Wahrheitskommission

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Eine Wahrheitskommission ist eine Gruppe von Beauftragten, die einen in der Vergangenheit liegenden umfangreichen Sachverhalt aufzuklären hat, bei dem es um massive Menschenrechtsverletzungen mit einer Vielzahl von Tätern und Opfern geht. Wahrheitskommissionen dienen der Aufarbeitung einer komplexen belastenden Vergangenheit durch die Dokumentation des Geschehens und die Schaffung von Grundlagen für eine friedliche Zukunft. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf Entstehung, Legitimation, Zusammensetzung, Aufgabenbereich, Befugnisse und Ausführungsfristen.

So können sie etwa den Auftrag haben, über die Dokumentation hinaus auch noch Empfehlungen für den weiteren strafrechtlichen Umgang mit einer Problemlage zu erarbeiten (El Salvador) - oder aber noch weitergehend auch Wege zur Versöhnung verfeindeter gesellschaftlicher Gruppen anzubieten (Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika). Inzwischen gibt es Überlegungen zur Einrichtung einer permanenten Wahrheitskommission im Rahmen der Vereinten Nationen. Bislang allerdings wurden Wahrheitskommissionen immer nur zeitlich und thematisch begrenzt in Umbruchsituationen eingesetzt, etwa nach der Beendigung von kolonialistischen, nachkolonialen, diktatorischen und/oder rassistischen Regimen. Wahrheitskommissionen dienen häufig dem Versuch, durch Aufarbeitung der Vergangenheit einen Übergang in ein neues System zu ermöglichen (transitional justice). Sie sind dann mit der Hoffnung verbunden, einen Ausgangspunkt für ein künftiges friedliches Miteinander einstmals verfeindeter gesellschaftlicher Gruppen zu schaffen (restorative justice). Speziell solche restorativen Wahrheitskommissionen werden häufig auf Initiative von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) gebildet, weil erstens die herkömmlichen Methoden der staatlichen Strafverfolgung durch das schiere Ausmaß der Verbrechen überfordert wären und zweitens die Methoden der Strafverfolgung nicht geeignet wären, um das Ziel einer Versöhnung zwischen Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Als zuverlässigste Informationsquelle zum Thema Wahrheitskommissionen gilt heutzutage das im Jahre 2001 etablierte International Center for Transitional Justice (ICTJ; www.ictj.org) in New York, das über Regionalbüros in Afrika, Europa und Lateinamerika verfügt.

Geschichte

Die bekannteste Wahrheitskommission ist die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission, die sich 1996/97 unter dem Vorsitz von Erzbischof Desmond Tutu mit den Verbrechen während der Zeit der Apartheid befasste. Das "Geburtsjahr" der Wahrheitskommissionen war jedoch womöglich schon das Jahr 1913 (Einrichtung der "International Commission to Inquire Into the Causes and Conduct of the Balkan Wars of 1912 and 1913" durch "The Carnegie Endowment for International Peace"; vgl. Michael P. Scharf, The Case for A Permanent International Truth Commission, 7 DUKE JOURNAL OF COMPARATIVE & INTERNATIONAL LAW 375-410. 1997. Symposium Issue). Eine andere Ansicht datiert die erste Wahrheitskommission auf Juni 1974. Danach war es ausgerechnet der ugandische Diktator Idi Amin, der diese Institution mit seiner “Commission of Inquiry into the Disappearances of People in Uganda since 25 January 1971” begründete. Der Bericht dokumentierte 308 Fälle von "Verschwindenlassen" während der ersten Jahre von Idi Amins Herrschaft, wurde aber von der Regierung nie veröffentlicht (vgl. Priscilla B. Hayner, "Fifteen Truth Commissions–1974 to 1994: A Comparative Study," Human Rights Quarterly, v. 16, no. 4, November 1994, pp. 597-655). Das Schicksal von Verschwundenen war auch Gegenstand der bolivianischen Wahrheitskommission vom Oktober 1983 (kein Schlussbericht) und der argentinischen Wahrheitskommission vom Dezember 1983, deren Berichte große Publizität erhielten und die Einrichtung von weiteren Wahrheitskommissionen in Uruguay, Chile, El Salvador, Guatemala, Zimbabwe, im Tschad und später auch in Südafrika inspirierte. Die südafrikanische "Truth and Reconciliation Commission / TRC" gilt heute weitgehend als Modellfall für Wahrheitskommissionen überhaupt. 1993 wurde erstmals eine Wahrheitskommission von den Vereinten Nationen eingesetzt(El Salvador; es folgten Guatemala und Ost-Timor).

Im Vordergrund der Tätigkeit von „restorativen“ Wahrheitskommissionen steht, ähnlich wie bei Instrumenten „individueller“ restorativer Justiz, nicht eine negative Sanktion (Strafe/Haft), sondern die Kommunikation zwischen den betroffenen Gruppen oder EinzelakteurInnen, sowie die Ermittlung der Wahrheit, meist ohne direkte Sanktionsmöglichkeiten.

Von den Opfern wird in diesem Rahmen ein Verzeihen oder Amnestieren von jahrzehntelangen, jahrelangen oder punktuellen gravierenden Menschenrechtsverletzungen erwartet. Sie können oft keine zusätzlichen herkömmlichen Strafsanktionen einfordern. Auf diese Weise soll ein verzeihender/ heilender Prozeß mit den TäterInnen auf individueller oder gesellschaftlicher eingeleitet werden. TäterInnen sollen diesbezüglich ihre Verbrechen gegen die Menschlichkeit öffentlich eingestehen, etwaig andere TäterInnen belasten und somit politisches und ideelles Fehlverhalten eingestehen.


Verbreitung

Das Mittel der Wahrheitskommissionen wurde bisher mit unterschiedlichem Erfolg in über zwanzig Fällen eingesetzt, und zwar in Argentinien, Bolivien, Burundi, Chile, Osttimor, Ecuador, El Salvador, Deutschland, Haiti, Jugoslawien, Malawi, Nepal, Nigeria, Panama, Peru, Philippinen, Sierra Leone, Südafrika, Süd-Korea, Sri Lanka, Tschad, Uganda, und Zimbabwe (davon in manchen Staaten mehrfach). Diskutiert werden Wahrheitskommissionen auch für Afghanistan, den Irak und die Türkei.

Nicht genutzt wurden Wahrheitskommissionen bisher in den „westlich“ geprägten Staaten und von Großmächten zur kollektiven Aufarbeitung von Kriegsverbrechen, gravierenden Verbrechen gegen ethnische und religiöse Minderheiten, sowie großangelegten Vernichtungsaktionen gegen Indigene oder „nicht weiße“ Bevölkerungsgruppen.


Ziele

Das weitgehendste gemeinsame Ziel von Wahrheitskommissionen ist die „Aufklärung der Wahrheit“ über die oben genannten Straftaten - und demzufolge eine Versöhnung bzw. der Beginn eines gesellschaftlichen Versöhnungsprozesses. Auf diese Weise sollen eine mögliche friedliche – demokratische Entwicklungsperspektive der betroffenen Gesellschaften oder erfolgreiche „nation building“ sowie „peace keeping“ Prozesse angestoßen werden. Wahrheitskommissionen arbeiten in unterschiedlicher Analysetiefe, und mit differierender Urteilskompetenz.

Restorative Kommissionen gewähren den Tätern eine unterschiedlich weit gehende Amnestie, wenn sie ihre Taten zugeben und sie dadurch aufklärbar, erfahrbar und diskutierbar machen. Den Opfern wird, bei entsprechender Kompetenz der Wahrheitskommissionen, ein finanzieller und/oder ideeller Ausgleich für das erfahrene Unrecht zugesprochen.

Oft werden über die Arbeit der Wahrheitskommissionen hinaus kollektive Prozesse restorativer Justiz institutionalisiert. Dadurch soll eine möglichst beständige Grundlage für die Aufarbeitung der oben genannten Straftaten geschaffen werden.


Zielkonflikte

Der Hauptzielkonflikt von Wahrheitskommissionen sind das jeweils unterschiedliche politische und historische Interesse, der Gruppen- und EinzelakteurInnen an einer detaillierten und „wahrheitsgemäßen“ Aufarbeitung der Begangenen Straftaten. Aufgrund der verschiedenen Überzeugungen, Bedürfnisse und Strategien werden die Wahrheitskommissionen von den divergierenden Gesellschaftsgruppen unterschiedlich angenommen, unterstützt, kritisiert oder torpediert. Einige Opfer sehen, aufgrund von, zu Zeiten der Einsetzung von Wahrheitskommissionen oft noch brüchigen Demokratieprozesse, sowie aus Angst vor Vergeltungstaten der ehemals herrschenden, von Anzeigen ab. TäterInnen haben zum Teil keine Einsicht in ihr Fehlverhalten, fürchten sich vor dem öffentlichen Eingestehen ihrer Taten oder versuchen an menschenverachtendem Verhalten und dem entsprechenden Einstellungensowie Praktiken festzuhalten.

Kritik

Als vorbildlich für den Impuls zum Beginn von Demokratisierungs- und Friedensprozessen gilt die Arbeit der Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission in Südafrika. Hier wurde nach dem Ende der Apartheid ein erster erfolgreicher Schritt in Richtung „Normalisierung“ und „democratic nation building“ getan. Trotz der nicht vollständig aufgeklärten Verbrechen und ausgeräumten Konflikte wird der Erfolg dieser Kommission international anerkannt und in weiten Kreisen, unterschiedlicher politischer Ausrichtung, als vorbildlich angesehen. Der Vorsitzende der Kommission Erzbischof Desmond Tutu stellt entsprechend den versöhnenden und aufklärenden Charakter der Arbeit in den Vordergrund des Vorworts zum Abschlussbericht der Kommission und skizziert die Arbeit als notwendige Voraussetzung für weitere Schritte eines gemeinsamen Weges in der Überwindung der Apartheid und deren gesellschaftlichen Folgen. Auch bezüglich der Wahrheitskommissionen in Osttimor und einigen Staaten Südamerikas wird ähnlich resümiert. Die negative Kritik an der Arbeit von Wahrheitskommissionen basiert hauptsächlich auf der Unmöglichkeit der Vollständigen Beilegung der, bereits im Punkt Zielkonflikte skizzierten, Interessenskonflikte und der oft nicht vorhandenen Bereitschaft der TäterInnen sich ihren Verbrechen und der historischen Vergangenheit zu stellen. Auch wird kritisiert das Wahrheit stets subjektiv Wahrgenommen wird und wenig objektivierbar ist. Einige Diktatoren sowie in deren Herrschaftsapparaten tätige PolitikerInnen, Militärs oder PolizistInnen sehen sich auch nach demokratischen gesellschaftlichen Umbrüchen weiterhin im Recht und Nutzen die restorative Praxis um sich weitestgehend der Verantwortung für die von ihnen begangen Straftaten zu entziehen. So kritisierte z.b. Erzbischof Desmond Tutu bezüglich der Aussagewilligkeit der TäterInnen: "Ist da kein Führer der weißen Gemeinschaft (...), der sagt: 'Wir hatten eine schlechte Politik, die üble Konsequenzen hatte. Es tut uns leid. Bitte vergebt uns'?" Dementsprechend fiel auch ein Teil von Tutus Resümee negativ aus: Die meisten "weißen Führer" hätten vor der Kommission nur gelogen oder ihr Handeln mit dem "gerechten Kampf gegen den African National Congress und dessen kommunistische Verbündete" gerechtfertigt. In Peru weigerte sich Ex. Staatspräsident Fujimori, der nach Japan geflohen war, vor der Wahrheitskommission auszusagen und bezeichnete deren Arbeit als „Zirkus mit dem Ziel ihn zu unterdrücken“. Ein weitergehender Kritikpunkt betrifft u.a. die erste Wahrheitskommission, die von Idi Amin in Uganda eingesetzt wurde und die von den Interessen des Militärs dominierte Wahrheitskommission in Chile. Problematisiert wird, daß der Begriff "Wahrheit" meist von den jeweils hegemonialen Kräften gedeutet wird. Das grundlegende Problem ist demzufolge, daß die historische "Wahrheit" sehr einfach zu einem Gegenstand der politischen Auseinandersetzung werden kann und somit der Legitimation von sich wandelnden Herrschaftsverhältnissen dient. Wahrheitskommissionen können dadurch leicht Instrumente der Mächtigen oder im schlimmsten Fall Instrumente ihrer Kriminlität werden.

Kritisiert wird ebenfalls, daß klare Bildungs- und Informationshierarchien bezüglich des Zugangs zur Nutzung der Wahrheitskommissionen bestehen. Für Menschen aus weniger gebildeten Schichten und Menschen aus entlegenen Regionen gibt es bezüglich einer möglichen Wahrnehmung der Arbeit der Wahrheitskommissionen in vielen Fällen wesentlich größere Hürden


Wahrheitskommissionen in der Literatur

Ein Beispiel dafür ist „Tod und das Mädchen“ von Ariel Dorfman. Hier trifft eine ehemalige Widerstandskämpferin, nach der „Demokratisierung“ Chiles, auf ihren ehemaligen Folterknecht und Vergewaltiger und beschließt erst nach dessen Eingeständnis seiner Verbrechen, ihn nicht umzubringen. Ihr Mann ist Anwalt und wurde in eine Wahrheitskommission berufen, die sich mit den Opfern des Regimes von Augusto Pinochet beschäftigt. In diesem Roman, der unter der Regie von Roman Polanski verfilmt wurde, wird das Spannungsfeld der restorativen Justiz – zwischen Vergeltungs- und Gerechtigkeitsbedürfnis, sowie „perspektivischem“ Verzeihen/Heilen und Aufarbeiten der Vergangenheit sehr deutlich herausgearbeitet.

Weblinks


Wahrheitskommissionen in den einzelnen Staaten

Zur Verdeutlichung dreier unterschiedlicher Kategorien der Arbeit und des Erfolgs von Wahrheitskommissionen folgen Beispiele der Arbeit derartiger Institutionen aus Afrika, Asien und Südamerika.


Südafrika – die restorative, perspektivische Kommission (Demokratisierung – Nation Building)

Die Wahrheits- und Versöhnungskommission/Truth and Reconciliation Commission (TRC) wurde zur Untersuchung von politisch motivierten Verbrechen, die während der Zeit der Apartheid begangen wurden, eingerichtet. Sie geht in ihrer Entstehung auf eine Initiative des ANC und des damaligen Justizministers Dullah Omar, im Jahr 1994 zurück, und wurde im Januar 1996 durch Präsident Nelson Mandela eingesetzt. Vorsitzender der TRC war Erzbischof Desmond Tutu. Die TRC wurde für 18 Monate einberufen. Der relativ kurze Zeitraum ihres Wirkens war bereits zur Einberufung umstritten, da die Fülle der zu behandelnden Fälle in dieser Zeit kaum zu bearbeiten schien. Allerdings galt es auch, die Folgen des Apartheidsystems schnell öffentlich erfahr- und diskutierbar zu machen. Sowohl um gegebenenfalls Entschädigungen nicht erst nach vielen Jahren zu zahlen, als auch, um den schmerzhaften Prozess der Aufklärung schnell zu realisieren. Den Angeklagten wurden Amnestien zugesagt, wenn sie ihre Taten zugaben, den Opfern wurde finanzielle oder ideelle Hilfe in Form z.B. des Vergebens von Straßennamen zugesagt. Ziel der Kommission war hauptsächlich die Versöhnung der Opfer mit den Tätern sowie ein möglichst vollständiges Bild von den Verbrechen, die während der Apartheid verübt wurden, zu bekommen. Sämtliche Anhörungen fanden öffentlich statt. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission bestand aus drei Ausschüssen die jeweils unterschiedliche Aufgaben übernahmen:

  • das Komitee für die Aufklärung der Verbrechen während der Apartheid
  • das Komitee für die Entschädigung der Opfer
  • das Komitee für die Gewährung der Amnestie

Kritik und Fazit

Die südafrikanische Wahrheitskommission, die die schwierige Aufgabe hatte, das Erbe jahrzehntelanger Rassentrennung und systematischer Exklusion und Benachteiligung der afrikanischen Bevölkerungsmehrheit durch die Apartheid aufzuarbeiten, zeigt den Kompromisscharakter einer solchen Einrichtung. Das Mandat der Kommission begann 1960, dem Jahr des Massakers von Sharpeville. Die 1950er Jahre, in denen mit der Einführung der Passgesetze die Grundlagen der Apartheid geschaffen wurden, blieben unthematisiert. Das grundlegend repressive, rassistische System der Apartheid blieb somit weitgehend ausgeklammert, obwohl die Kommission Apartheid als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstufte. Um den unterschiedlichen Positionen gerecht zu werden, unterschied die südafrikanische Wahrheitskommission vier verschiedene Wahrheitsbegriffe:

  • die faktische oder forensische Wahrheit
  • die persönliche oder narrative Wahrheit
  • die soziale Wahrheit
  • die heilende oder restaurative Wahrheit.

Diese Aufschlüsselung sollte dazu dienen, die unterschiedlichen Standpunkte der Opfer der Apartheid anzuerkennen, obwohl diese nicht immer belegbar waren. Sie sollten jedoch nicht ignoriert werden, da Opfer ansonsten ein weiteres Mal gedemütigt werden hätten können. Die Unterscheidung von vier verschiedenen Wahrheitsbegriffen zeigt deutlich, daß die Wahrnehmung der Wahrheit subjektiv ist. Die Aufschlüsselung des Wahrheitsbegriffes war aber ebenfalls Folge davon, dass viele Sachverhalte nur durch Aussagen ehemaliger Täter hätten geklärt werden können, die sich jedoch einfach weigern konnten, Stellung zu nehmen – und das auch wahrnahmen. Die Südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission präsentierte Am 29. Oktober 1998 ihren Abschlussbericht. Mehrheitlich wurde die Arbeit positiv bewertet. Kritik wurde über die allgemeinen Punkte (s.o.) an der kürze der Zeit und der daraus folgenden Unvollständigkeit der Untersuchungen geübt.

Weblinks

  • Truth and Reconciliation Commission Home Page: [1]
  • Diplomarbeit zum Thema Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika: [2]
  • A Different Kind of Justice: Truth and Reconciliation in South Africa: [3]
  • Susanne Buckley-Zistel: Transitional Justice [4]



Osttimor - Die rituelle Aufarbeitungs- und Wiedereingliederungskommission

In Osttimor, war das hauptsächliche Ziel der Wahrheitskommission, die Demokratisierung und Normalisierung („nation building“) der Verhältnisse nach Jahrhunderte langer portugiesischer Kolonialherrschaft und jahrzehntelanger indonesischer Okkupation. Diesen Zuständen war fast ein Drittel der Bevölkerung zum Opfer gefallen. Das Land erhielt am 20. Mai 2002 nach zweieinhalbjähriger Verwaltung durch die Vereinten Nationen (UN) seine Unabhängigkeit. Neben der Arbeit der Wahrheitskommission, Comissão de Alcohimento, Verdade e Reconciliação (CAVR) beruhte die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen in Ost Timor auf zwei weiteren Momenten:

  • auf Ad-hoc-Prozessen in Indonesien
  • Special Panels for Serious Crimes (durch die UN initiiert)

Die strafrechtliche Aufarbeitung beschränkt sich bei beiden Tribunalen auf das Jahr 1999. Die CAVR besaß demgegenüber ein Mandat für den gesamten Zeitraum des politischen Konflikts – vom Tag der portugiesischen Nelkenrevolution (25.April 1974) bis zum Abzug der indonesischen Truppen (Ende Oktober 1999). Die CAVR unterschied sich von ihren südamerikanischen und afrikanischen Vorläufern. Sie gewährte keine politische Amnestie, sondern versuchte über rituelle, kommunale Aufarbeitungszeremonien die TäterInnen in ihren Gemeinden zu reintegrieren. Von Mitte 2002 bis Ende 2004 wurde sie mit mehr als 240 MitarbeiterInnen, sieben nationalen KommissarInnen, 28 regionalen KommissarInnen und 13 lokalen Bezirksteams tätig. Die CAVR führte zu den Themen „Politische Gefangene “, „Frauen “, „Hunger und Deportation “ und „Bürgerkrieg“ „Massakern “, „Internationalen Akteuren “ sowie „Kindern “ öffentliche Anhörungen durch. Dabei kamen ausgewählte Opfer und Zeugen sowie geladene nationale und internationale Experten aus Regierung, Verwaltung und Zivilgesellschaft zu Wort. Zusätzlich wurden alle drei Monate community hearings in den Bezirken durchgeführt. Die Arbeit der Wahrheitskommission stieß auf große Zustimmung und Anerkennung in der Bevölkerung. Parallel zur CAVR wurden community reconciliation processes (CRPs) durchgeführt. Diese Form der freiwilligen kommunalen Vergangenheitsaufarbeitung verschränkte traditionelle Gemeinschaftsriten (lulik) und herkömmliche justizielle Verfahren mit der Arbeit der Wahrheitskommission. Dabei arbeitete die CAVR gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft. Ziel der CRPs war, Mitläufer und Mittäter in einem öffentlichen, partizipatorischen und symbolischen Gemeinschaftsprozess in ihre Heimatdörfer zu reintegrieren. Lokale Teams mit traditionellen spirituellen Führern (lia nain), Vertreter der Dorfgemeinschaft und der Opfer führten diese durch. Eine notwendig Voraussetzung dafür war ein vollständiges Schuldeingeständnis der TäterInnen und die Zustimmung der Opfer bzw. ihrer VertreterInnen. Die Wiedergutmachung und Reintegration erfolgte in einigen Fällen in Form von traditionellen Gaben oder, in den meisten Fällen, durch eine öffentliche Entschuldigung mit oder ohne Gemeindearbeit wie Wiederaufbau von niedergebrannten Häusern oder Kauf von getötetem Vieh. Die Arbeit der CAVR wurde landesweit live von Radio und Fernsehen übertragen. Die Anhörungen fanden in völlig überfüllten Räumlichkeiten statt und stießen auf große Resonanz. Die Arbeit der CAVR und CRPs wird weitgehend als erfolgreich bezeichnet und fand große Resonanz in der Bevölkerung. Auch die CAVR-Kommissarin Olandina Caeiro betrachtete die Arbeit der Kommission als Erfolg und kritisierte die Arbeit der anderen Institutionen der Aufarbeitung wie folgt: „Das Volk will, dass diejenigen, die alle diese Verbrechen geplant haben, verurteilt werden. Bis jetzt hat es z.B. die Serious Crimes Unit noch nicht geschafft, einen Kommandanten zu belangen. Es sind die Kleinen, die verurteilt werden.“


Weblinks

El Salvador – Die (perspektivische) durch internationale Abkommen entstandene (nicht restorative) Wahrheitskommission

El Salvador erlebte zwischen 1980 und 1991 einen Krieg zwischen der herrschenden Militärregierung, Teilen der Bevölkerung sowie der Freiheitsbewegung FMLN. Während dieses Krieges kamen mehr als 75000 Menschen durch politische Morde der "escuadrones de la muerte" (Todesschwadronen), extralegale Hinrichtungen, Verschwindenlassen, Folter und Entführung ums Leben. Ca. 1,2 Millionen Menschen – von einer Bevölkerung von 6 Millionen – waren gezwungen, ihr Dorf oder ihr Land zu verlassen. Unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen und in Zusammenarbeit mit den Regierungen von Kolumbien, Mexiko, Spanien und Venezuela kam es 1989 Friedensverhandlungen zwischen der "Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional" (FMLN) und der salvadorianischen Regierung. Die Verhandlungen mündeten in die Unterzeichnung eines Friedensabkommens "Acuerdos de Chapultepec" (Abkommen von Chapultepec) am 16. Januar 1992 in Mexiko-City.

Die Wahrheitskommission

Die Wahrheitskommission von El Salvador wurde gemäß den "Acuerdos de México" beauftragt "schwere Gewalttaten zu untersuchen, die seit 1980 begangen worden waren, deren Auswirkungen auf die Gesellschaft eine Veröffentlichung der Wahrheit dringend erforderlich machten". Sie untersuchte extralegale Hinrichtungen – einschließlich der Morde von Todesschwadronen und Massaker, sowie das von beiden Bürgerkriegsparteien ausgeübte "Verschwindenlassen" von Menschen. Aufgabe der Wahrheitskommission war es auch, Empfehlungen juristischer, politischer und administrativer Art auszuarbeiten um die Wiederholung solcher Taten zu verhindern. Sie war im Gegenteil zum Großteil der Wahrheitskommissionen nicht restorativ ausgerichtet. Die Kommission wurde von der UNO finanziert, ihr gehörten nur „ausländische“ ExpertInnen an.

Methoden und Arbeitsweise

Anders als die vorher beschriebenen Wahrheitskommissionen, hatte sie ihre Tätigkeiten vertraulich vorzunehmen. Flankiert wurde das von der Geheimhaltung der Namen der Zeugen und anderer Quellen. Grund hierfür war das allgemeine Klima der Gewalt, das immer noch im Land herrschte und dazu führte, dass potentielle Zeugen berechtigte Angst hatten, sich über die Geschehnisse zu äußern, wenn ihre Namen veröffentlicht worden wären. Die Wahrheitskommission entschied sich dafür, die Namen der Täter in den von ihr untersuchten Fällen in ihrem Bericht zu veröffentlichen. Den mutmaßlichen Tätern wurde bei ihrer Vernehmung durch die Kommissionsmitglieder mitgeteilt, dass sie "beschuldigt" seien. Ihnen wurden aber niemals die Namen der "Ankläger" preisgegeben. Bericht Der Kommissionsbericht "De la Locura a la Esperanza: La guerra de 12 años en El Salvador" (Vom Wahnsinn zur Hoffnung: Der 12-jährige Krieg in El Salvador) wurde am 15. März 1993 vom UNO-Generalsekretär veröffentlicht. Die Wahrheitskommission zählte mehr als 22000 Anzeigen über schwere Gewalttaten, davon betrafen 60% extralegale Hinrichtungen, 25% das "Verschwindenlassen" von Menschen und 20% Folter. 85% der Taten wurden Vertretern des Staates zugerechnet und 5 % den Mitgliedern der FMLN. Nur 40 Fälle wurden grundlegend untersucht und in den Bericht aufgenommen – einschließlich der Namen der Verantwortlichen. Der Bericht gibt auch Empfehlungen ab an die Justiz, die Streitkräfte, den Kongress und den Präsidenten. Unter anderem wurde empfohlen, die im Bericht benannten Verantwortlichen aus den Streitkräften zu entlassen. Wegen der Ineffizienz der Justiz wurde die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen nicht empfohlen.

Kritik

Es wurde wenig später ein Amnestiegesetz erlassen, dass – bis zum heutigen Tag – die Strafverfolgung der Täter der von der Kommission untersuchten Taten verhinderte. Demzufolge gibt es in El Salvador eine Kontinuität der Straflosigkeit. Nach der Veröffentlichung des Berichts sind alle Versuche gescheitert, die Verantwortlichen von damals zur Rechenschaft zu ziehen. Der Friedensprozess war erfolgreich, was das Ende der militärischen Konfrontation angeht. Die angestrebte Demokratisierung des Landes wurde von den Herrschenden jedoch verhindert. Ein daraus folgender Kritikpunkt ist das durch inflationären - und nicht gesellschaftliche Spannungsverhältnisse beachtenden - Einsatz vergangenheitspolitischer Instrumente wie Wahrheitskommissionen, perspektivische Zielsetzungen verfehlt oder instrumentell gewendet werden können. Bei Opfern kann das zu retraumatisierenden Wirkungen führen

Literatur

  • Ambos, Kai., Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen. Zur "impunidad" in südamerikanischen Ländern aus völkerstrafrechtlicher Sicht, Freiburg im Breisgau, 1997
  • Arendt, Reinhard [Red.] :Der Preis der Versöhnung. Südafrikas Auseinandersetzung mit der Wahrheitskommission. Medico Internat, 1998.
  • Buckley-Zistel, Susanne / Moltmann, Bernhard: 'Versöhnung: Balance zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit', in Friedensgutachten, eds. Reinhard Mutz and et. al. LIT Verlag, Berlin, 2006
  • Der Beitrag von Wahrheitskommissionen zur Friedenskonsolidierung und dauerhaften Versöhnung. Das Beispiel Südafrika, Verlag Peter, Frankfurt 2004
  • Dykmann, Klaas, El Salvador-Die Menschenrechte im Visier. Die Auseinandersetzung vom Beginn des Bürgerkrieges bis zum Amnestiegesetz (1980-93), Hamburg, 1999


  • Andrea Fleschenberg, Alex Flor und Monika Schlicher, Aussöhnung ohne Gerechtigkeit, in: „Indonesien-Information “, 1/2003, S.29-33.
  • Gobodo-Madikizela, Pumla: Das Erbe der Apartheid - Trauma, Erinnerung, Versöhnung. Mit einem Vorwort von Nelson Mandela. Nachwort von Jörn Rüsen. Verlag Barbara Budrich, Opladen 2006
  • Hayner, Priscilla B. (2001) Unspeakable Truths. Confronting State Terror and Atrocity, Routledge, New York und London.
  • Hayner, Priscilla B. (1994) Fifteen Truth Commissions 1974 to 1994: A comparative Study, in: Human Rights Quarterly, Vol. 16 Washington D.C., S. 597-655
  • Kastner, Fatima: Weder Wahrheit noch Recht. Zur Funktion von Wahrheitskommissionen in der Weltgesellschaft. Mittelweg 36. 16. Jg., Juni/Juli 2007: 31-50
  • Nolte, Detlef (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, Frankfurt am Main, 1996
  • Piers Pigou,Crying without tears.In pursuit of justice and reconciliation in Timor-Leste: Community Perspectives and expectation,
  • Tätzsch, Kathryn (2011) Die Truth and Reconciliation Commission (TRC) in Sierra Leone - Umgang mit Tätern und Opfern am Beispiel Kindersoldaten - ein Beitrag zur Friedenskonsolidierung? Diss. Universität Hamburg (FB Sozialwiss.)
  • Tutu, Desmond: Keine Zukunft ohne Versöhnung. Patmos Verlag, Düsseldorf 2001

Weblinks