Terrorismus und Widerstand (Notizen 2)

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siehe auch: Terrorismus und Widerstand3: Erklärungen, Scheinerklärungen und praktische Probleme


1. Dieser Mann ist ein Terrorist

Dieser Mann ist ein Terrorist. Dieser Satz ist eine Lüge. Denn er gibt vor, eine bloße Beschreibung zu sein. Er enthält aber eine Bewertung. In Wirklichkeit bedeutet er: dieser Mann tötet aus politischer Motivation und diese Tötungen sind in höchstem Maße verwerflich. Er verknüpft Deskription und Askription. So wie Mord Deskription (die Tötung eines Menschen) und Askription, also moralische Bewertung (höchst verwerflich) kombiniert. Wäre die Tötung nicht verwerflich, spräche man von Notwehr oder gelungener militärischer Operation. Stünde man auf der Seite desjenigen, den seine Gegner "Terrorist" nennen, spräche man von Widerstand gegen das Regime. Beleg: der aktuelle Diskurs über Syrien. Die Regierung spricht von Terroristen, die bewaffnete Opposition von Widerstand und Heldenmut. Eine gespaltene Tötungsmoral erzeugt eine gespaltene Sprache und ein gespaltenes Denken. Mit George Orwell (1984) kann man sagen: Terrorismus und Widerstand gehören heute zu einer zu politischen Zwecken künstlich veränderten Sprache. Sie erzeugt ihrerseits so etwas wie doublethink, verstanden als „Fähigkeit, in seinem Denken zwei widersprüchliche Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide zu akzeptieren. Das schließt mit ein: Absichtlich Lügen zu erzählen und aufrichtig an sie zu glauben; jede beliebige Tatsache zu vergessen, die unbequem geworden ist, und dann, falls es wieder nötig ist, sie aus der Vergessenheit zurückzuholen; so lange wie nötig die Existenz einer objektiven Realität zu leugnen und gleichzeitig die Realität zu akzeptieren, die man verleugnet. Selbst der Gebrauch des Begriffes Doppeldenk macht die Verwendung des Doppeldenkens erforderlich. Denn schon allein indem man diesen Begriff verwendet, räumt man ein, die Realität zu manipulieren. Durch eine erneute Anwendung des Doppeldenkens jedoch löscht man diese Erinnerung aus, womit die Lüge der Wahrheit fortlaufend einen Schritt voraus ist."

2. Dieser Mann ist kein Widerstandskämpfer

Dieser Mann ist kein Widerstandskämpfer. Auch dieser Satz ist eine Lüge. Er gibt vor, Beschreibung zu sein und ist doch sowohl Beschreibung als auch Bewertung. Beschreibung und Bewertung werden nicht vermengt, sie sind zu einem festen Amalgam verschmolzen. Widerstandskämpfer sind altruistische Krieger, von humanistischen Idealen getragen, ritterlich im Tun und ehrenvoll im Untergang. Also ist derjenige, der ein Massaker begeht, kein Widerstandskämpfer, kann es ja gar nicht sein. Also kommen Widerstandskämpfer nicht in Frage als Täter des Massakers an 109 Personen, darunter 49 Kindern, in Hula, am 25. Mai 2012. Für die Weltmeinung stand und steht denn auch fest: das war das Regime des Präsidenten Assad. Seither eskaliert die Gewalt, aus der Revolte wurde ein Bürgerkrieg, der Annan-Friedensplan wurde Makulatur, die USA und ihre Verbündeten verstärken die Bewaffnung der Rebellen.

Hula ist eine Provinz, eine Ebene, einer der größten Orte dort heißt Taldou. Dort geschah das Massaker. Hula ist überwiegend von Sunniten bewohnt. Zwischen dem sunnitischen Homs und den Bergen der Alawiten. Dort gibt es eine lange Geschichte konfessioneller Spannungen. Die Namen der getöteten 84 Zivilisten sind bekannt: es handelt sich um die Väter, Mütter und 49 Kinder der Familie al Sajjid und zwei Zweige der Familie Abdarrazzaq. Sie waren Alawiten. Und vom sunnitischen zum schiitischen Islam konvertierte Muslime. Das machte sie als Sympathisanten der unter Sunniten verhassten Hizbullah verdächtig. Unter den Ermordeten befanden sich zudem die in Taldou lebenden Verwandten des regimetreuen Parlamentsabgeordneten Abdalmuti Mashlab. Die Wohnungen der drei Familien befinden sich in verschiedenen Teilen Taldous. Die Mitglieder der Familien wurden gezielt und bis auf eine Ausnahme getötet. Kein Nachbar wurde auch nur verletzt. ...Die Nachrichtenagentur AP zitierte den einzigen Überlebenden der Familie al Sajjid, einen elfjährigen Ali, mit den Worten: „Die Täter waren kahlgeschoren und hatten lange Bärte.“ So sehen fanatische Dschihadisten aus, nicht die Milizen der Schabiha. Überlebt habe er, weil er sich tot gestellt und mit dem Blut seiner Mutter beschmiert habe, sagte der Junge. ...

Bereits am 1. April hatte die Nonne Agnès-Maryam vom Jakobskloster (“Deir Mar Yakub“), das südlich von Homs in der Ortschaft Qara liegt, in einem langen offenen Brief das Klima der Gewalt und der Angst in der Region beschrieben. Sie kommt zum Ergebnis, dass die sunnitischen Rebellen eine schrittweise Liquidierung aller Minderheiten betrieben; sie schildert die Vertreibung von Christen und Alawiten aus ihren Häusern, die von den Rebellen besetzt werden, und die Vergewaltigung junger Mädchen, die den Rebellen als „Kriegsbeute“ übergeben werden; sie war Augenzeugin, als Rebellen in der Straße Wadi Sajjeh erst einen Händler, der sein Geschäft zu schließen sich geweigert hatte, durch eine Autobombe töteten und dann vor einer Kamera von Al Dschazira sagten, das Regime habe die Tat begangen. Schließlich schildert sie, wie sunnitische Rebellen im Stadtteil Khalidijah von Homs alawitische und christliche Geiseln in ein Haus gesperrt und dieses in die Luft gesprengt hätten, um anschließend zu erklären, dies sei eine Greueltat des Regimes gewesen. Beim Massaker von Hula wurden die Familien ausgelöcht, weil sie sich geweigert hatten, sich der Opposition anzuschließen. - In der Nähe von Hula leben Nonnen im Jakobskloster. Sie schilderten, wie die der Opposition angehörenden Täter "nach dem Massaker die Leichen vor der Moschee stapelten und wie sie am folgenden Tag vor den Kameras rebellenfreundlicher Sender den UN-Beobachtern ihre Version von dem angeblichen Massaker der syrischen Armee erzählten" (Hermann 2012).

Die "Freunde Syriens" unter Führung der USA sind vor allem am Sturz Assads interessiert. Die Feinde Assads sind ihre Freunde. Sie gelten als Widerstandskämpfer. Sie werden finanziert. Und ausgerüstet. Und ihre Lügen werden verbreitet. Weil es der guten Sache nützt. Mord an Wehrlosen. In den Leitmedien der Welt spielt das aber keine Rolle: der Schlächter, das ist das Assad-Regime. So wird uns die Welt erklärt: Scheinerklärungen treten an die Stelle von Erklärungen. Trugbilder an die Stelle realer Bilder. Wie bei der Fussball-EM: Löw stibitzt einem Jungen sein Spielgerät. Vorher aufgezeichnet. Das was passiert - Abgeordnete halten Schilder hoch für die Menschenrechte - wird nicht gezeigt.

3. Edler Terror? Verwerflicher Widerstand?

Wissenschaft ist auf klare Begriffe angewiesen, die Beschreibungen ohne Bewertungen ermöglichen. Nicht, weil es unwichtig ist, Bewertungen vorzunehmen, sondern weil Bewertungen angemessener vorgenommen werden können, wenn sie nicht mit Beschreibungen vermengt werden - und weil Beschreibungen besser sind, wenn sie von Bewertungen getrennt sind. Sonst verbaue ich mir mit der Definition eines Begriffs bereits den Weg zur unvoreingenommenen Erforschung. Gibt es edle Terroristen? Die Frage ist schon beantwortet, wenn ich per definition sage, dass Terroristen böse Menschen sind, die verwerfliche Taten begehen. Gibt es Staatsterrorismus? Die Frage ist schon negativ beantwortet, wenn ich Terrorismus als eine Methode von substaatlichen Akteuren gegen den Staat definiere. Ist Widerstand moralisch gerechtfertigt? Natürlich ist er das, wenn ich unter Widerstand eine moralisch gerechtfertigte Abwehr bedrohlicher Unterwerfungsforderungen verstehe. Eine Kriminologie, die sich nicht dem Newspeak und Newthink der Postmoderne unterwerfen will, tut gut daran, sich dem herrschenden Sprachgebrauch zu entziehen. Das kann man entweder tun, indem man die Begriffe des Terrorismus und des Widerstands boykottiert und sie gar nicht mehr benutzt. Oder dadurch, dass man diese Begriffe analytisch reinigt. Man entfernt alle bewertenden Aspekte. Und benutzt sie - ohne Präjudiz moralischer, ethischer oder rechtlicher Art - als Beschreibungen. Dann könnte man feststellen, dass der Staat V oder W terroristische Methoden anwendet, und dass die Gruppen X oder Y Widerstand leisten, und man hätte dann gar nichts darüber ausgesagt, ob V, W, X oder Y zu den Guten oder zu den Bösen zu rechnen wären, ob ihre Taten richtig oder falsch, unterstützenswert oder bekämpfenswert sind. Dann wäre es sagbar, dass Widerstandskämpfer lügen und morden, betrügen und foltern und den Medien Leichenberge zeigen, von Menschen, die sie selbst in eine Kirche gesperrt und verbrannt haben, vondenen sie aber vorgeben, dass es das Regime gewesen sei. Dann wäre Widerstand nicht automatisch gut und Repression durch ein Regime nicht automatisch schlecht. Man würde beschreiben. Ohne Bewertung oder Ableitung von Handlungsempfehlungen. Handlungsempfehlungen wären explizit konditioniert: wenn man A will, dann müßte man B tun. Aber mit den Nebenfolgen C rechnen. Wenn man C nicht will, könnte man D tun - aber mit den Nebenfolgen E rechnen. Das wäre Wissenschaft - und wissenschaftliche Politikberatung. Und Public Criminology. Davon ist aber nichts zu hören und zu sehen. Stattdessen produziert die Wissenschaft: Erklärungen, die sich als Scheinerklärungen erweisen und zur Konstruktion politischer Probleme mehr beitragen als zu deren Lösung.

4. Scheinerklärungen

Vor 70 Jahren (am Dienstag, den 12.5.42) war Bertolt Brecht mit Eisler bei Horkheimer zum Lunch. Danach schlug Eisler Bertolt Brecht folgende Handlung für den TUIROMAN (Intellektuellenroman) vor: die Geschichte des bekanntlich vom Weizenspekulanten Felix Weil gegründeten Frankfurter Instituts für Sozialforschung: "ein reicher alter mann (der weizenspekulant weil) stirbt, beunruhigt über das elend auf der welt. er stiftet in seinem testament eine große summe für die errichtung eines instituts, das die quelle des elends erforschen soll. das ist natürlich er selber.“ Man könnte sich vorstellen, dass diese Pointe für die Wissenschaftler des Instituts tabu wäre. Sie dürften und müßten forschen, dabei aber immer um den heißen Brei herumreden. Statistiken produzieren, Theorien, Erklärungsversuche - alles, nur nicht den Kern der Angelegenheit aufdecken.

Die traditionelle Kriminologie findet heraus, dass Terroristen

  • Verbrechen gegen den Staat begehen (ihre Terrorismusdefinition schließt jeden anders gelagerten Fall sowieso aus)
  • politische Motive nur vorschieben (so dass es keinen Sinn macht, über Verhandlungen auch nur nachzudenken)
  • eine Lust am Töten empfinden (also emotional gestört und gefährlich sein dürften)
  • in Gruppen operieren, in denen es ideologische Führer, organisatorische Führer, Überzeugungstäter und auch nicht-überzeugte Leute gibt, die für Geld, Gruppenzusammenhalt oder andere Anreize tätig sind
  • die westliche Lebensart, die westliche Freiheit hassen und unsere Demokratie.

All dies wird mit großer Emphase als beachtenswerte Neuigkeit präsentiert. Als wären Terroristen eine völlig neue Spezies, die ganz und gar fremd sei und nun diese Besonderheiten aufwiese. Dabei sind Terroristen in der Weltgeschichte schon lange bekannt und diese Besonderheiten sind nur künstlich verfremdete Normalitäten.

Die kritische Kriminologie findet die Reaktion auf Terrorismus interessanter als den Terrorismus selbst. Sie beklagt die zunehmende Überwachung, die Geschäftemacherei der Konzerne, die Gefährdung der Grundrechte, die Tendenzen zum autoritären Staat. Manche Leute finden auch diese Gebetsmühle langweilig. Seit 2001 habe ich noch nichts Interessantes gehört oder gelesen, was von wissenschaftlicher Seite zum neuen oder zum alten Terrorismus gesagt worden ist.

Hypothese: der Diskurs des Terrorismus vermeidet die relevanten Fragen und gibt - wenn überhaupt - dann nicht die wahren Antworten, sondern diejenigen, die für die prä-determinierten Bekämpfungsinteressen als nützlich angesehen werden. Man argumentiert sozusagen von dem her, was man machen will. Wenn man sich mit dem Thema X auf keinen Fall befassen will, obwohl es so aussieht, als hätte X mit der Entstehung des Terrorismus zu tun, dann behauptet man einfach: der Terrorismus hat doch mit dem Thema X nichts zu tun! Und wenn man aber in Bezug auf Y sowieso etwas tun möchte, dann sagt man: der Terrorismus hat mit Y zu tun, also müssen wir unbedingt Y tun. Wenn man mit Terroristen verhandeln wollte, dann würde man sagen: das sind doch Leute wie andere Leute auch, also lasst uns mal mit ihnen verhandeln, was sie eigentlich wollen und was wir im Austausch dafür erhalten könnten. Wenn man sie aber lieber physisch eliminieren würde, dann sagt man: das sind doch Verrückte, mit denen hat es doch sowieso keinen Zweck, die kann man nur wie wilde Tiere behandeln: man muss nicht mit ihnen verhandeln, man muss sie unschädlich machen.

5. Praktische Probleme

1. Voraussetzung für alles.

Niemand kann das Terrorismusproblem thematisieren, geschweige denn lösen, ohne darüber zu sprechen. Um darüber sprechen zu können, braucht man einen Begriff, der nicht schon alle Antworten vorweg bestimmt. Wir brauchen also eine nicht-präjudizierende Sprache. Wenn wir den Begriff des Terrorismus überhaupt weiter verwenden sollten, dann sollten wir ihn als Methode definieren und die Frage, wer terroristisch handelt und darum cum grano salis als Terrorist bezeichnet werden könnte, nicht von seiner Stellung in Staat und Gesellschaft, sondern davon abhängig machen, ob seine Handlungsweisen die Definitionskriterien erfüllen. Wie kann so eine Definition aussehen, die nicht alle Antworten vorwegnimmt? Nach der aristotelischen Methode genügen die Bestimmung von genus proximum et differentia specifica. Danach könnte man sagen: Terrorismus ist (1) eine Reihe von vorsätzlichen Akten direkter physischer Gewalt, die (2) punktuell und unvorhersehbar, aber systematisch (3) mit der Absicht psychischer Wirkung auf weit mehr Personen als nur die physisch getroffenen Opfer (4) im Rahmen einer politischen Strategie ausgeführt werden. (Die Vorteile dieser Definition für die Wissenschaft liegen ebenso auf der Hand wie ihre Nachteile für manipulative Interessen in Politik und Gesellschaft. Diese Definition ist frei von Definitionssperren: sie schließt keine Personengruppe per definitionem aus dem Bereich terroristischen Handelns aus und sie verhindert auch nicht Fragen nach der Existenz von Terrorismus avant la lettre oder nach der Existenz von Terrorismus seitens staatlicher Akteure. Vor allem aber erlaubt sie eine komparative Perspektive in historischer und systematischer Hinsicht und ermöglicht damit das, was Wissenschaft vor allem tun sollte und worin vor allem ihr Wert besteht: zu analysieren, zu vergleichen, verborgene Zusammenhänge aufzuzeigen und begründete Aussagen über hypothetische künftige Ziele und die für die Zielerreichung erforderlichen Mittel und die zu erwartenden Kosten und Nachteile zu erarbeiten).

2. Root Causes

Man muss nicht immer die tiefsten Ursachen eines Missstands beheben, um den Missstand selbst an seiner Entfaltung zu hindern. Man muss nicht die Gesellschaft neu erfinden, um in New York die Kriminalität zu bekämpfen. So muss man auch nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag warten, um das Terror-Problem zu lösen. Es geht auch oberflächlich. Man kann Gelegenheiten verringern, Wiederholungen vorbeugen, einige Randbedingungen verbessern - und schon Erfolge erzielen. Man kann gegen den Terrorismus mit gezielten Tötungen arbeiten, mit Drohnenangriffen, mit Terrorlisten und neuartigen Überwachungs- und Alarmsystemen. Auch das kann den Terrorismus kontrollieren, reduzieren und - bei Kontrolle über kontraproduktive Nebenwirkungen - vielleicht sogar eliminieren. Das ist der Weg der heutigen Terror-Bekämpfung. Vulnerabilitäten sollen entdeckt und beseitigt, terroristische Karrieren frühzeitig entdeckt und Bedrohungen neutralisiert werden. Die aktuelle Terrorismus-Forschung folgt dem "Präventions-Paradigma" und der "Präventionsperspektive" (= correctional perspective) im Sinne David Matzas. Die Präventionsperspektive behindert systematisch die Fähigkeit zur Empathie und zum Perspektivenwechsel und damit die Fähigkeit zum Verstehen derjenigen, die man erforscht.

Man kann sich aber auch vorstellen, dass dem Problem eine tiefe Ungerechtigkeit zugrunde liegt und dass es im Interesse der Opfer dieser Ungerechtigkeit gut wäre, diese Ungerechtigkeit zu beseitigen und zu hoffen, dass damit auch die ewige Reproduktion des Terrorismus verhindert werden würde. Und dass die Bearbeitung der root causes denjenigen Konzessionen abverlangen würde, die heute von der anhaltenden Ungerechtigkeit profitieren - während die bloße Bearbeitung der Oberfläche die Ungerechtigkeit perpetuierte und zugleich die Vorteilslagen der heute von der Ungerechtigkeit profitierenden Akteure verstetigen würde. Mit anderen Worten: bei der Bekämpfung auf der Oberfläche würde der Status Quo mitsamt seiner Ungerechtigkeiten profitieren, während bei der Bekämpfung der root causes die Herrschenden Federn lassen müssten, die Opfer der Ungerechtigkeit aber profitieren könnten.

Dann würde ich mir eine kritische Kriminologie wünschen, die nicht deswegen gegen die Bekämpfung auf der Oberfläche ist, weil das (angeblich) nicht funktionieren könne. Sondern aus Gründen der Gerechtigkeit. Und der Menschenrechte. Das widerspricht der Objektivität und Werturteilsfreiheit der Wissenschaft? Nicht unbedingt. Man kann Alternativen zum Status Quo aufzeigen. Und auf die Unterschiede hinweisen. Die heutige Anti-Terror-Politik läuft auf eine differenzierte Bewertung von Menschenleben hinaus. Eine neue könnte auf eine Gleichbewertung von Menschenleben hinauslaufen. Das wäre argumentierbar.

Was erfahren wir über die Motive von Terroristen, wenn wir den von Max Weber vorgezeichneten Weg des Verstehens einschlagen? Interessanterweise werden wir - wenn wir zuhören - feststellen, dass die Aussagen und Botschaften der Terroristen in den seltensten Fällen völlig unverständlich und irrational sind, und dass es ihnen schon gar nicht um ein verrücktes Bedürfnis geht, Unschuldige zu massakrieren. Eher sind sie von einem ausgeprägten Sinn für politische Gerechtigkeit beseelt - in dem einfachen Sinne, in dem auch westliche Bürger davon beseelt sind: man will keine Fremdherrschaft und schon gar nicht eine militärische Willkürherrschaft. Die meisten Terroristen sehen sich von fremden Mächten bedroht und verletzt, gedemütigt und entehrt - von den Streitkräften und Geheimdiensten der USA, der NATO und damit unserer wichtigsten Bündnispartner und Schutzmächte.

Das zu erfahren, würde uns in ein Dilemma stürzen. Wir würden zwischen Verständnis für die Motive der Terroristen und unserer Bündnistreue schwanken, würden gleichsam zerrissen zwischen zwei Loyalitäten. Wenn es also den USA darum geht, militärisch irgendwo auf fremdem Territorium zu intervenieren, dann ist Deutschland auf der Seite der USA und der NATO zu finden - und wenn es darum geht, wissenschaftlich die Motive der Terroristen zu erkunden, dann entdecken wir eine Sicht auf uns selber als Helfer einer imperialistischen Macht, die überhaupt erst Anlass zum Terrorismus gibt.

Robert Pape (2010) von der University of Chicago kam nach Auswertung von 2200 terroristischen Anschlägen in einem Zeitraum von sechs Jahren zu dem Ergebnis: der entscheidende Faktor für Aufstieg und Niedergang von Selbstmord-Attentats-Kampagnen ist die Stationierung ausländischer Truppen. Mit anderen Worten: "die Stationierung fremder Truppen (führt) zum Entstehen von Selbstmordanschlags-Kampagnen" und der Abzug fremder Truppen führt in "nahezu hundert Prozent der terroristischen Kampagnen zum Verschwinden" dieses Phänomens. Wenn Terroristen zu ihren Anschlägen motiviert sind, weil "unsere" Truppen in ihren Ländern stehen und "unsere" Kampfgeräte ihre Leute umbringen, dann ist es höchst unwahrscheinlich, dass eine Fortsetzung unserer Politik den Terrorismus jemals besiegen wird. Die Motivation zu terroristischen Kampagnen hängt mir der kollektiven Überzeugung ganzer Bevölkerungsgruppen zusammen, sich gegenüber einem übermächtigen Gegner in einer verzweifelten Lage zu befinden. In einer Bedrohungslage, die durch Sanktionen und Kriegsdrohungen, durch Invasionen und Stationierungen von Militär gekennzeichnet ist.

Der Westen verfügt über einen Terrorismus-Diskurs, der die Akteure enthumanisiert und irrationalisiert. Das hilft uns dabei, uns nicht mit der Beseitigung der Ursachen und der Gründe für den Terrorismus zu befassen, sondern diese souverän zu ignorieren - und das wiederum hilft dabei, mehr Truppen, mehr Drohnen, mehr Tötungsmittel zu entsenden. Damit zeigen wir unsere Entschlossenheit, den Kampf nicht aufzugeben. Das Problem damit ist, dass diese Art Starrsinns im Laufe der Geschichte meistens keinen Erfolg hatte. Sie hat einfach nicht funktioniert. Weil sie Reaktanz hervorruft. Kurz gesagt: wenn wir Terrorismus bekämpfen, indem wir die Gründe, die es für Terrorismus gibt, noch weiter vertiefen, dann werden wir noch mehr Terrorismus produzieren statt weniger. Das ist genau das, was Max Weber die Paradoxie von Wollen und Wirkung nannte. Je intensiver die Bekämpfung, desto größer wird das Problem.

Das kennen wir aus der Drogenpolitik und allen anderen großangelegten Regierungskampagnen gegen "Übel". Tannenbaum: dramatization of evil. Regierungen haben keinen Anreiz für eine de-eskalierende Politik, weil die Kriege selbst das Bruttosozialprodukt steigern, weil sie die Macht der Regierung stärken, weil sie Gewinn bringen und einen perfekten Vorwand bieten, um Freiheiten zugunsten immer weiterer Regierungsbefugnisse zu beschneiden. Das oberste Interesse von Regierungen ist nicht der Schutz der Freiheit der Bürger, sondern ihr eigens Organisationsinteresse. Je besser es gelingt, der Bevölkerung Angst vor Terrorismus zu machen, desto bereitwilliger wird die Bevölkerung sich kontrollieren und bevormunden lassen. Governing through crime. Jonathan Simon. Da kann man schon Zweifel daran bekommen, ob Regierungen ihre verfehlte Politik wirklich korrigieren wollen oder ob sie das Scheitern ihrer offizielle deklarierten Ziele nicht nolens volens in Kauf nehmen, um ihre eigentlichen Ziele zu erreichen. Die Anreize sind jedenfalls genau anders als sie sein sollten: je schlimmer es wird, desto bessere Vorwände gibt es für die Expansion der Herrschaftsgewalt.

3. Was tun?

(a) Die Finger von Terrorismus und Widerstand lassen? Die kritische Kriminologie lässt gerne die Finger von schwerer Kriminalität. Das gilt besonders für die Vertreter der Labeling-Perspektive. Bei Bagatellen kann man besser zeigen, welch enormen Unterschied die offizielle Bezeichnung als Straftäter haben kann. Wenn man beim Marihuana-Rauchen erwischt wird, kann das erhebliche Folgen haben - schlimmere jedenfalls als das Rauchen selbst. Beim Serienkiller ist das etwas anderes. Der eignet sich nicht so gut für die Darstellung der kriminalitätstreibenden Kraft der Stigmatisierung. Dasselbe gilt für NS-Gewaltverbrechen und Staatsverbrechen. Lauter Themen, deren theoretische und empirische Durchdringung immer noch auf den Beitrag der Kriminologie wartet. Wenn man nach den Ursachen für den Niedergang der Kriminologie fragt, dann sollte man diesen Gesichtspunkt - den der systematischen Vernachlässigung von schwerer Kriminalität und ungeheurer Grausamkeit durch die kritische Kriminologie selbst - nicht außen vor lassen.

(b) In den Chor der Überwachungskritiker einstimmen, die routinemäßig vor dem Ende des Rechtsstaats und der Ineffizienz der jeweils neuen Maßnahmen warnen? Die Formel dieser Kritiker lautet: was ihr da tut, ist erstens gegen unsere Werte und zweitens ist es auch zu nichts nütze. Das verlangt den Kinderglauben, dass die Verletzung hehrer Prinzipien nie zu etwas gut sein, nie die erwünschten Resultate erbringen kann.

(c) Wichtiger wäre es, die technizistische Borniertheit der Terrorismus-Bekämpfung zu kritisieren. Was die Politik von der Wissenschaft will, sind technische Hinweise für eine Schadensminimierung bei unveränderter Militärstrategie, das heißt auf Deutsch: man will die Strategien nicht ändern, die das Problem des Terrorismus produziert haben und immer weiter reproduzieren. Man will aber etwas über Methoden lernen, die bei unveränderter Produktion der Gründe für terroristische Kampagnen deren Entstehen erschwert und deren Erfolge minimiert. Nirgendwo wird das klarer, als an dem Umstand, dass die Bundesregierung ihr viele Millionen schweres Sicherheitsforschungsprogramm für alle Fragen der Organisation, Auswahl und Kontrolle in die Hände der Bundesvereinigung der deutschen Ingenieure legte. - Es ließe sich eine Kriminologie vorstellen, die diesen Rahmen nutzte, um ihn zu sprengen.

(d) Rahmenanalyse. Abweichungen vom Erwartungsfahrplan der Gesellschaft sind nicht von Natur aus entweder "Dummheiten" oder "Krankheiten" oder "Kriminalität". Was von wem wie - und warum und wozu - diagnostiziert wird, hängt von vielen Faktoren ab. Auch Terrorismus lässt sich sehr verschieden rahmen: als soziales Problem, als politische oder unpolitische (Serienkiller-) Kriminalität, als Kriegs- oder Krankheitsphänomen. Nachzuverfolgen, aus welchen Interessen und mit welchen Mechanismen welche Rahmungen vorgenommen wurden und welche sich durchsetzen konnten - das wäre eine lohnende Aufgabe.

(e) Normgenese. Von der Rahmung führen viele Wege zur Veränderung der Gesetze, um diese Rahmung zu etablieren und mit Leben zu füllen. Die Analyse der Gesetzgebungsprozesse und der Etablierung anderer normativer Konstrukte (Terrorlisten) ist lohnend.

(f) Prävention. Kritische Kriminologie würde keine neuen Gründe für Terrorismus liefern; sie sollte ansetzen, wo die Gründe für Terrorismus hergestellt werden, und zwar im Bereich unserer westlichen Politik. Insofern geht es um Reflexivität: nicht auf die Moscheen, sondern auf uns selbst sollten wir blicken. Keine Prävention kann wirken, wenn sie von ihren Zielpersonen als Eingriff und Bevormundung aufgefasst wird, wenn sie als unzulässiger und unerträglicher Eingriff in die eigene Sphäre der Autonomie, der Selbstbestimmung über das, was ich tun und lassen, was ich glauben und wofür ich mich einsetzen will, wahrgenommen wird. Keine wirksame Prävention wird es geben können, solange man durch invasive Methoden die Reaktanz und den Trotz und damit genau den Terrorismus produziert, den man verhindern wollte (Brehm & Brehm).

(g) Die Vermeidung von Reaktanz sollte auch im Vordergrund der Bekämpfung des Terrorismus stehen. Strafverfahren; Justizgewährung. Menschenrechte achten. Why people obey the law. Forschung.

(h) Politikberatung. Keine straf- oder völkerrechtlich unerlaubten Handlungen mehr begehen, keine Bedingungen für Reaktanz mehr setzen. Wenn wir wirklich etwas Wirksames gegen Terrorismus unternehmen wollen, dann sollten wir unseren Verbündeten sagen, dass wir nicht mehr mitkommen - jedenfalls nicht mit Soldaten in fremde Länder, und dass wir raten, auch ihre Truppen abzuziehen. Wir sollten keine Kriege ohne Kriegserklärung mehr führen. Wir sollten keine Kriege mehr führen, wenn es sich um Angriffe auf andere Länder handelt. Wir sollten einen ehrlichen Blick auf alle kriegerischen Aktivitäten werfen und sollten überall dort, wo wir zu der Erkenntnis kommen, dass unsere Aktivitäten verzweifelte Leute zu verzweifelten Abwehrreaktionen gegen westliche oder vom Westen geförderte politische Gewalt motivieren, von diesen Aktiviäten die Finger lassen.


Materialien

"Die westliche Öffentlichkeit beschuldigt, gestützt auf die UN-Beobachter, die syrische Armee. Diese Version kann auf Grundlage von Augenzeugenberichten bezweifelt werden. Demnach wurden die Zivilisten von sunnitischen Aufständischen getötet.

Das Massaker von Hula war ein Wendepunkt im syrischen Drama. Groß war die weltweite Empörung, als am 25. Mai dort 108 Menschen getötet worden waren, unter ihnen 49 Kinder. Rufe nach einer militärischen Intervention wurden laut, um dem Blutvergießen ein Ende zu bereiten, und in Syrien eskaliert seither die Gewalt unaufhaltsam. Nahezu einhellig beschuldigte die Weltmeinung, gestützt auf arabische Nachrichtensender und den Besuch der UN-Beobachter am folgenden Tag, die reguläre syrische Armee und die regimenahen Schabiha-Milizen des Massakers.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat in der vergangenen Woche diese Version auf der Grundlage von Berichten von Augenzeugen in Frage gestellt. Sie hatte berichtet, dass die getöteten Zivilisten Alawiten und Schiiten waren. Sie wurden in Taldou, einer Stadt der Ebene von Hula, gezielt von bewaffneten Sunniten getötet, während um die Ortschaft um Straßenkontrollen heftige Gefechte zwischen der regulären Armee und Einheiten der Freien Syrischen Armee stattfanden. Diese Darstellung ist von vielen Medien weltweit aufgegriffen und von vielen als unglaubwürdig verworfen worden. Daher stellen sich vier Fragen: Weshalb folgt die Weltmeinung bislang einer anderen Version? Weshalb macht der Kontext des Bürgerkriegs die bezweifelte Version plausibel? Weshalb sind die Zeugen glaubwürdig? Welche weiteren Fakten stützen die Version?

Erstens, weshalb folgt die Weltmeinung einer anderen Version? Unbestritten waren in den ersten Monaten des Konflikts, als die Opposition noch über keine Waffen verfügte und schutzlos war, alle Greueltaten auf das Konto des Regimes gegangen. Die Annahme liegt daher nahe, dass sich dies fortsetze. Ferner genießen die syrischen Staatsmedien keine Glaubwürdigkeit. Seit dem Beginn des Konflikts verwenden sie gebetsmühlenartig gestanzte Formeln wie „bewaffnete Terrorbanden“. So glaubt ihnen niemand mehr, wenn dies einmal wirklich der Fall ist. Zu Leitmedien sind hingegen die arabischen Nachrichtensender Al Dschazira und Al Arabija geworden, die Qatar und Saudi-Arabien gehören, zwei aktiv am Konflikt beteiligten Staaten. Nicht ohne Grund kennt das Deutsche die Redewendung „Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst“.

Zweitens, weshalb macht der Kontext des Bürgerkriegs die bezweifelte Version plausibel? In den letzten Monaten wurden viele Waffen nach Syrien geschmuggelt, die Aufständischen verfügen längst über mittelschwere Waffen. Jeden Tag werden in Syrien mehr als 100 Menschen getötet, dabei halten sich die Toten beider Seiten die Waage. Die Milizen, die unter dem Banner der Freien Syrischen Armee firmieren, kontrollieren die Provinzen Homs und Idlib weitgehend und weiten ihre Herrschaft über weitere Teile des Landes aus. Die zunehmende Gesetzlosigkeit hat zu einer Welle krimineller Entführungen geführt, sie erleichtert zudem das Begleichen offener Rechnungen. Wer in Facebook blättert oder mit Syrern spricht: Jeder kennt aus dem Alltag Geschichten von „konfessionellen Säuberungen“ - von Menschen, die getötet werden, nur weil sie Alawiten oder Sunniten sind.

Die überwiegend von Sunniten bewohnte Ebene von Hula, die zwischen dem sunnitischen Homs und den Bergen der Alawiten liegt, ist von einer langen Geschichte konfessioneller Spannungen belastet. Das Massaker hat sich in Taldou ereignet, einem der größten Orte von Hula. Die Namen der getöteten 84 Zivilisten sind bekannt. Es handelt sich um die Väter, Mütter und 49 Kinder der Familie al Sajjid und zwei Zweige der Familie Abdarrazzaq. Einwohner der Stadt sagen aus, dass die Getöteten Alawiten sind und Muslime, die vom sunnitischen zum schiitischen Islam konvertiert sind. Wenige Kilometer von der Grenze zum Libanon entfernt, machen sie sich damit als Sympathisanten der unter Sunniten verhassten Hizbullah verdächtig. Zudem waren die in Taldou lebenden Verwandten des regimetreuen Parlamentsabgeordneten Abdalmuti Mashlab unter den Ermordeten.

Die Wohnungen der drei Familien befinden sich in verschiedenen Teilen Taldous. Die Mitglieder der Familien wurden gezielt und bis auf eine Ausnahme getötet. Kein Nachbar wurde auch nur verletzt. Ortskenntnisse waren eine Voraussetzung für diese gut geplanten „Hinrichtungen“. Die Nachrichtenagentur AP zitierte den einzigen Überlebenden der Familie al Sajjid, einen elfjährigen Ali, mit den Worten: „Die Täter waren kahlgeschoren und hatten lange Bärte.“ So sehen fanatische Dschihadisten aus, nicht die Milizen der Schabiha. Überlebt habe er, weil er sich tot gestellt und mit dem Blut seiner Mutter beschmiert habe, sagte der Junge. Sunnitische Rebellen betreiben „Liquidierung“ aller Minderheiten

Bereits am 1. April hatte die Nonne Agnès-Maryam vom Jakobskloster (“Deir Mar Yakub“), das südlich von Homs in der Ortschaft Qara liegt, in einem langen offenen Brief das Klima der Gewalt und der Angst in der Region beschrieben. Sie kommt zum Ergebnis, dass die sunnitischen Rebellen eine schrittweise Liquidierung aller Minderheiten betrieben; sie schildert die Vertreibung von Christen und Alawiten aus ihren Häusern, die von den Rebellen besetzt werden, und die Vergewaltigung junger Mädchen, die den Rebellen als „Kriegsbeute“ übergeben werden; sie war Augenzeugin, als Rebellen in der Straße Wadi Sajjeh erst einen Händler, der sein Geschäft zu schließen sich geweigert hatte, durch eine Autobombe töteten und dann vor einer Kamera von Al Dschazira sagten, das Regime habe die Tat begangen. Schließlich schildert sie, wie sunnitische Rebellen im Stadtteil Khalidijah von Homs alawitische und christliche Geiseln in ein Haus gesperrt und dieses in die Luft gesprengt hätten, um anschließend zu erklären, dies sei eine Greueltat des Regimes gewesen.

Weshalb haben in diesem Kontext die syrischen Augenzeugen für glaubwürdig zu gelten? Weil sie keiner Konfliktpartei angehören, sondern zwischen den Fronten stehen und kein anderes Interesse haben, als eine weitere Eskalation der Gewalt vielleicht doch noch aufzuhalten. Aus ihrem Kreis sind bereits mehrere Personen getötet worden. Niemand will daher seine Identität preisgeben. Gewissheit, dass sich alle Details exakt wie beschrieben zugetragen haben, kann es jedoch in einer Zeit nicht geben, in der eine unabhängige Überprüfung aller Fakten an Ort und Stelle nicht möglich ist. Auch wenn sich das Massaker von Hula in der hier beschriebenen Version ereignet hat, lassen sich daraus keine Schlüsse für andere Greueltaten ziehen. Wie zuvor im Kosovo muss nach diesem Krieg jedes Massaker einzeln untersucht werden.

Welche weiteren Fakten stützen diese Version? Die F.A.Z. war nicht die erste, die über eine neue Version des Massakers von Hula berichtet hat. Andere Berichte hatten sich nur nicht gegen die großen Leitmedien behaupten können. Der russische Journalist Marat Musin, der für die kleine Nachrichtenagentur Anna arbeitet, hatte sich am 25. und 26. Mai in Hula aufgehalten, war teilweise Augenzeuge geworden und hat die Aussagen anderer Augenzeugen veröffentlicht. Zudem hat der in Damaskus lebende niederländische Arabist und freie Journalist Martin Janssen nach dem Massaker Kontakt zum Jakobskloster in Qara aufgenommen, das in der Vergangenheit viele Opfer des Konflikts aufgenommen hat und dessen Nonnen aufopfernd humanitäre Arbeit leisten. Rebellen schilderten UN-Beobachtern ihre Version des Massakers

Die Nonnen schilderten ihm, wie an jenem 25. Mai mehr als 700 bewaffnete Rebellen, aus Rastan kommend, vor Taldou eine Straßenkontrolle der Armee überrannt haben, wie diese nach dem Massaker die Leichen der getöteten Soldaten und Zivilisten vor der Moschee stapelten und wie sie am folgenden Tag vor den Kameras rebellenfreundlicher Sender den UN-Beobachtern ihre Version von dem angeblichen Massaker der syrischen Armee erzählten. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon teilte am 26. Mai dem UN-Sicherheitsrat mit, die genauen Umstände seien ungeklärt. Die UN könnten aber bestätigen, „dass es Artillerie- und Granatfeuer gegeben hat. Es gab außerdem andere Formen der Gewalt, darunter Schüsse aus nächster Nähe und ernsthafte Misshandlungen“.

Folgender Tathergang lässt sich rekonstruieren: Nach dem Freitagsgebet am 25. Mai griffen mehr als 700 Bewaffnete unter Führung von Abdurrazzaq Tlass und Yahya Yusuf in drei Gruppen, die aus Rastan, Kafr Laha und Akraba kamen, drei Straßenkontrollen der Armee um Taldou an. Die zahlenmäßig überlegenen Rebellen und die (meist ebenfalls sunnitischen) Soldaten lieferten sich blutige Gefechte, bei denen zwei Dutzend Soldaten, überwiegend Wehrpflichtige, getötet wurden. Während und nach den Gefechten löschten Rebellen, von Einwohnern aus Taldou unterstützt, die Familien Sajjid und Abdarrazzaq aus. Diese hatten sich geweigert, sich der Opposition anzuschließen" (Hermann 2012).


Literatur

  • Abele, Andrea, Stefan Mitzlaff, Wolf Nowack, Hg. (1975) Abweichendes Verhalten, Erklärungen, Scheinerklärungen und praktische Probleme. Bielefeld: Frommann-Holzboog.
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