Verschwindenlassen

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Als Verschwindenlassen bezeichnet man die Verschleppung einer Person ohne vorherige oder nachträgliche Benachrichtigung von Angehörigen, Freunden oder anderen Menschen aus dem Umfeld der betroffenen Person.

Das Verschwindenlassen gehörte zu den Terrorinstrumenten des NS-Regimes, des Stalinismus und verschiedener Militärdiktaturen (z.B. in Argentinien). Es dient dazu, unerwünschte öffentliche Aufmerksamkeit durch Strafprozesse usw. zu verhindern, mutmaßliche Systemgegner effektiv unschädlich zu machen und zugleich deren Umfeld in Unsicherheit und Schrecken zu versetzen. Zudem haben die Täter, da sie meist anonym bleiben, häufig keine Identifizierung und Sanktionierung zu befürchten. (Inwiefern es auch im Rahmen der Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September 2001 zur Anwendung kam, ist in diesem Beitrag vorläufig noch nicht bearbeitet.)


Geschichte des Verschwindenlassens

Im Dritten Reich wurde die Praxis des Verschwindenlassens mit dem "Nacht-und-Nebel-Erlass" vom 7. Dezember 1941 vergesetzlicht. Die entsprechende stalinistische Praxis wurde in der sowjetischen Besatzungszone übernommen: in den Jahren 1945 bis 1949 betrug die Zahl der spurlos Verschwundenen vermutlich rund 150.000 Personen. In Lateinamerika verschwanden zwischen 1966 und 1986 mehr als 90.000 Personen durch staatliche oder parastaatliche Aktivitäten[1].

2008 ermittelte die kolumbianische Staatsanwaltschaft gegen mehr als dreitausend Militärs wegen des Verschwindenlassens und der Ermordung von ungezählten Jugendlichen, die lediglich umgebracht worden sein sollen, um sie als getötete Guerrilleros präsentieren und dadurch Geldprämien oder Beförderungen verdienen zu können. Noch im Jahr 2008 wurden mindestens 27 Angehörige der kolumbianischen Streitkräfte deshalb entlassen. Der kolumbianische Heereschef, General Mario Monotya, trat im November des Jahres zurück. Das Muster des Verschwindenlassens war immer dasselbe: Jugendlich aus armen Gegenden in der Nähe der Hauptstadt wurden kurz nach Verlassen ihres Wohnortes weit entfernt im Norden des Landes in unwegsamen Urwaldgebieten in Massengräbern aufgefunden; sie waren durch Rückenschüsse umgekommen. Regierungsvertreter gaben zu, "dass es sich dabei (...) um gewaltsame Entführungen mit dem Ziel der Ermordung der betreffenden Personen gehandelt habe. Immerhin werden in Kolumbien Soldaten regelmäßig belohnt, wenn sie Aufständische getötet haben." Das bedeutet, dass die Jugendlichen u.U. umgebracht wurden, "um sie als Trophäe im Kampf gegen den Terrorismus zu präsentieren, lautet die gängige Vermutung" (Oehrlein 2008: 7).


Rechtliche Aspekte

Der Festgenommene hat in Rechtsstaaten grundsätzlich ein Recht darauf, seine Angehörigen zu informieren. Die nach der Rechtslage in Deutschland darüber hinausgehende Verpflichtung des Staates zur Benachrichtigung wird von deutschen Gerichten in der Praxis zu einem bloßen Recht herabgestuft. Nach Ansicht von Kai Cornelius wird dadurch das einzig wirksame Instrument zur Verhinderung des Verschwindenlassens ausgehöhlt.

Das Verschwindenlassen erfüllt meist verschiedene Tatbestände (u.a. Freiheitsberaubung). Der Unrechtsgehalt des Verschwindenlassens wird dadurch aber nach verbreiteter Ansicht nicht hinreichend erfasst. Daraus resultieren verschiedene Versuche der Schaffung eines Straftatbestands des Verschwindenlassen.

Die Praxis des Verschwindenlassens war lange Zeit nur durch Straftatbestände wie Entführung, Menschenraub, Folter unmenschliche Behandlung verfolgbar. Regelmäßig wurden entsprechende Fälle jedoch überhaupt nicht strafrechtlich geahndet zumal sie häufig in Zeiten nationaler Ausnahmezustände auftreten. Spektakuläre Fälle systematischen Verschwindenlassens durch staatliche Akteure wurden allenfalls anhand so genannter Schlussstrich- oder Versöhnungsmodelle geschlichtet.

Seit Mitte der 70’er Jahre wurden verschiedene regionale Abkommen geschlossen, die das Ausmaß dieses Phänomens begrenzen, und die Aufarbeitung der Fälle ermöglichen sollen. Bei den Vereinten Nationen steht das Thema seit 1978 auf der Agenda. Die 1980 von der UN-Menschenrechtskommission gegründete „Working Group on Enforced or Involuntary Dissappearances“ hat bisher über 50.000 Fälle aus 79 Staaten bearbeitet, von denen aber nur wenige aufgeklärt werden konnten. Das „Verschwindenlassen von Personen“ fällt nach den Statuten des Internationalen Strafgerichtshof (in Kraft seit 2002) unter den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 Abs. 1 lit i). Eine universelle Rechtsnorm, die das Verschwindenlassen von Personen weltweit verbietet, unter Strafe stellt und die ggf. länderübergreifende Strafverfolgung vorschreibt gibt es seit Ende 2006.

Diese universelle Rechtsnorm mit dem Titel „das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen“[2] war bis August 2007 von 61 Staaten unterzeichnet worden. Demnach ist der Tatbestand des Verschwindenlassens (enforced dissapearance) definiert als:

“arrest, detention, abduction or any other form of deprivation of liberty by agents of the State or by persons or groups of persons acting with the authorization, support or acquiescence of the State, followed by a refusal to acknowledge the deprivation of liberty or by concealment of the fate or whereabouts of the disappeared person, which place such a person outside the protection of the law.”

Aufgeweicht wird der Tatbestand dadurch, dass nichstaatliche Akteure von der Norm nicht betroffen sind, entsprechende Taten aber häufig nicht in Verbindung mit der nationalen Autorität gebracht werden können. Jeder Staat, der das Abkommen unterzeichnet, verpflichtet sich dazu, im nationalen Strafgesetz einen entsprechenden Strafbestand zu schaffen. Die entsprechenden Rechtsvorschriften können nicht durch Notstandbestimmungen ausgesetzt werden. Aufgrund der Universalität der Rechtnorm ist jeder Teilnehmerstaat strafbefugt unabhängig davon, wer die Tat wo gegen wen verübt hat. Gefasste Täter müssen entweder abgeurteilt oder ggf. ausgeliefert werden. Die Konvention erteilt dem „Committee on Enforced Disappearances“ ein Mandat zur Durchsetzung der Kooperationspflicht und zur Bearbeitung von Beschwerdegesuchen. Während Teilnehmerstaaten die Möglichkeit haben Beschwerdeverfahren nicht anzuerkennen, müssen sie Felduntersuchungen durch die Kommission akzeptieren anderenfalls kann die Kommission die Generalversammlung von dem Versäumnis unterrichten.

Einzelnachweise

[1] Ana Lucrecia Molina Theissen (1996): La desaparicion forzada de personas en America Latina. In: Instituto Latinoamericano de Derechos Humanos (Hg.): Serie Estudios Básicos de Derechos Humanos VII, San José de Costa Rica, S.65ff. http://www.rosario.gov.ar/sitio/lugares_disfrutar/museomemoria/archivos/desaparicionforzada.pdf

[2] A/RES/61/177 http://daccessdds.un.org/doc/UNDOC/GEN/N06/505/05/PDF/N0650505.pdf

Literatur

  • Cornelius, Kai (2006) Vom spurlosen Verschwindenlassen zur Benachrichtigungspflicht bei Festnahmen. Juristische Zeitgeschichte, Abteilung 1: Allgemeine Reihe. Band 18. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag.
  • Grammer, Christoph (2006) Der Tatbestand des Verschwindenlassens einer Person. Transposition einer völkerrechtlichen Figur ins Strafrecht. Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Band S 105. Berlin: Duncker & Humblot.
  • Hummer, Waldemar/Mayr-Singer, Jelka (2007): Wider die Straflosigkeit. Das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen. In: Vereinte Nationen, Jg. 55, 5, S.183-189.
  • Oehrlein, Josef (2008a) Jung, entführt, erschossen. Was weiß Kolumbiens Armee über Hunderte 'Verschwundener'? FAZ 02.10.08: 7.
  • Oehrlein, Josef (2008b) Kolumbiens Heereschef tritt zurück. FAZ 06.11.08: 8.


Weblinks