Verhandlungsgruppe des Bundes

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Allgemeines

Entstehung

Als Meilenstein für die Entwicklungen, die zur Aufstellung der Spezialeinheiten führte, kann das Attentat auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Sommerspielen 1972 in München gelten. Eine bis dahin unbekannte Gewaltbereitschaft und Kaltblütigkeit der Täter überforderte die damalige Polizei.

Allen Verantwortlichen ist seither klar, dass man mit Kräften der örtlichen Polizeidienststellen im Rahmen der Alltagsorganisation solche polizeilichen Einsatzlagen nicht bewältigen kann. Sukzessive wurden daher – in Folge eines Beschlusses der „Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder“ (IMK) – in den einzelnen Bundesländern und auf Bundesebene Spezialeinheiten für Zugriffsmaßnahmen (SEK/GSG 9) sowie Observation und Fahndung (MEK) eingerichtet.

Bei kritischen Einsatzlagen wurde aber deutlich, dass dies alleine nicht genügt. Im operativen Bereich mussten wesentliche Komponenten, nämlich die der Verhandlungsführung und Betreuung, professionalisiert werden, so dass schließlich auch Verhandlungsgruppen in den Ländern und beim Bund etabliert wurden. Die Verhandlungsgruppe des Bundes wurde 1988 gegründet und ist seither die einzige auf Bundesebene.

In Konfliktlagen wie z.B. Entführungen, Erpressungen und Geiselnahmen, in denen das polizeiliche Gegenüber physischen und/oder psychischen Druck ausübt, kann Verhandeln erfolgreicher sein und Vorrang vor anderen Einsatzmaßahmen haben.

Zuständigkeit der Verhandlungsgruppe des Bundes

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Die Verhandlungsgruppe des Bundes ist organisatorisch beim Bundeskriminalamt, Abteilung Zentrale kriminalpolizeiliche Dienste, angesiedelt. Im Rahmen von polizeilichen Einsatzlagen ist die Verhandlungsgruppe des Bundes ein Teil des Krisenreaktionszentrums der Bundesregierung, welches organisatorisch zum Auswärtigen Amt gehört.

Das Bundeskriminalamt und damit auch die Verhandlungsgruppe des Bundes nehmen - aufgrund ihrer örtlichen, sachlichen und instantiellen Zuständigkeit - gemäß § 4 BKAG originär die polizeilichen Aufgaben u.a. in nachfolgenden Deliktsbereichen war, wenn es sich um Auslandstaten i.S.d. § 7 StGB handelt:


  • Entführungen und Geiselnahmen zum Nachteil deutscher Staatsangehöriger im Ausland,
  • sonstige Entführungen und Geiselnahmen,
  • Entführung deutscher Schiffe und Flugzeuge,
  • Geiselnahmen an deutschen Botschaften und sonstigten deutschen Einrichtungen im Ausland,
  • Entführungen und Geiselnahmen zum Nachteil der Mitglieder deutscher Verfassungsorgane und ihrer Gäste sowie Mitgliedern der diplomatischen Vertretungen in Deutschland (vgl. § 4 I Nr. 2 BKAG),
  • herausragende Erpressungen zum Nachteil der Verfassungsorgane des Bundes,
  • Bedrohungen und Nötigungen (vgl. § 4 I Nr. 3b BKAG)


Zudem kann die Verhandlungsgruppe eingesetzt werden bei:


  • Fallanalysen in herausragenden Deliktsbereichen
  • Opferbetreuung, wie z.B. in Vorbereitung und Vernehmung traumatisierter Opfer
  • Beratung zur Konfliktvermeidung
  • Angehörigenbetreuung / Krisenintervention bei Großschadensereignissen


Der Aufgabenschwerpunkt der Verhandlungsguppe des Bundes ist allerdings eindeutig im Deliktsbereich von Entführungen zu sehen.


Aufgabenspektrum der Verhandlungsgruppe


Verhandeln im polizeitaktischen Sinne bedeutet, die polizeilichen Ziele unter Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse mit kommunikativen Mitteln durchzusetzen.



Verhandeln

Im Rahmen einer Einsatzlage kommt es häufig zu einem Direktkontakt zwischen dem/den Täter(n) und der Gegenseite, um deren Forderungen zu publizieren. Als mögliche Verhandlungspartner kommen sowohl Angehörige und Bekannte, die Firma des Opfers oder die jeweilige Regierung des Entführten in Betracht. Die Verhandlungsgruppe erstellt dafür spezielle Gesprächskonzepte oder nimmt die Verhandlungen mit der Täterseite durch speziell ausgebildete Mitarbeiter selbst wahr.

Betreuung

Die polizeitaktische Angehörigenbetreuung dient primär der Erreichung polizeilicher Ziele. Insbesondere sollen dabei wichtige Informationen zu dem jeweiligen Opfer aufgehellt werden. Dazu ist es wichtig, während des Lageverlaufes permanent den Kontakt zu den Angehörigen zu halten, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Auch sollen Angehörige durch gezielte Gespräche beruhigt und letztlich stabilisiert werden. Zur Zielerreichung ist es immanent wichtig, die Angehörigen lageangepasst über aktuelle Entwicklungen und über das polizeiliche Vorhaben zu informieren.

Analysieren

In Einsatzlagen kann es erforderlich sein, bestimmte Text- und/oder Videobotschaften von Opfern oder Tätern, aufgezeichnete Tätergespräche oder Fotos von Opfern zu analysieren. Ziel einer solchen Analyse ist die fortlaufende Beurteilung der Entführten-, Angehörigen-, und Täterlage. Eine solche Analyse kann auch mittels Methoden der operativen Fallanalyse (OFA) durchgeführt werden.


Zur Phänomenologie von Entführungen

Seit 1990 ist nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes (BKA) die Fallzahl, in denen ein oder mehrere deutsche Staatsangehörige im Ausland Opfer von Entführungen, Geiselnahmen oder Erpressungen geworden sind, stetig gestiegen. Betroffen waren auch Mitarbeiter großer deutscher Unternehmen, die als sogenannte "Global Player" weltweit tätig sind.

Fallzahlen

Im Jahr 2008 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 197.987 Straftaten gegen die persönliche Freiheit registriert, darunter 71 Fälle des erpresserischen Menschenraubes sowie 44 Geiselnahmen. Insgesamt ist die Tendenz der Straftaten geringfügig steigend (Quelle: PKS 2008).

Dunkelfeld

Im Gegensatz zu Inlandsstraftaten ist der betroffene Staat bei der Erhebung von Fallzahlen im Deliktsbereich der Verhandlungsgruppe des Bundes weitestgehend auf die zuständigen Behörden der jeweiligen Tatortländer angewiesen. Die dem BKA bekannt gewordenen Fälle stützen sich auf keinerlei Meldesysteme. Generell wird bei der Beurteilung des Dekliktsfeldes von einem hohen Dunkelfeld ausgegangen, welches maßgeblich durch folgende Faktoren bestimmt wird:

  • Nichtanzeige der Straftat durch Opfer/Angehörige (möglicherweise aufgrund von Täterdrohungen)
  • Nichtwahrnehmung der Straftat durch die zuständigen Behörden als Entführung/Geiselnahme sowie
  • Nichtverfolgung der Straftat durch die zuständige Behörden.

Bedeutung des Deliktsfeldes

Die Bedeutung des Deliktsfeldes der Verhandlungsgruppe des Bundes ist neben den Fallzahlen auch an der Gefährdung zu messen, anhand derer deutsche Staatsangehörige Opfer einer Entführung oder Geiselnahme werden können. Neben der weltweiten Zunahme der sozialen Ungleicheit und der Entwicklung politischer sowie kultureller Konflikte, sind es auf Landesebene vor allem die Rebellion gegen politische Strukturen (politische Tatmotivation) und das Gefälle von Wohlstand und Armut (allgemeinkriminelle Tatmotivation), welche den Grad der Gefährdung maßgeblich mitbestimmen.

Folgende Einflussfaktoren begünstigen zudem die Begehung von Straftaten im Deliktsfeld der Verhandlungsgruppe des Bundes:

  • Instabilität/Auflösung politischer Strukturen (z.B. Somalia),
  • Ökonomische Globalisierung: Weltweites Engagement deutscher Firmen und Organisationen (z.B. Afghanistan, Nigeria),
  • Zunahme von Individualtourismus und Fernreisen sowie
  • erfolgreiche modi operandi.

Zielrichtung von Entführungen / Täter

Die Eigenschaften/Zugehörigkeiten der Täter sind eng mit den Tatmotivationen verknüpft. Politisch motivierte Straftaten im Deliktsbereich der Verhandlungsgruppe des Bundes werden in der Regel durch Guerilla, kriminelle oder terroristische Vereinigungen, zu denen in der Regel die Freilassung von Gefangenen oder der Abzug/Rückzug von militärischen Truppen gehören, werden auch monetäre Forderungen gestellt. Da Lösegelder in der Regel nicht zur persönlichen Bereicherung der Täter, sondern für logistische Zwecke im Rahmen der Verfolgung der politischen Ziele verwendet werden, ist auch bei ausschließlich moneträren Forderungen von einer politischen Tatmotivation auszugehen.

Allgemeinkriminelle Straftaten werden durch Banden oder Einzeltäter begangen. Die Täter handeln in der Regel aus Bereicherungs-, Sicherungsabsicht oder aus persönlichen Motiven, die aus der jeweiligen Täter-/Opferbeziehung herrühren.

Das Wissen darüber, wer die Entführer sind, kann natürlich die Grundlagen der Verhandlungen verändern. So haben z.B. Al-Qaida-Gruppen in der Regel kein Interesse an Verhandlungen, sondern nur an einer möglichst weiten Verbreitung ihrer Terrorbotschaft etwa durch eine in den Medien gezeigte Enthauptung. Es verlangt eine andere Methodik, wenn man es mit Angehörigen einer der zahllosen disparaten und sehr nebulösen Gruppen des bewaffneten Widerstandes oder gar mit allgemeinen Bandenkriminellen oder Piraten zu tun hat.

Opfer

Bei den Opfern im Deliktsbereich der Verhandlungsgruppe des Bundes handelt es sich um

  • Geschäftsleute,
  • Touristen,
  • im Tatortland dauerhaft lebende deutsche Staatsangehörige,
  • (politische) Personen des öffentlichen Lebens mit Status, Einfluss und Funktion.

Die Eigenschaften der Opfer können ebenfalls eng mit den Tatmotivationen verknüpft sein. Dabei sind Wohlstand und Vermögen sowie Status, Einfluss und Funktion des Opfers auf wirtschaftliche oder politische Zustände als begünstigende Faktoren für allgemeinkriminelle als auch politisch motivierte Straftaten zu sehen.

Rechtliche Aspekte

Im bundesdeutschen Strafrecht werden unter dem Oberbegriff der Entführungsdelikte die Straftaten



als Sonderfälle des allgemeinen Delikts der Freiheitsberaubung subsumiert.

Alle o. g. Delikte sind nach deutschem Strafrecht als Verbrechen deklariert. Sie sind Offizialdelikte und werden nach dem Legalitätsprinzip von Amts wegen verfolgt, auch wenn das Opfer keinen Strafantrag stellt, wie es aufgrund des "Stockholm-Syndroms" immer wieder auftritt.

Abgrenzung zwischen Entführung, Geiselnahme und Verschleppung

Im kriminologischen Sinne spricht man von Entführung, wenn der Aufenthalt des Opfers unbekannt ist, d. h. das Opfer an einem nur dem Täter bekannten Ort verbracht wurde. Dagegen ist Kennzeichen einer Geiselnahme, dass die Opfer sich an einem der Polizei bekannten Ort befinden, jedoch täterseitig daran gehindert werden, diesen Ort zu verlassen.

Bei Auslandsentführungen wird - inbesondere in Krisenregionen - auch nach Bekanntwerden von Aufenthaltsorten weiter von einer Entführung gesprochen. In vielen Fällen ist eine Kontrolle des Geschehens durch Umstellung des Tatortes faktisch nicht möglich oder aus taktischen Gesichtspunkten (beispielsweise im Hinblick auf Schutz von Lein, Leben und Gesundheit der Opfer) nicht sachdienlich.

Bei einer Geiselnahme sind die unmittelbar genötigten Personen mehr oder minder zufällig Opfer bei der Tatausführung, da sie sich (z. B. bei einem Bankraub) am Tatort als Angestellte oder Kunden aufhalten. Sie dienen dann entweder als Druckmittel, um die Tat zu befördern, oder sozusagen als „lebende Schutzschilde“, um den polizeilichen Zugriff zu verhindern.

Im Unterschied zu einer Geiselnahme, bei der das oder die Opfer in der Regel am eigentlichen Tatort festgehalten und vielleicht zusätzlich zur Deckung der Flucht benutzt werden, ist es das Kennzeichen einer Entführung, dass das Opfer unmittelbares und ausgesuchtes Ziel der kriminellen Handlung ist und seine Verbringung an einen anderen unbekannten Ort bereits ursprünglich zur Tatausführung gehört. Bei Geiselnahme etwa durch Flugzeugentführungen oder Schiffsentführungen werden die Opfer zwar auch an einen anderen Ort verbracht, dieser ist aber allenfalls kurzfristig unbekannt; d. h. eigentlich ist es der Tatort, der mobil ist.

Als weitere Abgrenzung und Spezifizierung wird eine Entführung aus dem Grund, sich Fähigkeiten und Eigenschaften der Entführten zunutze zu machen, als Verschleppung bezeichnet.

Opferschutz

Für die Opfer einer Entführung bedeutet die Situation auch die Gefahr, verletzt oder getötet zu werden. Die psychischen Folgen können gravierend sein. Eine länger andauernde Entführung oder Geiselnahme kann dazu führen, dass sich Opfer und Täter emotional immer mehr annähern. Dieser Effekt wird als Stockholm-Syndrom bezeichnet, weil er im Zusammenhang mit einer Geiselnahme in einer Bank in Stockholm zum ersten Mal beschrieben wurde.

Nach Beendigung der jeweiligen Einsatzlage ist es deshalb wichtig, die Opfer zielgerichtet sowohl ärztlich als auch psychologisch zu betreuen. Dazu haben sich in den letzten Jahren immer mehr Opferschutzorganisationen etabliert. Als bekanntester Vertreter dürfte die Organisation "Weisser Ring e.V." gelten.

Herausragende Fälle

Bei den hier dargestellten Entführungsfällen handelt es sich um herausragende, medienwirksame Fälle. Die Liste ist nicht abschließend.

Herausragende Entführungsfälle
Datum Dauer der Entführung Anzahl deutscher Staatsangehöriger Anmerkungen
November 2005 23 Tage 2 Deutsche Die deutsche Archäologin Susanne Osthoff und ihr irakischer Fahrer werden in der Provinz Ninive von Unbekannten verschleppt.
Dezember 2005 3 Tage 3 Deutsche Der frühere Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Jürgen Chrobog, und seine Familie werden von Angehörigen eines jemenitischen Stammes entführt.
Januar 2006 5 Monate 2 Deutsche In der Industriestadt Baidschi nördlich von Bagdad entführen Unbekannte die beiden Deutschen Thomas Nitzschke und René Bräunlich.
Februar 2007 noch nicht beendet 2 Deutsche Die 61-jährige Hannelore Krause und ihr 20-jähriger Sohn werden aus ihrer Wohnung in Bagdad verschleppt. Vier Wochen später fordert eine Islamistengruppe den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und droht mit der Ermordung der Geiseln. Hannelore Krause wurde nach 5 Monaten Entführungsdauer freigelassen. Der 20-jährige Sohn befindet weiterhin in der Gewalt der Entführer.
Juli 2007 3 Monate 2 Deutsche Entführung des Bauingenieurs Rudolph Blechschmidt zusammen mit einem Kollegen verschleppt worden. Dieser war wenige Tage später von den Geiselnehmern erschossen worden.
April 2009 4 Monate 5 Deutsche Entführung des deutschen Containerschiffes „Hansa Stavanger" vor der Küste Somalias. Unter den Besatzungsmitgliedern befanden sich auch 5 deutsche Staatsangehörige.


Links


Literatur

Vom BKA

  • Das BKA veröffentlicht eine eigene Buchreihe (Polizei & Forschung) im Luchterhand Fachverlag.
  • Für die deutsche Polizei erscheint täglich die Publikation Bundeskriminalblatt.
  • Das Bundeskriminalamt stellt sich seiner Geschichte „Dokumentation einer Kolloquienreihe“, Lucherhand Fachverlag, 2008, ISBN 3-472-07465-5

Über das BKA

  • Wolfgang Dietl: Die BKA-Story, ISBN 3-426-77694-4
  • Dieter Schenk: Auf dem rechten Auge blind. Die braunen Wurzeln des BKA. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, ISBN 3-462-03034-5.
  • Dieter Schenk: Der Chef. Horst Herold und das BKA. Spiegel-Buchverlag, Hamburg 1998, ISBN 3-455-15022-5
  • Reinhard Scholzen: Personenschutz. Stuttgart: Motorbuch-Verlag, 2004, ISBN 3-613-02185-4


Quellen

  • Bundeskriminalamt, Abteilung Zentrale Dienste, ZD34-VG
  • Polizeidienstvorschrift (PDV) 131-133 (VS-NfD)
  • Ahlf, E.-H., Daub, I. E., & Störzer, H. U. (2000). Bundeskriminalamtgesetz BKAG. Stuttgart, München, Hannover, Berlin, Weimar: Richard Boorberg Verlag GmbH & Co, ISBN 3-145-02622-1
  • Tröndle/Fischer. (2009). Strafgesetzbuch und Nebengesetze (56. Auflg.). München: Verlag C.H. Beck, ISBN 3-406-49387-4