst, im Rahmen der Straftäterbehandlung erst langsam durchsetzt (vgl. Suhling, 2007), zeigt zugleich, "wie die Rahmenbedingungen der Behandlung auf die Therapie selbst Einfluss nehmen: Die Fixierung auf Defizite drängt sich bei Straffälligen geradezu auf. Oft wurde angemerkt, dass Gefangene nicht resozialisiert, sondern überhaupt erst sozialisiert werden müssen. Ressourcen wurden ihnen also weitgehend abgesprochen. Ähnliches gilt für die Anerkennung der Wichtigkeit des Wirkfaktors therapeutische Beziehungsgestaltung. Um die Gefahr der Ausnützung und Manipulation zu begrenzen, erscheint es auf den ersten Blick tunlicher, sich allein an klaren Vorgaben zu orientieren". Dabei übersieht man dann aber leicht, "dass die Therapiebeziehung als zentrales Agens auch und gerade bei Persönlichkeitsgestörten genutzt werden muss" (Pecher 2011: 30 f.; Pecher 2004).

Die kommende Krise

Behandlung im Strafkontext verursacht exorbitante materielle und immaterielle Kosten, die letztlich allesamt auf das Konto der widersprüchlichen Situation gehen. Um vergleichbare Erfolge zu erzielen wie in einer freien Therapie bedarf es unter den erschwerten Bedingungen des Strafkontextes eines vielfachen Aufwands. Da es aber kein entsprechend Vielfaches an Therapeuten im Vollzug und ähnlichen Einrichtungen gibt, bedeutet das: ein Vielfaches des Einsatzes, des Engagements, unter widrigen Bedingungen. Dauerhaft erhöhte Anforderungen bei strukturell und damit auch personell frustrierenden Randbedingungen führen zu einem Defizit an Anerkennung, zu einem Ungleichgewicht zwischen Arbeitsleben und Leben im Sinne der work-life-balance, und damit sind alle Voraussetzungen für Burn-Out und Depression gegeben, für sekundäre Probleme im Familienleben und für alle möglichen Stabilisierungsversuche durch Krankschreibungen, Verschreibung von Antidepressiva oder Selbstverschreibung von Alkoholika oder anderen psychoaktiven Substanzen bis hin zur Arbeitsunfähgkeit. Der Staat ist sowohl die Quelle der Bestrafung als auch der Behandlung und generiert schon dadurch innerhalb der Anstalten, in denen behandelt wird, die bekannten Zielkonflikte, die dauernden Reibungen, Frustrationen, Missverständisse und Krankheitsbilder, die in erschreckender Regelmäßigkeit die Bandscheibe, den Kopf, den Pillenkonsum, die Depression und die verschiedenen Burn-Out-Symptome umfassen. Es gibt eben nicht nur eine Art Budget des Verbrechens, das dazu führt, dass in jedem Jahr immer wieder eine ähnliche Anzahl der jeweiligen Delikte begangen wird, sondern auch eine Art Budget des Leidens bei den Fachdiensten im Strafvollzug, das dafür sorgt, dass in jedem Jahr immer wieder eine ähnliche Anzhal von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu flüchten versucht: zum Arzt, zur Kur und in den vorzeitigen Ruhestand - oder aber in die innere Emigration. Hohe Fehlzeiten sind kein massenhaftes individuelles Problem, sondern untrügliche Anzeichen strukturbedingter Verschleißerscheinungen, bzw. von Kosten der widersprüchlichen Anforderungen von Behandlung im Strafkontext, die auf die Nerven und die Gesundheit der Bediensteten abgewälzt oder externalisiert werden. Angesichts einer durch demographische und gesetzgeberische Veränderungen immer schwieriger werdenden Klientel - man denke nur an die Gesetzesänderungen von 1998 - ist für die Zukunft die Prognose leicht zu erstellen, dass wir es mit immer mehr psychosomatischen Erkrankungen bei den psychologischen Fachdiensten zu tun bekommen werden und auf eine gigantische Krise des gesamten Straf-Behandlungs-Komplexes zusteuern.


Wenn die heutige Kohabitation von Strafe und Behandlung - wie mir scheint - immer mehr Risse bekommt und das System unter dem Druck, dem es ausgesetzt ist, immer vernehmlicher ächzt und stöhnt, dann ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, dass es entweder zu einem Rückfall in Zeiten ausschließlicher Bestrafung kommt (man denke an das Feindstrafrecht und seine Tendenz zur weiteren Informalisierung bis hin zu gezielten Tötungen ohne jeden Kontakt mit Ermittlungs- oder gar Strafverfahren) - oder aber zu einer Behandlung von Rechtsbrechern, die das Strafsystem nicht mehr braucht und die sich vom Strafsystem nicht mehr bevormunden lässt.

Jenseits der Strafe

Jenseits des Strafkontexts - wie soll das gehen? Wie in aller Welt sollten sich die Kosten der Amalgamierung bzw. Kohabitation von Behandlung und Strafe jemals verringern oder ganz vermeiden lassen? Müßte man dazu nicht das ganze System überwinden? Und hatten wir nicht gerade festgestellt, dass die Strafe eine unverzichtbare gesellschaftliche Funktion erfüllt - nämlich die der Aufrechterhaltung des Geltungsanspruchs von Normen? Und dass es ohne normative Ordnung in einer Gesellschaft nun einmal nicht geht?

Hier kommen wir zu einem Thema, über das sich in der rechtswissenschaftlichen Literatur fast nie etwas findet und das auch sonst allzu selten angesprochen wird. Es ist das Thema der Funktion der Strafe unter dem Gesichtspunkt der funktionalen Äquivalente. Es ist von größter Wichtigkeit, wenn man sich fragt, inwiefern positive Entwicklungen aus dem Dilemma der Behandlung im Strafkontext möglich sind.

Zentral ist hier folgender Gedanke. Wenn die Strafe eine unverzichtbare Funktion erfüllt, dann wird daraus regelmäßig geschlossen, dass die Strafe selbst unverzichtbar sei. Das ist aber ein Fehlschluss. Nicht die Strafe ist unverzichtbar, sondern die Funktion, die sie erfüllt. Solange die Funktion erfüllt wird, ist alles in Ordnung. Wenn die Funktion durch die Strafe erfüllt wird, ist es o.ki., wenn sie aber durch etwas anderes - ein Äquivalent - erfüllt werden könnte, dann wäre es auch o.k.

Die negative Sanktionierung von Normverletzungen ist eine unverzichtbare Funktion in jeder Gesellschaft. Aber diese Funktion - die heute von der Strafe erfüllt wird - könnte vielleicht im Rahmen einer Sanktionswende künftig auch durch andere Quellen der Normvalidierung erfüllt werden. Wie könnte eine solche Sanktionswende aussehen?

Von der Täterfixierung (Individualisierung) zum Beziehungsfokus (Restorative Justice) und zum Strukturfokus (Transformative Justice). Das bedeutet zugleich: von der formalen Gleichheitsorientierung (alles über einen Kamm scheren) zur prinzipienorientierten Problemlösung (Kohlberg). Wertschätzung der Opfer und der Geschädigten und der Troublemaker; Aufarbeitung statt Aburteilung; reintegrative Beschämung und gemeinsame Unterstützung von Geschädigten und Schädigern bei gemeinsamer Einforderung und Ermöglichung der Übernahme von Verantwortung.

Auch hier werden Normen validiert. Aber anders: tiefer verankert, gemeinschaftsbildend und nicht exkludierend. Nicht autoritär-plakativ für ein unbeteiligtes Massenpublikum, sondern konkret und nachhaltig für alle Beteiligten.

Wer glaubt, das Massenpublikum würde das Schauspiel öffentlicher Schauspiele unbedingt brauchen, der müßte erklären, warum er nicht auch für die Todesstrafe und die Fernsehübertragung der Hinrichtungsprozeduren eintritt.

Im Gedankengefängnis der strafenden Vernunft richten wir uns nach drei Fragen: Was für eine Straftat wurde begangen? Wer war der Schuldige? Wie hoch ist er zu bestrafen? Jenseits dieses Gedankengefängnisses warten bessere und klügere Fragen, die mit Strafe nichts mehr zu tun haben, zugleich aber eine Validierung der verletzten Normen ermöglichen. Diese Fragen lauten: In wessen Rechte (auf Leben, körperliche Unversehrheit, Eigentum, Handlungs- und Bewegungsfreiheit) wurde eingegriffen (Who has been hurt)? Welche Bedürfnisse haben deshalb die Opfer, Geschädigten und sonstigen Betroffenen (What are their needs)? Wer hat die Verantwortung, sich für die Befriedigung der Bedürfnisse, Ansprüche und Rechte der Opfer, Geschädigten und sonstigen Betroffenen einzusetzen: die Dinge wieder gut zu machen, Verletzungen zu lindern oder heilen und Beziehungen wieder in Ordnung zu bringen?

Viele derjenigen, die das in Mitteleuropa bis vor kurzer Zeit noch für eine Art Fata Morgana hielten, haben inzwischen erfahren, dass es sich in Wirklichkeit um eine konkrete Utopie handelt, die nicht nur machbar wäre, sondern machbar ist und ausgerechnet an den Rändern unserer eurozentrischen Welt, nämlich in fernen Gegenden wie Australien, Kanada und Neuseeland, zum Teil aber auch in den USA, praktiziert wird - und zwar auch bei schweren Delikten und mit schweren Jungsalten. Richtig verstanden sind diese Methoden einer alternativen Validierung desavouierter Normen unter den harmlos klingenden Namen Family Group Conferences, Restorative und Transformative Justice nämlich nichts weniger als revolutionär.

In der Therapie spricht man auch im Strafvollzug nicht so gerne von Gefangenen, sondern nennt sie lieber Klienten. Tatsächlich kann man das gesamte Rechtssystem eines Staates als Dienstleistungssystem auffassen. Dann hat das Strafjustizsystem sogar noch mehr Klienten: da sind die Behandelten, die übrigen Gefangenen, die Straftäter also - aber auch die Opfer und die weiteren Betroffenen. Aber man darf auch das Justiz- und das Behandlungspersonal nicht vergessen. Man könnte ja alle mal nach ihrer Zufriedenheit mit den Abläufen und Ergebnissen fragen. Dann geht es nicht mehr um die Herrlichkeit des Staates, sondern um die Güte der Dienstleistung. Bei jeder Tafel Schokolade findet man eine Telefonnummer. Das ist das Kundentelefon. Rückmeldungen. Bei der Justiz gibt es kein Telefon dieser Art. Aber es gibt empirische Untersuchungen, die allerdings wenig wahrgenommen werden.

Es ist eigentlich schade, dass die Kundenzufriedenheit eine so geringe Rolle spielt. Gelegentlich wird danach gefragt, wie im Jugendbereich bei kleineren Delikten die Diversionsangebote ankommen. Wenn es um schwere Kriminalität und Erwachsene geht, hört dieses Interesse aber weitgehend auf. Nur in England gibt es eine Studie - von Joanna Shapland von der Universität Sheffield - die sich mit dem Kernbereich der Strafjustiz auseinandersetzt und die Zufriedenheit der Kunden mit der Zufriedenheit bei ähnlich gelagerten Fällen, die durch Restorative Justice aufgearbeitet werden, verglichen. Herausgekommen ist: die Kundenzufriedenheit ist bei allen Kundengruppen eindeutig dort höher, wo Restorative Justice angewandt wurde. Es ist also möglich: Behandlung von Straftätern ohne den störenden Kontext des Strafens und ohne Verzicht auf die Funktion des Strafens, doch unter Verzicht auf die Strafe, weil deren legitime Funktionen auch anders und besser erfüllt werden können.