Sucht

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Sucht ist ein im 20. Jahrhundert entstandener Begriff für einen als krankhaft und gesellschaftlich unerwünscht angesehenen Dauerzustand, der durch das unabweisbare und ins Extrem gesteigerte Verlangen nach einem besonders positiven Erlebniszustand gekennzeichnet ist, wobei die süchtige Person sich diesen Zustand immer wieder von der Einnahme einer psychotropen Substanz (= stoffgebundene Sucht) und/oder der Ausübung einer Tätigkeit (= nicht-stoffgebundene Sucht) erhofft, ihre Erwartungen an den Erlebniszustand aber im Laufe der Zeit häufig von der Euphorie auf die bloße Vermeidung von Entzugserscheinungen reduziert. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit den 1950er Jahren viel für die weltweite Verbreitung des Begriffs getan hatte, bemühte sie sich seit den 1960er Jahren ebenso vehement um dessen Abschaffung und die Ersetzung von "Sucht" durch Begriffe wie "Abhängigkeit", "Missbrauch" u.ä. Trotz dieser Bemühungen konnte sich der Begriff aber nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch im Bereich der mit dem Phänomen befassten Wissenschaften und Vewaltungen etablieren.


Etymologie

Das nicht auf "suchen", sondern auf "siechen" im Sinne von krank sein zurückgehende Wort "Sucht" (germ. suhti-, ahd. suht, suft, mhd. suht) war bis Anfang des 20. Jahrhunderts ein zunehmend als veraltet angesehenes Wort, das ausschließlich in Verbindung mit spezifischen Merkmalen auftauchte, also etwa in Form der Zusammensetzungen Schwindsucht (Tuberkulose), Gelbsucht (Hepatitis) oder Fallsucht (Epilepsie). Aus der eher metaphorischen Verwendung von "-sucht" zur Bezeichnung eines als krankhaft angesehenen Verlangens (Sehnsucht, Eifersucht, Habsucht ... Trunksucht) entstand im 20. Jahrhundert der moderne Suchtbegriff im Sinne von Abhängigkeit.

Insofern waren das Wort "Trunksucht" und dann die "Morphinsucht" (noch im späten 19. Jahrhundert gebräuchlicher: "Morphinhunger", dann "Morphinismus"), die "Kokainsucht" (noch im späten 19. Jahrhundert gebräuchlicher: Kokainismus) und die "Rauschgiftsucht" allesamt Vorläufer für das selbständige Substantiv "Sucht", mit dem man die Gemeinsamkeit all dieser Substanzabhängigkeiten bezeichnete.

Das selbständige Substantiv "Sucht" bezeichnete also ab der Mitte des 20. Jahrhunderts das unbeherrschbare Verlangen nach Opiaten und anderen Substanzen, deren Gebrauch regelmäßig zu einer körperlichen Abhängigkeit führte.

Ende des 20. Jahrhundert dehnte sich der Bedeutungsinhalt noch einmal aus, indem nun auch die Barriere zur Bezeichnung nicht-stoffgebundener Abhängigkeiten als "Sucht" überwunden wurde. Seither unterscheidet man zwischen stoffgebundenen Süchten ("Drogensucht") und nicht-stoffgebundenen Süchten ("Spielsucht").

Um diese Zeit hatte sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die einen großen Einfluss auf die Terminologie ausübt, schon längst vom Suchtbegriff verabschiedet. Der Begriff erwies sich jedoch gegenüber allen Ersetzungs- und Verbannungsversuchen als bemerkenswert resistent. Inzwischen gibt es Überlegungen, ihn wieder in das Vokabular der WHO aufzunehmen.

Der Suchtbegriff der WHO: Sucht vs. Gewöhnung

Die WHO beauftragte schon 1952 ein Expertengremium mit der Ausarbeitung einer einheitlichen Terminologie. Nach zahlreichen Sitzungen machte das Gremium einen Vorschlag, wie die Begriffe "Sucht" und "Gewöhnung" benutzt werden sollten. Das Gremium selbst sprach nicht von Sucht und Gewöhnung, sondern von "drug addiction" und "drug habituation". An diese Vorschläge versuchte man sich von 1957 bis 1963 zu halten.

Sucht galt als "Zustand periodischer oder chronischer Intoxikation, der durch die wiederholte Einnahme einer (natürlichen oder synthetischen) Droge hervorgerufen wird" und der charakterisiert war durch

  • ein überwältigendes Verlangen oder Bedürfnis (zwanghafter Art), die Drogenaufnahme fortzusetzen und sich diese mit allen Mitteln zu verschaffen
  • eine Tendenz zur Dosissteigerung
  • psychische und allgemein eine physische Abhängigkeit von der Drogenwirkung sowie
  • zerstörerische Wirkungen auf das Individuum und die Gesellschaft.

Gewöhnung galt demgegenüber als der weniger besorgniserregende "Zustand, der durch den wiederholten Gebrauch einer Droge verursacht wird und der folgende Charakteristika aufweist:

  • den Wunsch (aber keinen Zwang) zur weiteren Einnahme der Droge mit dem Ziel verbesserten Wohlbefindens
  • geringe oder gar keine Tendenz zur Dosissteigerung
  • eine gewisse psychische Abhängigkeit von der Wirkung der Droge (ohne körperliche Abhängigkeit und Entzugssyndrom) sowie
  • nachteilige Folgen, die (aber), soweit sie überhaupt auftreten, in erster Linie das Individuum betreffen."

Sucht und Selbstregulation

Harry Frankfurt

Abschied vom Suchtbegriff?

Abschied 1: Abhängigkeit und Missbrauch

Mit demselben Nachdruck, mit dem sie bis 1963 ihre Terminologie von Sucht und Gewöhnung durchgesetzt hatte, forderte die WHO ab 1964 deren Ersetzung durch die neue Unterscheidung zwischen "Abhängigkeit" und "Missbrauch". Sie unterschied zunächst zwischen psychischer und physischer Abhängigkeit. Später kam dann die Rede vom "Abhängigkeitssyndrom" (für substanzgebundene Abhängigkeiten) einerseits und von Phänomenen wie "Impulskontrollstörung", "Zwangsstörung" oder "Verhaltenssucht" (für nicht-substanzgebundene Abhängigkeiten) hinzu.

Abschied 2: Vier Arten des Gebrauchs

Das Konzept des Missbrauchs wurde nach 1969 selbst zugunsten von vier Klassen des Gebrauchs verworfen:

  • Unerlaubter Gebrauch ist ein von der Gesellschaft nicht tolerierter Gebrauch.
  • Gefährlicher Gebrauch ist ein Gebrauch mit wahrscheinlich schädlichen Folgen für den Konsumenten.
  • Dysfunktionaler Gebrauch liegt vor, wenn psychischen oder sozialen Anforderungen nicht mehr gerecht geworden werden kann.
  • Schädlicher Gebrauch hat bereits schädliche Folgen (Zellschäden, psychische Störung) hervorgerufen.

Während im DSM-IV nach wie vor von "Missbrauch" die Rede ist, fand die neuere Terminologie Eingang in das ICD-10, nach dem sich viele Akteure in Medizin und sozialer Arbeit richten.

Der Verzicht auf den Suchtbegriff zugunsten von "Abhängigkeitssyndrom" soll in der Praxis einer Stigmatisierung der Klienten vorbeugen und zugleich den Krankheitscharakter von deren Zustand betonen. Die Begrenzung des Begriffs des Abhängigkeitssyndroms auf stoffliche Abhängigkeiten betont zudem - nachdem der Suchtbegriff sich gerade den Gemeinsamkeiten von stofflichen und nichtstofflichen Abhängigkeiten geöffnet hatte - wieder die Unterschiede zu nichtstofflichen Abhängigkeiten, was von manchen als Differenzierungsgewinn verbucht wird.

Die Stärke des Suchtbegriffs

Trotz allem wird der Suchtbegriff in den Wissenschaften heute ebenso benutzt wie im politisch-administrativen Diskurs, in den Massenmedien und in der Alltagssprache. Inzwischen gibt es auch Bestrebungen zu seiner Wiedereinführung in die Terminologie der WHO.

Tatsächlich hatte die WHO den Suchtbegriff ja bis 1969 verwendet - und die American Psychiatric Association, die sich mit dessen Ersetzung durch den Begriff des Abhängigkeitssyndroms besonders schwer tat, sogar bis 1987.

Für den Suchtbegriff wird inzwischen wieder ins Feld geführt, dass

  • die sprachliche Gleichsetzung von medizinisch betreuten Patienten mit rein körperlicher Abhängigkeit (z. B. Schmerzpatienten unter Morphiumbehandlung) und psychisch Abhängigen wie Heroinabhängigen oder Alkoholikern irreführend und hinderlich sei, weil sei bei Schmerzpatienten Ängste vor Abhängigkeit hervorriefen, die in Wahrheit Ängste vor dem Süchtigwerden seien.

Bei der Aktualisierung des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) der American Psychiatric Association wird deshalb über die Wiederaufnahme des Suchtbegriffs nachgedacht (O'Brien u.a. 2006).

Literatur

  • Fainsinger, Robin L.; Thai, Vincent; Frank, Gary; Fergusson, Jean (2006) Leserbrief im American Journal of Psychiatrie 163:2014-a [1]
  • O’Brien C, Volkow N, Li T (2006) “What’s in a word? addiction versus dependence in DSM-V.” American Journal of Psychiatry 163:764–765 [2]
  • Scheerer, Sebastian (1995) Sucht. Reinbek bei Hamburg: rororo.
  • Schenk, Josef (1975) Droge und Gesellschaft. Berlin, Heidelberg, New York: Springer.
  • Stieglitz et al., Hg. (2002). Kompendium. Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatische Medizin. Basel:Karger.

Weblinks

  • Dependence Syndrome (WHO) [[3]]
  • Drug Addiction in: Wikipedia engl. [[4]]
  • Opiate und Beruhigungsmittel ... ARTE [[5]]
  • Sucht in: Wikipedia dt. [[6]]