Thomas Mathiesen

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Thomas Mathiesen (* 5. Oktober 1933 in Oslo; † 29. Mai 2021) ist emeritierter Professor für Rechtssoziologie an der juristischen Fakultät der Universität Oslo in Norwegen. Er gehört weltweit, ebenso wie sein Landsmann Nils Christie und die Niederländer Louk Hulsman († 2009) und Herman Bianchi zu den bedeutendsten Theoretikern des Gefängnis-Abolitionismus.

Vita

Thomas Mathiesen wurde am 05. Oktober 1933 in einem Mittelschichtsviertel außerhalb von Oslo in Norwegen als Sohn einer Amerikanerin und eines Norwegers geboren. Die Staatsangehörigkeit seiner Mutter, ihre norwegischen Wurzeln und die damit verbundene Zerrissenheit zwischen beiden Ländern und Kulturen prägten ihn. Nach dem Abitur 1952 studierte er an der Universität Oslo Philosophie. 1953 ging er nach Amerika, um sein Studium an der University of Wisconsin, Madison fortzusetzen. Er wechselte das Studienfach zur Soziologie und entdeckte das ihm bisher unbekannte intellektuelle Amerika. Sein damaliger Professor Howard Becker wurde auch sein Mentor. Die Jagd des republikanischen Senators McCarthy auf Kommunisten, vergleichbar mit der Hexenjagd und die Demonstrationen und Proteste gegen sein Vorgehen prägten das Campusleben. Das Soziologiestudium, wofür Mathiesen ein Stipendium erhielt, schloss er 1955 mit dem B.A an der University of Wisconsin ab und wurde Mitglied der Phi Beta Kappa, University of Wisconsin, in Anerkennung seiner hohen Leistungen. Zurück in Norwegen verlebte er an der Uni Oslo in der Fakultät für Soziologie eine der unglücklichsten Zeiten seines Lebens, öde und reizlos, in denen er fast aufgegeben hätte. 1958 beendete er seine Studienzeit mit dem Abschluss als M.A. in Soziologie, Nebenfächer Psychologie und Sozialanthropologie.

Im Jahr 1959 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung der Universität Oslo. Dort hatte er die Chance sein eigenes Projekt, die teilnehmende Beobachtung in einem Gefängnis in einem Vorort von Oslo, eine empirische Arbeit über 2 Jahre, durchzuführen. 1965 beendete er das Buch The Defences of the Weak und promovierte. Die Gefängnisstudie, in der er das System „von unten“ betrachtete, sensibilisierte ihn. 1967 hatte er an der University of California, Santa Barbara eine Gastprofessur. 1968 engagierte Mathiesen sich als Gründungsmitglied von KROM, der norwegischen Gesellschaft für die Reform des Strafvollzugs. Von 1972 bis 2003 war er Professor für Rechtssoziologie an der Universität Oslo. Seit 2004 ist er emeritiert. Er hatte Gastprofessuren in Kriminologie an den Universitäten in Berkeley, Kalifornien (1975) und Bremen, Deutschland (1988), in Soziologie in Tromsø, Norwegen (1980) und in Rechtssoziologie in Warschau, Polen (1988). 1978 erhielt er für das Buch The Politics of Abolition (1974) den Dennis Caroll Preis, verliehen auf dem Weltkongress der Internationalen Kriminologischen Gesellschaft. 2003 bekam er den Zola-Preis und wurde Ehrendoktor an der Universität Lund, Schweden. Mathiesens Arbeitsschwerpunkte sind die Rechtssoziologie und Kriminologie, die Entwicklung der internationalen Überwachungssysteme, die Soziologie von Macht und Gegenmacht sowie die Soziologie der Massenmedien. Er ist Mitglied in Beiräten und wissenschaftlichen Gremien von Fachzeitschriften für Recht, Soziologie und Kriminologie in Schweden, Dänemark, Großbritannien, Italien, Australien und Amerika. Thomas Mathiesen gehört zu den Initiatoren der gefängnis-abolitionistischen Bewegung der skandinavischen Länder (KRIM/KROM/KRUM) und ist einer der wichtigsten internationalen Vertreter des Abolitionismus.

Der Abolitionist Mathiesen

Mathiesen hat die Möglichkeit einer Politik der Abschaffung von geschlossenen Anstalten untersucht (Mathiesen 1979). Die Angabe möglicher Alternativen wird verweigert. Seine Arbeiten, u.a. basierend auf den Erfahrungen in der norwegischen ‚KROM’ waren für die abolitionistische Bewegung besonders wichtig. Sie ließen ihn einen konsequenten Abolitionismus entwickeln (Kaiser et al 1985:11). Nach Mathiesen ist eine Alternative dann eine Alternative, wenn sie in ihrem Ziel und/oder in ihren Mitteln in Widerspruch zum bisherigen System steht (Mathiesen 1979: 168). Es sollen Alternativen zum Strafen im herkömmlichen, strafrechtlichen Sinne gefunden werden. Die Idee, es über die Opferarbeit zu tun und die kriminalpolitische Aufmerksamkeit vollständig vom Straftäter auf das Opfer zu verlagern (Matthiesen 1989: 173) und eher das Opfer als den Straftäter zum kriminalpolitischen Objekt zu machen, zeigt eine Alternative auf. Er stellt die These auf, Recht sei überwiegend das Ergebnis eines Machtkampfes sozialer Kräfte, weniger einer sachlichen oder fachlichen Auseinandersetzung. Nach Mathiesen ist Abolitionismus eine Haltung „Nein“ zu sagen, nein zu den Gefängnissen. Die Abschaffung der Gefängnisse ist eine wichtige Position. Die Aufhebung der Institution Gefängnis steht vor der Erstellung von Alternativen. Ein Abolitionist ist jemand, der sich mit der Einschränkung des bestehenden Strafrechtssystem befasst, jemand, der eine beharrliche und sehr kritische Haltung gegenüber den Gefängnissen und dem Strafvollzugssystem als menschliche (und unmenschliche) Lösung hat. Es ist eine Position, die über die Parameter oder Bedingungen der bestehenden Systeme geht. Die komplexen Systeme des Gefängnisses und der Strafjustiz sind funktionell miteinander verbunden. Eine Kritik am Sicherheitssystem, wie z. B. den Gefängnissen löst eine Konfrontation mit der Notwendigkeit aus, der Aufrechterhaltung des Regimes. Gefängnisse werden vom Staat damit gerechtfertigt: „Was notwendig ist, soll bewahrt bleiben.“ Es gibt Sorgen und Bedenken vieler Menschen gegen den Einsatz von Gefängnissen, die allerdings nicht deutlich an der Oberfläche sind. Durch die Darstellung der Kriminalität in den Medien gibt es eine verstärkende Dramatisierungstendenz. Mathiesen sieht den Ansatz einer abolitionistischen Bewegung in Norwegen durch die Abschaffung der Zwangsarbeit und des Jugendstrafvollzugs (Feest/Paul 2008).

Acht Argumente gegen (neue) Gefängnisse

Mathiesen formuliert stichhaltige Argumente gegen die Institution Gefängnis. In seinem Werk Gefängnislogik beschreibt er sie sehr ausführlich. In der Rede vor dem UN-Kongress in Mailand 1985 [1] formuliert er seine Thesen in Form von acht Argumenten, hier in Kurzform:

  • 1. Die Spezialprävention als individuelle Vorbeugung
Gesetzesbrecher werden durch Einsperren in Gefängnisse nicht gebessert sondern es führt zu mangelnder Wiedereingliederung und hoher Rückfallquote und hat verletzende Auswirkungen auf die Persönlichkeit.
  • 2. Die Generalprävention als Abschreckung, allgemeine Vorbeugung
Die Entwicklung der Verbrechensrate steht in keinem definierbaren Verhältnis zur Anzahl der Inhaftierten oder der Straflänge. Die Kriminalpolitik spielt eine untergeordnete Rolle.
  • 3. Die Ächtung von Gefängnisneubauten
Bisher mussten Überfüllung von Gefängnissen und Überbelegung als Begründung für Neuschaffungen von Gefängnissen herhalten. Durch mehr Halbstrafen und Verminderung der Haftzeiten kann der Durchlauf erhöht werden.
  • 4. Gefängnisneubauten haben einen nicht zurücknehmbaren Charakter
Einmal gebaut, werden Gefängnisse auch genutzt und nicht so schnell wieder abgerissen.
  • 5. Der expansionistische Charakter von Gefängnissen
Das Gefängnissystem als gesellschaftliche Institution ist nie gesättigt- es verhält sich wie ein Tier, dessen Appetit mit dem Essen wächst.
  • 6. Das humanitäre Argument
Gefängnisse sind entwürdigend, erniedrigend und entfremden, da sie den Verlust der Autonomie herbeiführen. Sie sind als gesellschaftliche Einrichtung unmenschlich.
  • 7. Die kulturellen Werte
Gefängnisse sind Symbole dafür, wie eine Gesellschaft über Menschen denkt. Die "Gefängnislösung" gesellschaftlicher Konflikte resultiert auf der Annahme, zwischenmenschliche Konflikte mit Gewalt und Erniedrigung zu lösen.
  • 8. Die Wirtschaftlichkeit
Da keine menschlichen und anerkannten Werte hinter dem Gefängnis stehen, begründet auf den genannten Argumenten, sind die hohen Kosten nicht verantwortbar, da es sinnvollere Arten gibt Geld auszugeben.

Das mephistophelische Prinzip

Als Vertreter einer materialistischen Gesellschaftstheorie, in der die Klassenverhältnisse über materielle Ungleichheit und ungleiche Machtverhältnisse charakterisiert wird, sieht er keine revolutionäre Situation mehr gegeben. Er verlässt den Klassenstandpunkt und die „Strategie des Unfertigen“ wird zum Ausgangspunkt. Die bestehende Ordnung soll aufgehoben werden, ohne Entscheidung der systemgebotenen Alternativen Revolution oder Reform. Kriminalpolitik nach Mathiesen soll „negative Kriminalpolitik“ sein, eine Strategie der Ablehnung, die die bestehenden strafrechtlichen Lösungen wie die positiven, ausgeformten Alternativen ablehnen muss (Lamnek 1997: 326f., mephistophelisches Prinzip). Das mephistophelische Prinzip entfaltet sich in philosophischer Hinsicht in der Verneinung, in naturphilosophischer Sichtweise als Chaos. Die Umkehrung des Bösen zum Guten tritt außer Kraft. Mephisto wird nicht als Gegenpol sondern als Mitspieler, ein dialektischer Teil des Negativen in einer positiven Welt gesehen.

KROM

Die norwegische kriminalpolitische Organisation KROM, auch norwegische Vereinigung für Kriminalreform genannt, wurde 1968 gegründet. Sie steht der traditionellen Kriminalpolitik und insbesondere den Gefängnissen kritisch gegenüber. Thomas Mathiesen ist Gründungsmitglied und war 1968 bis 1973 erster Vorsitzender. Der Impuls für die Gründung entstand aus der aufgestauten Unzufriedenheit mit der Gefängnissituation, dem Gefühl das Gefängnisse unmenschlich sind. Die Einbeziehung der Gefangenen ist ein Novum. Der Begriff des Unfertigen, das Klima der Unbestimmtheit zeichnet die Organisation KROM aus. Sie widerspricht und konkurriert, während sie sich entwickelt, noch nicht fertig erprobt und ausgeformt ist. Die revolutionären (langfristig aufhebenden) und reformistischen Elemente werden in KROMs Politik offengehalten, es wird bewusst keine klare Wahl zwischen den beiden Orientierungen getroffen. Die Organisation bleibt so im Entstehungsprozess. Beim Einnehmen des revolutionären Standpunktes verliert die Organisation ihre Konkurrenzkraft, beim Vertreten des reformistischen Standpunktes geht das Widerspruchselement verloren. Mit der Vollendung wächst die Gefahr des Stillstands. (Mathiesen 1979: 177ff.) KROM hat in den letzten 40 Jahren 38 dreitägige Konferenzen über Kriminalpolitik abgehalten (Mathiesen in KrimJ 2008/1: 13). In der Regel finden die Konferenzen jährlich statt, als Netzwerk- und Solidaritätsarbeit an der Basis.

Publikationen von Thomas Mathiesen

Mathiesen hat Werke als bedeutender Vertreter des Abolitionismus in Norwegisch und Englisch geschrieben, die auch ins Deutsche, Schwedische, Dänische, Spanische, Italienische und Chinesische übersetzt wurden. Von ihm sind neben seinen Büchern unzählige Artikel in den großen skandinavischen Zeitungen über Kontrollpolitik, Kriminalpolitik, Kriminologie und Soziologie des Rechts erschienen.

  • Mathiesen (2000): Prison on trial, 2nd ed., Winchester.
  • Veröffentlichungen von Thomas Mathiesen http://folk.uio.no/thomasm/bibliography.html
  • Mathiesen (2008) The Abolitionist Stance, in: Journal of Prisoners on Prisons vol 17 issue 2, pp 58-63.
  • The Abolitionist Stance Darin: Abolitionism is a stance. It is the attitude of saying “no”. This

does not mean that the “no” will be answered affirmatively in practice. A “no” to prisons will not occur in our time. But as a stance it is viable and important. When I wrote The Politics of Abolition in 1974, and again when I published the latest edition of Prison on Trial in 2006, I was certainly 58preoccupied with strategies of achieving concrete abolitions. But I was also preoccupied with fostering and developing an abolitionist stance, a constant and deeply critical attitude towards prisons and penal systems as human (and inhumane) solutions. It is possible to get closer to the core of the abolitionist stance. It is a stance which goes beyond the parameters or conditions of existing systems. Systems such as the prison or the penal system are complex functionally interrelated systems. Therefore, if you criticize one aspect of, say, the prison system, you are immediately confronted with the ‘necessity’ of that aspect. For example, if you criticize the security regime, you are immediately confronted by the necessity of maintaining the regime in view of, say, public opinion. When something is said to be ‘necessary’, you should beware. Functionally interrelated systems are not inherently conservative, but grow conservative by our succumbing to the parameters of the system. The succumbing to all of the parameters is close to the non-abolitionist stance. The abolitionist stance goes beyond (some of) the parameters. For example, it is possible to say “sorry, but public opinion is not my concern”, or perhaps better, “public opinion can be changed, or contains other and quite different components” (...) In others word, it is not impossible to nurture an abolitionist stance, a stance of saying “no!” and in the long run it makes a difference. It may contribute to what I would call turning points. The turning points of the past – the abolition of slavery, the abolition of the death penalty at least in some places, the abolition of the youth prisons in Massachusetts, the abolition of forced labour or what have you – should be scrutinized as examples for the future. What fostered them, what caused some of them to return under a different mantle? Turning points probably surface for structural, economic and political reasons. They become “ripe fruits”, to use a Norwegian expression. But people act and channel them as they surface. An abolitionist stance of saying “no!” was certainly a part of past abolitions. It may be so again.

Deutsche Übersetzungen gibt es von:

  • Überwindet die Mauern! Die skandinavische Gefangenenbewegung als Modell politischer Randgruppenarbeit(1979)= Übersetzung von: The Politics of Abolition. 1974.
  • Die lautlose Disziplinierung. Beiträge gegen die politische Kontrolle. Bielefeld (1984).
  • Macht und Gegenmacht. Überlegungen zu wirkungsvollem Widerstand. München (1986).
  • Das Recht in der Gesellschaft. Eine Einführung in die Rechtssoziologie. Münster(1988).
  • Gefängnislogik. Über alte und neue Rechtfertigungsversuche. Bielefeld: AJZ (1989).

Literatur

  • Feest, Johannes; Paul, Bettina (2008): Abolitionismus. Einige Antworten auf oft gestellte Fragen. In: Kriminologisches Journal 1/2008. S. 6-20.
  • Gjerstad, Magne (2001) Does Thomas Mathiesen Have a Defence? A Scientific-Rhetorical Analysis. Universitetet i Oslo. (In Norwegian)
  • Lamnek, Siegfried (1997): Neue Theorien abweichenden Verhaltens. München. 2. Aufl. 327f, 336.
  • Papendorf, Knut; Schumann, Karl F. (1993): Kein schärfer Schwert, denn das für Freiheit streitet. Eine Festschrift für Thomas Mathiesen. Bielefeld.



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