Theorien des Selbst

Theorien des Selbst befassen sich mit der Abhängigkeit des Selbstkonzepts von den Reaktionen und Bewertungen anderer. Sie gehen davon aus, dass das psychische Wohlbefinden die Entwicklung und die Pflege von Selbstkonzepten erfordert und dass hierin die Schlüsselbeweggründe für menschliches Verhalten insgesamt zu sehen sind - und zwar auch des delinquenten Verhaltens. Die Begehung von Straftaten kann demnach auch als Ausdruck des Versuchs angesehen werden, ein positives Selbstbild zu erwerben oder zu verteidigen.

Innerhalb der Kriminalitätstheorien besteht die Gemeinsamkeit der Theorien des Selbst darin, dass sie strafbare Handlungen als Folge der Suche der betreffenden Individuen nach akzeptablen Selbstkonzepten und Selbsteinschätzungen erklären. Dabei wird je nach Ausprägung der Theorien entweder mehr das suchend-kreative Verhalten des Individuums oder aber sein Erdulden des (stigmatisierenden, etikettierenden) Ausgrenzungs-Handelns Anderer in den Vordergrund gestellt. Die kriminelle Handlung nützt dem Täter also weniger durch ihre direkten Folgen (z.B. die Beute bei einem Raub) als dadurch, dass sie ihm hilft, sich in einer positiven Rolle wahrzunehmen und damit seine Selbstakzeptanz zu verbessern (vgl. Kaplan 1975, 1980; Rosenberg & Rosenberg 1987; Katz 1988). Sie kann ihm auch helfen, sich an ein auferlegtes Stigma anzupassen (Becker 1963, Lofand 1969; Heimer & Matsueda 1994).

Kaplan (1980, 1995) geht davon aus, dass Menschen positive Einstellungen dem Selbst gegenüber zu maximieren und negative Einstellungen zu vermeiden trachten. Seine Theorie thematisiert die Entstehungsbedingungen und Haupteinflüsse der Selbsteinschätzung. Die Motivation zur Normverletzung wird in dem Maße zunehmen, in dem der konventionelle Kontext dem Individuum eine negative Selbstbewertung nahelegt. Strategien des Selbst sind: Vermeidung (avoidance) von Personen, Bedingungen und Verhältnissen, die negative Selbstwertgefühle verstärken - z.B. durch eine gewisse Ungezogenheit oder Streitlust. Angriff (attack) ist eine direkte Konfrontation der Quellen von negativen Einflüssen (z.B. Gewalt, Vandalismus oder Diebstahl). Ersetzung (substitution) ist eine Strategie, die sich in Bandenkämpfen oder Dealerei manifestieren kann - eine Verstrickung in Kontexte, die Normen aufweisen, die denjenigen Normen widersprechen, die das schlechte Selbstwertgefühl erzeugten. Man kann darin den Versuch sehen, alternative Netzwerke zu finden, die eine höhere Wahrscheinlichkeit positiver Rückmeldung aufweisen. Je nach den Eigenschaften des Akteurs selbst, der Art der Straftat und der Schwere und Wahrscheinlichkeit einer Sanktionierung können derartige Versuche der Selbstbehauptung durch Straftaten allerdings auch fehlschlagen.

Kritik

Charles Tittle (2000: 62) erklärt dazu: "Theorien über das Selbst haben eine starke (unmittelbare) Anziehungskraft auf viele Kriminologen. Darüber hinaus erhalten sie einige empirische Unterstützung, wenngleich auch gegenteilige Befunde existieren (z.B. Jang und Thornberry 1998; Kaplan 1978; Heimer und Matsueda 1994; Rosenberg, Schooler und Schoenbach 1998; Wells und Rankin 1983). In ihrer Gesamtdarstellung kann die Selbst-Thematik nahezu alle Arten von kriminellem Verhalten, Deliquenz oder Devianz erklären. Und obwohl die Theorien die Motivation, die zu devianten Handlungen führt, hervorheben, berücksichtigen sie daneben auch zusätzlich einige kausale Faktoren. Dennoch bleibt eine Anzahl zentraler Probleme bestehen, die die Frage aufwerfen, ob Theorien über das Selbst nicht eher andere theoretische Prozesse – wie allgemeine Belastung (general strain), Lernen und soziale Kontrolle – beinhalten. Weshalb und wie sich die Suche nach Identität, die in kriminellem Verhalten mündet, verändert, ist bislang nicht geklärt. Die situativen Faktoren, die kriminelles Verhalten aktivieren, sind nur unzureichend entwickelt, und eine Annäherung des „Selbst-Phänomens“ an weitere Variablen, die abweichende Handlungen erklären können – z.B. Angst vor Sanktionen, Gelegenheiten zu deviantem Verhalten oder moralische Gefühle - können nur dann spezifiziert werden, wenn man sich anderer Theorien bedient."

Literatur

  • Becker 1963
  • Heimer & Matsueda 1994
  • Jang & Thornberry 1998 I
  • Kaplan 1975
  • Kaplan 1978
  • Kaplan 1980
  • Kaplan 1995
  • Katz 1988
  • Lofand 1969
  • Rosenberg & Rosenberg 1987
  • Rosenberg, Schooler & Schoenbach 1998
  • Tittle 2000
  • Wells & Rankin 1983